EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)

Kaja Kesselhut
„Deine Mama kommt ja wieder.“
Eine Ethnografie der „Eingewöhnung“ in der Krippe
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(257 S.; ISBN 978-3-7799-6480-3; 31,99 EUR)
„Deine Mama kommt ja wieder.“ Wenngleich der Besuch einer Krippe zumindest in Westdeutschland noch längst nicht zum gesellschaftlichen Normalfall geworden ist, so sehen sich doch mehr und mehr junge Familien damit konfrontiert, eine außerfamiliale Betreuung für ihre unter dreijährigen Kinder organisieren zu müssen. Auf die gesamte Bundesrepublik bezogen findet der erste Übergang vom privaten Raum der Familie in öffentliche Betreuung für über 30 % der Kleinkinder bereits vor dem regulären Besuch einer Kindertageseinrichtung statt. Dieser erste Übergang ist zwar empirisch relativ gut durch frühpädagogisch-entwicklungspsychologische Forschungen erschlossen, sozialwissenschaftlich informierte Studien, welche diesen Übergang von der Familie in die Krippe erforschen sind hingegen rar. Dabei bietet ihre Untersuchung ein vielversprechendes Forschungsfeld an, um das gegenwärtige Verhältnis zwischen Familie und Institutionen öffentlicher Betreuung zu beleuchten. Besonders virulent erscheint dies angesichts der widersprüchlichen Anrufungen und Anforderungen, welchen junge Familien derzeit ausgesetzt sind: Zum einen fehlt es früh einsetzende Angebotsformen außerfamilialer Betreuung nach wie vor an gesellschaftlicher Akzeptanz, da eine Teilnahme an diesen Angeboten mit tradierten Vorstellungen von Kleinkinderziehung in der Familie sowie von der Notwendigkeit mütterlicher Präsenz und Zuwendung bricht. Zum anderen werden Lebenslagen junger Familien auch faktisch vielfach davon bestimmt, dass beide Eltern im Anschluss an die Familiengründung so bald wie möglich in Lohnerwerbsarbeit bzw. in Maßnahmen beruflicher Qualifizierung einmünden bzw. dorthin zurückkehren müssen und sollen.

Kaja Kesselhut nimmt sich diesem hochaktuellen Forschungsdesiderat in ihrer Dissertationsstudie an und legt mit der Monographie eine Ethnographie der Eingewöhnung in der Krippe vor. Angeleitet wird das Erkenntnisinteresse von einem vielschichtigen, praxeologisch und subjektivierungstheoretisch modellierten Fragekomplex, der letztlich auf die Frage abzielt, „wie Eltern, Kleinkinder und Fachkräfte gemeinsam die ‚Eingewöhnung‘ in der Krippe prozessieren und welches Verhältnis von privat-familialer und öffentlich-institutioneller Ordnung sich in dieser Phase der Aufspaltung des Sozialisationsfeldes konstituiert“ (234). Mit dieser Fragestellung schließt die Studie an aktuelle Perspektiven, Zugänge und Problemstellungen der Kindheits- und Familienforschung an.

Bereits formal sticht erfrischend ins Auge, wie wissenschaftliche Argumentation und ethnographische Beschreibung in origineller und überzeugender Weise von, die Inhalte unterstreichenden literarischen Bezugnahmen, sowohl durchbrochen als auch gerahmt werden. Durchgängig ist die Darstellung dabei angenehm fokussiert. Die Argumentation verweist auf eine Vielzahl an sozial- und erziehungswissenschaftlichen Theoremen, wodurch Analysen und Befunde elaboriert und einschlägig in die Fachdiskurse eingebunden werden. Infolge der außerordentlich hohen Stringenz, wird die Darstellung allerdings mitunter etwas kursorisch. Dass einzelne Theoreme oft nur stichpunktartig eingeführt werden, gibt dem Band somit bisweilen einen eklektizistischen Anstrich. Auch methodologisch eingesetzte Begriffe sind insofern zum Teil nicht frei von Unschärfen und lediglich minimalistisch ausbuchstabiert.

Ungeachtet dessen findet die ausgesprochen transparente method(olog)ische Erläuterung des Vorgehens im Fortgang der Forschungsarbeit vorwiegend Repräsentanz. Besonders eloquent wird dies darin sichtbar, wie das praxeologische Postulat einer ‚flachen Ontologie‘ die Ergebnisdarstellung anzuleiten weiß. Als innovativ und instruktiv erweist sich zudem der duale Feldzugang zu Familie und Krippe, durch den das ‚aufgespaltene Sozialisationsfeld‘ einer Teilnahme und Beobachtung zugänglich wird, welche es erlaubt, die Herstellung von Familien- wie Krippenkindheiten forscherisch einzufangen.

Inhaltlich wird die Phase des Übergangs anhand von Fallstrukturanalysen und Fallporträts von vier Familien sowie von Einrichtungsporträts der beiden Krippen, die jeweils von zwei dieser Familien besucht werden, detailliert dargestellt. Die Fälle wurden nach dem Gebot der maximalen Kontrastierung aus einem Sample von acht Familien ausgewählt. Hierüber gelingt es, die Heterogenität junger Familien in den Blick zu nehmen – etwa hinsichtlich Lohnerwerbs- bzw. beruflichen Ausbildungssituationen der Eltern, ökonomischer Situation, Wohnlage, Milieuzugehörigkeit, (trans-)nationaler Hintergründe sowie dem Vorhandensein informeller Betreuungsnetzwerke. In den Fallporträts werden sehr dichte Beschreibungen der ethnographierten Praxis angeboten, welche in überzeugende Analysen überführt werden. In zum Teil sehr originellen Darstellungsformaten gelingt es Kesselhut, die Praxis der Eingewöhnung nicht nur aus Sicht der erwachsenen Akteur_innen darzustellen (Eltern, Fachkräfte, Ethnographin), sondern auch die Akteur_innenschaft der Kleinkinder wahr- und ernst zu nehmen.

Von den Falldarstellungen abstrahierend, werden in einer fallübergreifenden Ergebnisdarstellung zentrale Themen im Zusammenspiel von familialer und öffentlicher Ordnung diskutiert und in einer Schlussbetrachtung zusammengeführt. Unter anderem wird herausgearbeitet, wie sich die Krippe – die sich bislang nur unzureichend als Bildungsort auszuweisen vermag – gerade darüber autorisiert, dass sie das Primat der Familienerziehung hochhält, Eltern in die Verantwortung nimmt und – bezogen auf den Einzelfall – ihr Angebot mitunter als risikobehaftet darstellt: nicht jede Eingewöhnung glückt. Die Gestaltung des Eingewöhnungsprozesses und der Zeitpunkt seines Abschlusses werden machtvoll durch die Fachkräfte angeleitet. Dass Prozessieren früher Fremdbetreuung zeigt sich weiterhin als eng verwoben mit dem wirkmächtigen Narrativ der (unter der Trennung) ‚leidenden Mutter‘. Die Autorin arbeitet diesbezüglich heraus, wie die Praxis der Eingewöhnung im Zusammenspiel der hieran beteiligten Akteur_innen regelrecht ein schlechtes Gewissen der Mütter respektive der Eltern hervorbringt. So wird das erforderliche Moment der Trennung von Eltern und Kind als besonders bedeutsam markiert und symbolisch überhöht, etwa dadurch, dass die Fachkräfte die Eltern pädagogisierend zu einer Aufmerksamkeit für ihr Kind und einer verantwortungsvollen Elternschaft anleiten. Insgesamt ist der performative Vollzug der Eingewöhnung, indem jene gleichzeitig eine Folge zeitweiliger Trennungen zwischen Eltern und ihren Kindern darstellt, normativ und affektuell stark aufgeladen. Vor dem Hintergrund, dass die Akteur_innen in den ethnographierten Praxisvollzügen fortlaufend Fragen von Bindung bzw. Beziehung bearbeiten (müssen), plädiert die Schlussbetrachtung für den Einsatz eines relationalen, sozialwissenschaftlich informierten Beziehungsbegriffs.

Die Studie bietet weitestgehend antiessentialistische Analysen an, die sowohl die widersprüchlichen Anrufungen samt der darin enthaltenden Kindheits- und Familienbilder, als auch den Vollzug der Praxis der Eingewöhnung selbst erfassen. Ungeachtet dessen wird ebenfalls mit aufgenommen, dass Vorsprachlichkeit, Kontingenz und Ereignishaftigkeit, die Kleinkinder in die Praxis miteinbringen und die Aufmerksamkeiten der erwachsenen Akteur_innen binden, auch auf eine anthropologische Realität jenseits diskursiver Anrufungen hindeuten. Indem die Praxis der Eingewöhnung von Kleinkindern in der Krippe sowie das Beteiligt-Sein der Akteur_innen Familie und Krippe hieran untersucht werden, leistet die Arbeit einen wertvollen empirischen Beitrag zur Erforschung der voranschreitenden Institutionalisierung, welche in Gestalt der Krippe inzwischen auch die früheste Kindheit erreicht hat. Gerahmt werden diese Praxis und die mit ihren einhergehenden Adressierungen insbesondere von einer sozialinvestiven Sozialstaatlichkeit, in der Familien- und Krippenkindheiten letztlich mit politischer Bedeutung aufgeladen sind. Zusammengenommen weisen die Befunde der Studie darauf hin, dass sich Krippenkindheit – wenn auch keinesfalls bruchlos – als eine Art professionalisierte Re-Inszenierung des bürgerlichen Familienmodells einstellt.
Dominik Farrenberg (Aachen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dominik Farrenberg: Rezension von: Kesselhut, Kaja: „Deine Mama kommt ja wieder.“, Eine Ethnografie der „Eingewöhnung“ in der Krippe. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996480.html