Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland zur Gestaltung eines „inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen“ [1] verpflichtet. Dies bedingt, dass die aktuellen gesellschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Diskurse nicht mehr um die Frage kreisen, ob die gemeinsame Beschulung aller Kinder- und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf möglich ist, sondern um die Frage, wie die Gestaltung einer inklusiven Schule bestmöglich realisiert werden kann.
Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Leitfrage und gleichzeitig Titel des Sammelbands: „Inklusion eine Chance, Bildung neu zu denken?!“ als relevant und den schulischen Umstrukturierungsanforderungen angemessen. Aus dem Titel resultiert aber auch gleichzeitig die Frage, „was genau Bildung ist und was an diesem Verständnis wie verändert (…) werden soll“ (172).
Das leitende Erkenntnisinteresse wird in der Einleitung des Sammelbands, dem eine Tagung vorausging, von den Herausgeberinnen skizziert. Dabei greifen Herzog und Wieckert den aktuellen Wandel der Gesellschaft und der Schule, bedingt durch die zunehmende Globalisierung, auf und leiten auf das Ziel „inklusiver Lehr- und Lernsettings“ (7) über. Betont wird dabei die aktuelle und zunehmende Ausprägung der Heterogenität aufseiten der Schüler:innenschaft, die argumentativ für das Ziel steht und die die Thematisierung miss- bzw. gelingender Lehr- und Lernsettings der Diskurse im Kontext von Inklusion bedingt. Der Inklusionsbegriff wird entlang des engen (Fokus auf die Heterogenitätslinie Behinderung) und des weiten Verständnisses, das „unterschiedlichste Heterogenitätsdimensionen (…) thematisiert und hinsichtlich ihrer Bedeutung für schulische und außerschulische Bildungsprozesse reflektiert“ (7), unterschieden. Letzteres fungiert gleichzeitig als Grundlage für den Tagungsband bzw. dessen Einzelbeiträge, die aus unterschiedlichen Fachdisziplinen dem Diskurs begegnen und damit eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der leitenden Fragestellung der Tagung anstreben. Der Bildungsbegriff selbst wird von den Autor:innen in der Einleitung nicht aufgegriffen, eine Begriffsdifferenzierung findet sich jedoch in einigen Einzelbeiträgen (z.B. bei Papke).
Die zehn Einzelbeiträge des Tagungsbandes wurden fünf Abschnitten zugeordnet. Im sechsten Abschnitt findet sich noch eine zusammenfassende Diskussion der Beiträge, in der die interdisziplinären Gemeinsamkeiten und Unterschiede skizziert und reflektiert werden (9). Dem ersten Abschnitt, der bildungstheoretische Überlegungen zu Inklusion anvisiert, ist ein Aufsatz von Fuchs zugeordnet, der vier Bildungstheorien bzw. -konzepte in einer historisch-systematischen Reihenfolge entlang ihrer inklusiven bzw. exklusiven Zugänge diskutiert. In Anlehnung an die Leitfrage, ob Inklusion eine Chance darstellt, Bildung neu zu denken, kommt Fuchs zu dem Ergebnis, dass erst der Nachweis des „Totalversagens vorliegender bildungstheoretischer Konzepte“ (26) notwendig ist, damit eine Revision des Bildungsbegriffs angeregt wird. So sei es „gerade die Bildungsidee (…), mit der die Chance besteht, Inklusion (neu) zu denken“ (26). Der Autor skizziert hier die Relevanz einer pädagogischen Argumentation für die gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen, die deren bildungskonzeptionelles Potenzial schärft.
Im nächsten Abschnitt geht es um die Frage, ob „Inklusion als altes Thema im neuen Gewand“ (8) benannt werden kann. Birgit Papke greift die von Fuchs skizzierte Frage nach dem „bildungstheoretisch zu erschließenden Potenzial“ (44) auf und führt insbesondere das Herausarbeiten der „fachlichen Gründe für die gemeinsame Erziehung und Bildung“ (44) als relevant an. Budig und Koslowski thematisieren die Herausforderungen des Umgangs mit Mehrsprachigkeit im Primarschulbereich. Die Autor:innen rahmen in ihrem Aufsatz die Mehrsprachigkeit als „Chancen für alle“ und als „das Wechselverhältnis von Schule und Gesellschaft“ (54) und arbeiten die hohe Bedeutsamkeit der Einbindung der Herkunftssprache(n) in die Gestaltung des Unterrichts heraus (57-58).
Im dritten Abschnitt wird Inklusion im schulischen Kontext entlang einer empirischen Perspektive betrachtet. In ihrem Beitrag gehen Meier, Weis, Jansen und Tigges der Frage nach, welchen Stellenwert Haltungen von Schulsozialarbeiter:innen in der Ausgestaltung inklusiver Bildungsräume einnehmen (64). Dabei fußen die Ausführungen der Autor:innen auf der These, „dass bei jedem praktischen Tun die professionellen Haltungen und die damit verbundenen Normen, Werte und Perspektiven auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eine große Rolle spielen“ (64), um dem Ziel ihrer „ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung“ (66) gerecht zu werden. Pfeifer und Wieckert skizzieren in ihrem Beitrag den Forschungsstand hinsichtlich der „schulischen Bildung von Menschen mit Fluchterfahrungen“ (87) und stellen zwei verschiedene schulisch-unterrichtliche Konzepte und Gelingensbedingungen für Schüler:innen entlang eines ausgewählten Forschungsprojekts vor (89).
Der anschließende Abschnitt widmet sich der Inklusion im Kontext der Erwachsenenbildung. Während Stanik die Potenziale und Grenzen der Erwachsenenbildung „zur Schaffung von gesellschaftlicher Inklusion“ (177) thematisiert und hierzu didaktische Überlegungen zu inklusiven Bildungsgelegenheiten anführt, fragen Herzog und Wieckert nach (Aus-)Gestaltungsmöglichkeiten einer universitären Lehrer:innenbildung, die inklusiv orientiert ist. Dies geschieht entlang der Vorstellung eines im Vorfeld durchgeführten Seminars, das hier als Lernwerkstatt bezeichnet und theoretisiert wird.
Im letzten inhaltlichen Abschnitt werden kritische Perspektiven auf Inklusion dargelegt. Winkler fokussiert vordergründig den Inklusionsbegriff und fragt kritisch nach der Umsetzbarkeit von Inklusion in Zeiten des Neoliberalismus. Dabei kritisiert er Bildung „als Herstellungsprozess eines vermessbaren Gegenstands“ (130), wenngleich sein begriffliches Verständnis von Bildung nicht klar dargestellt wird (178). Shure und Steinbach problematisieren aktuelle, vermeintlich inklusionsorientierte Praktiken in Schule und Unterricht. Hierfür werden zunächst Engführungen des Inklusionsbegriffs kritisch reflektiert und die eigene, diskriminierungskritische Perspektive von Inklusion dargelegt, die einen „Abbau von Marginalisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung“ (154) verfolgt, und die sich von einem weiten, dem Tagungsband zu Grunde liegenden, Verständnis unterscheidet (152).
Deutlich wird, dass die Autor:innen mit differenten Herangehensweisen der leitenden Frage des Sammelbands begegnen. Dabei werden jedoch stets interessante Konzepte bzw. Dimensionen von Bildung thematisiert, die schließlich in Anknüpfung an aktuelle Diskurse und Umsetzungsbemühungen von Inklusion als relevant gerahmt werden und zu einem Weiterdenken anregen. Für das zu Grunde liegende Verständnis von Bildung ist insbesondere die zusammenfassende und sehr gelungene Diskussion von Hußmann aufschlussreich, da in dieser, in Anlehnung an Bieri, die Einzelbeiträge den jeweiligen Verständnissen zugeordnet werden.
Insgesamt legen die Autor:innen einen spannenden und lesenswerten Sammelband vor, der eine breite und interdisziplinäre Betrachtung der Frage, ob Inklusion eine Chance darstellt, Bildung neu zu denken und einen guten Überblick über jeweilige Forschungsstände und -perspektiven ermöglicht. In Anknüpfung an Hußmann (195) sollte Inklusion jedoch stärker im Kontext einer Notwendigkeit diskutiert werden, so verweisen die Beiträge vereinzelt auch auf die UN-BRK, die „auf die Tatsache, dass allgemein anerkannte und gültige Menschenrechte (…) in der Praxis noch zu wenig realisiert werden“ (33) reagiert.
Erweitert werden könnte der Band z.B. mit einem Beitrag, der aus einer diskriminierungskritischen Perspektive, sowie sie von Shure und Steinbach beschrieben wird, empirische Ergebnisse der Schul- und Unterrichtsforschung vorstellt und diese entlang ihrer inkludierenden resp. exkludierenden Praktiken diskutiert.
[1] UN (2006; 2008): Ăśbereinkommen ĂĽber die Rechte von Menschen mit Behinderungen. http://www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf [Zugriff: 17.12.2021].
EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)
Inklusion – eine Chance Bildung neu zu denken?
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(202 S.; ISBN 978-3-7799-6233-5; 29,95 EUR)
BĂĽsra Kocabiyik (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
BĂĽsra Kocabiyik: Rezension von: Herzog, Sonja / Wieckert, Sarah: Inklusion – eine Chance Bildung neu zu denken?. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996233.html
BĂĽsra Kocabiyik: Rezension von: Herzog, Sonja / Wieckert, Sarah: Inklusion – eine Chance Bildung neu zu denken?. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996233.html