EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)

Roswitha Ertl-Schmuck / Jeanette Hoffmann
Spannungsfelder zwischen Theorie und Praxis in der Lehrer/innenbildung
InterdisziplinÀre Perspektiven
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2020
(278 S.; ISBN 978-3-7799-6003-4; 29,95 EUR)
Spannungsfelder zwischen Theorie und Praxis in der Lehrer/innenbildung Die Theorie-Praxis-Differenz spielt im Kontext der Lehrer/innenbildung traditionell eine große Rolle. Ein Band mit dem Titel „Spannungsfelder zwischen Theorie und Praxis in der Lehrer/innenbildung“ aus dem Jahr 2020 weckt daher Erwartungen an eine aufs GrundsĂ€tzliche gerichtete Auseinandersetzung. Genau dies legt die Gliederung des Bandes nahe, die sowohl „theoretische ZugĂ€nge zum Spannungsfeld von Theorie und Praxis“ (5) als auch eine „empirische Erprobung hochschuldidaktischer Formate“ (ebd.) verspricht.

Der Band vereint insgesamt dreizehn BeitrĂ€ge unterschiedlicher Provenienz: GrundschulpĂ€dagogik und Erziehungswissenschaft, Kindheits-, Medien- und BerufspĂ€dagogik, Berufliche Didaktik in Pflege und Gesundheit sowie die Didaktik der deutschen Literatur oder der romanischen Sprachen – die Vielfalt der hier versammelten Perspektiven ist unter konzeptionellen Gesichtspunkten sicherlich eine StĂ€rke des Bandes, wirft aber auch die Frage auf, wie die heterogenen EinzelbeitrĂ€ge produktiv miteinander in Beziehung gebracht werden können. Eine erste Antwort darauf findet sich im organisationalen Bezug der BeitrĂ€ge, die allesamt an der erziehungswissenschaftlichen FakultĂ€t der Technischen UniversitĂ€t Dresden sowie der Evangelischen Hochschule Berlin entstanden sind und sich vornehmlich auf die Praxis der Lehrer/innenbildung an diesen Standorten konzentrieren. Eine zweite Antwort ist im Fokus auf das Theorie-Praxis-VerhĂ€ltnis zu finden, das in allen BeitrĂ€gen in unterschiedlicher Akzentuierung zum Thema wird.

Nach einer bĂŒndigen EinfĂŒhrung startet der Band mit einem Beitrag von Roswitha Ertl-Schmuck, in dem die gouvernementale Durchdringung der universitĂ€ren Lehre mit den Imperativen einer auf Verwertbarkeit abonnierten Logik kritisiert wird. Der Ruf nach mehr Praxis erscheine problematisch, wenn er sich einseitig im affirmativen Anlehnen an die Schulpraxis erschöpfe. Eine Perspektive wird darin gesehen, Irritationen, die aus der Spannung zwischen Theorie und Praxis resultieren, als BildungsanlĂ€sse in der Lehrer/innenbildung fruchtbar zu machen (28). Ähnlich kritisch kommentiert Jonas HĂ€nel den omniprĂ€senten Ruf nach mehr ReflexivitĂ€t, auf den man sich im Kontext der Lehrer/innenbildung zwar gut einigen könne, der konzeptionell aber hĂ€ufig unscharf bleibe. Im Lichte poststrukturalistischer TheoriebezĂŒge hinterfragt HĂ€nel den identifizierenden Gestus, der in einzelnen Reflexionsbestrebungen beschlossen liegt und plĂ€diert dafĂŒr, dass sich die akademische Lehrer/innenbildung stĂ€rker mit dem Thema „AlteritĂ€t“ sowie dem „Scheitern reflexiver Deutungen als Gegenstand“ (34) auseinanderzusetzen habe. Jeanette Hoffmann empfiehlt in einem anspielungsreichen Beitrag schließlich eine nĂ€here Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie die Spannungsfelder zwischen Theorie und Praxis erzĂ€hlt werden. DiesbezĂŒglich ließe sich fallbezogen ein Potential fĂŒr „narratives Lernen“ (61) erschließen.

Damit endet die Zusammenstellung theoretischer ZugĂ€nge zum „Spannungsfeld von Theorie und Praxis“ (5), und der Band wechselt zur PrĂ€sentation hochschuldidaktischer Formate, die ihrerseits noch einmal zwischen AnsĂ€tzen der Kindheits-, Grundschul- und MedienpĂ€dagogik sowie AnsĂ€tzen der Schul- und BerufspĂ€dagogik gegliedert sind. Hier Ă€ndert sich der Modus der Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis, wenn nicht mehr aus Distanz einer theoretisierenden Betrachtung argumentiert wird, sondern man sich direkt in das Feld der hochschuldidaktischen Lehrer/innenbildung hineinbegibt. Der Beitrag von Natascha Naujok beschĂ€ftigt sich in diesem Sinne mit dem didaktischen Wert eines Ausstellungsbesuchs, Matthea Wagener beschreibt „Tutorien als Erfahrungsraum“ (115), Ralf Vollbrecht skizziert das hochschuldidaktische Potential einer „Narrative[n] FilmpĂ€dagogik“ (136) und Franziska Herrmann beschreibt Prozesse des forschenden Lernens. Die Einbindung von Unterrichtsvideos in das hochschuldidaktische Lernsetting wird in einem Beitrag von Christoph Oliver Mayer zum Thema, der gemeinsam mit Sandra Altmeppen auch fĂŒr einen weiteren Beitrag verantwortlich zeichnet, der sich spezieller mit der Diagnose von Fehlern im Kontext von Videos beschĂ€ftigt. Sabine Al-Diban nimmt das Potential von Bibliotheken als Lernorte in den Blick und schließlich beschreibt Melanie Wohlfahrt Erfahrungen aus einer erziehungswissenschaftlichen Forschungswerkstatt. Der Bruch zwischen diesen eher additiv zusammengestellten hochschuldidaktischen BeitrĂ€gen und den theoriebezogenen Artikeln aus dem ersten Drittel des Bandes bliebe störend, wenn hier ‚lediglich‘ eine Art Best-Practice-Kompilation zugestellt worden wĂ€re. Doch dabei bleiben die BeitrĂ€ge nicht stehen. Anregend wird ihre LektĂŒre durch den durchgĂ€ngig selbstreflexiv-Empirie-bezogenen Gestus in dem alle BeitrĂ€ge verfasst sind. So wird im Rahmen dieser Selbstreflexionen z.B. wiederkehrend auch den Stimmen bildungsbeteiligter Studierender Raum gegeben, die sich nicht nur zu den Einzelprojekten, sondern mitunter zur akademischen Arbeit in GĂ€nze in ein VerhĂ€ltnis setzen, wenn gesagt wird, diese erscheine als „ein großes Mysterium“ (256) oder als „Riesenkonstrukt“ (ebd.), an das man sich nur schwer herantraue. Hier – wie an vielen anderen Orten des Bandes – wird deutlich, dass Spannungen zwischen Theorie und Praxis nicht nur als Gegenstand der akademischen Lehrer/innenbildung in Frage kommen, sondern dass diese Lehrer/innenbildung in diese Spannungen unweigerlich verstrickt bleibt. Das VerhĂ€ltnis, das man zu diesem Umstand einnimmt, bleibt im Band ein StĂŒck weit unklar und man hĂ€tte sich eine weitergehende KlĂ€rung gewĂŒnscht, wenn z.B. abwechselnd vom „Spannungsfeld“ im Singular (5) oder – wie im Titel von „Spannungsfeldern“ im Plural gesprochen wird. Auch ist es unter performativen Gesichtspunkten auffĂ€llig, wenn die UnschĂ€rfe des Reflexionsbegriffs z.B. im Beitrag von Jonas HĂ€nel kritisiert wird (33), wĂ€hrend im Beitrag von Sabine Al-Diban trotzdem „ReflexionsfĂ€higkeit als Ziel und als Weg zur Professionalisierung“ (223) empfohlen wird. Hier bleibt nicht nur fraglich, inwiefern Theorie und Praxis unterschiedlich konzeptualisiert werden, sondern inwiefern die Spannungsfelder, die der Titel annonciert, heuristisch auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert werden mĂŒssen. Genau solchen Fragen gibt der Band in einer abschließenden Synopse noch einmal Raum (269), und die Notwendigkeit einer weitergehenden Auseinandersetzung wird unterstrichen.

Auf den ersten Blick hinterlĂ€sst die LektĂŒre des Bandes einen ambivalenten Eindruck, da „das SpannungsgefĂŒge“ (274), das „SpannungsverhĂ€ltnis“ (275) oder das „Spannungsfeld“ (15) zwischen Theorie und Praxis in der Lehrer/innenbildung zwar vielschichtig thematisiert, aber wenig einheitlich erhellt wird. Das muss jedoch kein Nachteil sein, denn der Band zeigt stattdessen die ProduktivitĂ€t und Lebendigkeit des Austausches ĂŒber Spannungsfelder zwischen Theorie und Praxis in der Lehrer/innenbildung (im Plural) auf – nicht im Sinne einer erschöpfenden Darstellung, sondern im Modus des Einblicks in einen unabgeschlossenen Diskurs.
Jens Oliver KrĂŒger (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Oliver KrĂŒger: Rezension von: Ertl-Schmuck, Roswitha / Hoffmann, Jeanette: Spannungsfelder zwischen Theorie und Praxis in der Lehrer/innenbildung, InterdisziplinĂ€re Perspektiven. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996003.html