Für gewöhnlich werden gegenstandstheoretische Fragen einer anthropologischen Sichtweise auf Kinder in der pädagogischen Anthropologie vor allem implizit verhandelt. So weist bspw. das vor einigen Jahren veröffentlichte „Handbuch Pädagogische Anthropologie“ [1] keinen eigenen Artikel zum Thema auf, auch wenn sich die Mehrzahl der Beiträge mit Kindern oder Kindheit beschäftigt. Man kann es als ein zentrales Anliegen des vorliegenden Bandes betrachten, diese sonst implizit bleibende Fokussierung pädagogischer Anthropologie weitreichend zu explizieren und differenziert abzubilden. Er erscheint als Tagungsband der Sektion „Pädagogische Anthropologie“ der DGFE, wurde aber hinsichtlich einiger Beiträge im Vergleich zur 2015 stattfindenden Tagung verändert. Wie das Vorwort deutlich macht, bildet der Band zudem den Auftakt einer in den nächsten Jahren erscheinenden Reihe zu anthropologischen Betrachtung verschiedener Lebensalter. Gegliedert ist der Band in vier thematische Schwerpunktkapitel, die mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Beiträgen gefüllt sind. Die Fülle an Beiträgen macht es an dieser Stelle notwendig, eine Auswahl in der Darstellung zu treffen, ohne dass damit eine Wertung verbunden ist. Aus jedem Kapitel werden ein bis zwei Beiträge vorgestellt.
Nach einem Einleitungsartikel von Gerald Blaschke-Nacak, Ursula Stenger und Jörg Zirfas, der den Konstruktionscharakter des Verständnisses von Kindern und Kindheit anhand einiger historischer und aktueller Ansätze und Einsichten kennzeichnet, widmet sich das erste Schwerpunktkapitel dem Thema „Natur und Geschichte“. Im Beitrag von Kristin Straube-Heinze geht es um das Zusammenwirken einer aufklärerischen Idee des Moratoriums Kindheit und anthropologisch legitimierter Begründung von Strafe. Vor allem mit Campe aber auch anderen Philanthropen wird die Abkehr von barbarischen Strafen zugunsten einer eigenen Straftheorie nachgezeichnet, die auf eine Verbesserung von Sitten und Veredlung zielt. Dies meint aber keineswegs die Abkehr von körperlich-gewaltsamen Strafen, die bspw. Barth noch aus der Annahme einer „Tierheit“ (77) des Kindes begründet. Sie macht es notwendig, den Willen des Kindes zu brechen.
Vor dem Hintergrund der romantisierten Vorstellung des Waldes, die am Beispiel des Märchens „Hänsel und Gretel“ konkretisiert wird, fragt Irit Wyrobik nach der Bedeutung des Waldes in der Konzeption und der täglichen pädagogischen Praxis von Waldkindergärten. Hinsichtlich des Naturalisierungsdiskurses wird ersichtlich, inwiefern der Wald in solchen Kindergärten seine negativen und bedrohlichen Konnotationen zugunsten einer Positivierung naturnahen Aufwachsens verliert.
Das zweite Schwerpunktkapitel widmet sich der „Internationalen Kindheitsforschung“. Darin findet sich u.a. der Beitrag von Cornelia Giebeler. Sie beschreibt den Umbau des ecuadorianischen Bildungssystems im Sinne des anthropologischen Prinzips eines in Harmonie mit der Natur lebenden Menschen. Empirisch betrachtet sie die Umsetzung und Konsequenzen, die dieses Prinzip für die vorschulischen Institutionen der „Kinderzentren“ (144) hat. Gleichsam thematisiert die Autorin auch die Problematiken, die mit der staatlich-institutionellen Umsetzung eines anthropologischen Prinzips einhergehen.
Der dritte Teil des Bandes, der mit „Kunst und Kultur“ überschrieben ist, wird durch zwei Beiträge eröffnet, die die Varianz der Bedeutung von Fotographien für eine pädagogische Anthropologie kenntlich machen. Aus einer phänomenologischen Perspektive fragen Ursula Stenger und Gerald Blaschke-Nacak nach den Bildern von Kindern und Kindheit bei Fachkräften, die in Dokumentationen des frühpädagogischen Alltags zum Ausdruck kommen. In einer Differenzierung charakteristischer Fotographien werden spezifische Vorstellungen des Kind-Seins sowie pädagogische Haltungen herausgearbeitet. Alle verkörpern das „Bild von Kindheit als aktiver Lernzeit“ (201).
Eine andere Facette von Fotographien von Kindern wird im anschließenden Beitrag von Sieglinde Jornitz ersichtlich. Die Autorin betrachtet verschiedene Portrait-Serien mit spezifischer Ästhetik, die jeweils frontal in die Kamera blickende Kinder zeigen. Die Autorin argumentiert für die Relevanz, die künstlerische Bilder von Kindern für eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung haben können. Sie liegt vor allem im reflexiven Potential. Betrachtende werden auf die eigenen normativen Vorstellungen der Bilder von Kindern zurückgeworfen. In dieser Hinsicht ist der Beitrag auch für professionalitätsbezogene Fragen von Interesse.
Das vierte Kapitel des Bandes mit dem Titel „Generation und Zeitlichkeit“ wird durch den sehr lesenswerten Beitrag von Oktay Bilgi eröffnet. Er zeichnet eine spätkapitalistische Form der Zeitlichkeit nach, die den permanenten Neuanfang und ein Denken in Ereignissen zu einem Imperativ macht. In ihr ist auch Kindheit zu verorten, die der Autor anhand der metaphysikkritischen Perspektive einer Soziologie der Kindheit kenntlich macht. Unter Rückgriff auf Agamben wird die Argumentation auf eine „Revision und Wiederaneignung des Transzendentalen“ (278) gerichtet, in der auch die „Erfahrung von Kindheit als transzendental-historische Dimension des Menschseins“ (282) erscheint.
Jörg Zirfas fragt im letzten Beitrag des Bandes, welche Implikationen für eine kindliche Anthropologie aber auch für die Pädagogik im Tod von Kindern liegen. Aus einer fiktiven, elterlichen Perspektive wird zwischen dem Verlust des Lebenssinns, der Annahme des eigenen frühen Sterbens sowie der Möglichkeit der Perfektionierung des eigenen Lebens von Kindern unterschieden. Gezeigt werden damit die Projektionen, die auf das Kind gerichtet werden. Zum Ende thematisiert der Autor zudem das mögliche Potential transformatorischer Bildungsprozesse, das in der Trauer über den kindlichen Tod liegt und gibt seinem Beitrag damit eine interessante Wendung.
Die größte Leistung des Bandes besteht darin, einen weitreichenden und differenzierten Blick auf Perspektiven, Ansätze und Fragen pädagogischer Anthropologie zum Thema Kinder und Kindheit zu werfen. Die Beiträge zeigen die Breite und die Möglichkeiten des Zugangs zu einer solchen thematischen Fokussierung und regen zum Nachdenken über die Beziehung zwischen Pädagogik, Anthropologie und Kindern/Kindheit an. Sie liefern interessante Einblicke in die historisch-kulturelle sowie gesellschaftliche Einbettung kindlicher Anthropologie und ihre Implikationen für die Pädagogik. Es kann mit Recht behauptet werden, dass der Band durch seine Ausrichtung und Leistung einen Grundstein für die Etablierung einer eigenständigen (Sub-)Disziplin der pädagogischen Anthropologie von Kindern und Kindheit gelegt hat. Die Beiträge zeigen in ihrer breiten thematischen Ausrichtung die Sinnhaftigkeit und Produktivität einer solchen Subdisziplin an. Ob diese sich etablieren kann, bleibt weiterhin eine spannende Frage.
Allerdings ist die Anlage des Bandes gleichzeitig mit der Hinnahme kleinerer Einbußen verbunden. Einige der Beiträge sind recht kurz gehalten und lassen wichtige Fragen offen. Z.B. werden die ungleichheitsbezogenen Voraussetzungen und Implikationen des Besuchs von Waldkindergärten von Wyrobik leider nur kurz am Ende angerissen. Auch professionalitätsbezogene Fragen, die sich im Anschluss an den Beitrag von Stenger/Blaschke-Nacak stellen, bleiben leider offen. Natürlich können diese offenen Fragen auch zum Weiterforschen anregen – ihre Vergegenwärtigung wäre aber auch hier vorteilhaft. Eine weitere Leerstelle muss darin gesehen werden, dass die Beiträge zumeist den Begriff des „Kindes“ zentral stellen – obwohl der Einleitungsartikel explizit Kinder und Kindheit ausweist – oder aber keine wirkliche begriffliche Unterscheidung zwischen Kindern und Kindheit vornehmen. Ist es nicht auch in anthropologischer Hinsicht von Bedeutung, ob man von Kindern oder von Kindheit spricht? Damit verbunden bleibt die Anmerkung, dass sich nur wenige Beiträge (z.B. Blaschke-Nacak/Stenger/Zirfas, Schinkel, Bilgi) dezidiert mit der (sozialwissenschaftlichen) Kindheitsforschung auseinandersetzen. Hier wären weitere Verbindungen und Abgrenzungen zur pädagogisch-anthropologischen Perspektive auf Kindheit wünschenswert gewesen.
Diese Kritikpunkte sollen jedoch keineswegs den Beitrag schmälern, den der Band leistet. Vielmehr sind es Punkte, die zu einer verstärken Auseinandersetzung mit einer pädagogischen Anthropologie von Kindern und Kindheit anregen und/oder zu einem Transfer in andere Disziplinen wie die Pädagogik der frühen Kindheit auffordern.
Literatur:
[1] Wulf, Christoph / Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2014): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer VS.
EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)
Pädagogische Anthropologie der Kinder
Geschichte, Kultur und Theorie
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018
(329 S.; ISBN 978-3-7799-3775-3; 34,95 EUR)
Markus Kluge (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Kluge: Rezension von: Blaschke-Nacak, Gerald / Stenger, Ursula / Zirfas, Jörg (Hg.): Pädagogische Anthropologie der Kinder, Geschichte, Kultur und Theorie. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993775.html
Markus Kluge: Rezension von: Blaschke-Nacak, Gerald / Stenger, Ursula / Zirfas, Jörg (Hg.): Pädagogische Anthropologie der Kinder, Geschichte, Kultur und Theorie. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993775.html