EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)

Stefanie Bischoff
Habitus und frühpädagogische Professionalität
Eine qualitative Studie zum Denken und Handeln von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2017
(342 S.; ISBN 978-3-7799-3652-7; 34,95 EUR)
Habitus und frühpädagogische Professionalität Kindertageseinrichtungen werden in Deutschland zunehmend als Bildungseinrichtungen wahrgenommen. Diesem Verständnis folgend wird in den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten der Anspruch erhoben, möglichst früh herkunftsbezogene Bildungsungleichheiten abzubauen. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen untersucht Stefanie Bischoff in ihrer Monographie „Habitus und frühpädagogische Professionalität“ das Denken und Handeln von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen.

Ausgehend von der Habitustheorie Pierre Bourdieus zielt die qualitative Studie auf die Rekonstruktion habitusspezifischer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata frühpädagogischer Fachkräfte ab. Stefanie Bischoff interessiert sich unter anderem dafür, wie die Fachkräfte in Abhängigkeit von ihren habituellen Schemata zentralen Handlungsanforderungen ihrer alltäglichen Praxis begegnen. In einer Verschränkung von ungleichheits- und professionstheoretischen Perspektiven wird hierbei insbesondere fokussiert, wie die Fachkräfte mit der an sie adressierten Anforderung Bildungsungleichheiten abzubauen umgehen bzw. ob und wie sie in ihrer Alltagspraxis – beispielsweise über das Schaffen von Bildungsanlässen oder Möglichkeiten der (individuellen) Förderung – der Reproduktion von Ungleichheiten versuchen entgegenzuwirken. Des Weiteren gerät in den Blick, inwiefern Ungleichheitsstrukturen auch in den Biographien der Fachkräfte wirksam geworden sind. Die Studie baut konzeptionell auf zwei Annahmen auf: Erstens auf der (habitustheoretischen) Annahme, dass sich biographische bzw. sozialisatorische Erfahrungen in Abhängigkeit zur jeweiligen Positioniertheit im sozialen Raum in die Fachkräfte einschreiben und sich zu spezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata verfestigen. Zweitens ist die (feld- und kapitaltheoretische) Annahme leitend, dass Pädagogik und pädagogische Institutionen unweigerlich selbst an der Reproduktion von Ungleichheiten beteiligt sind. Vor dem Hintergrund dieser beiden von Pierre Bourdieu inspirierten Grundannahmen und dem hier dargestellten Erkenntnisinteresse, wird eine elaborierte, ungleichheits- wie professionstheoretische Forschungen systematisierende Einordung der eigenen Studie in die derzeitige kindheitspädagogische Forschungslandschaft vorgenommen. Dabei wird die Verkürzung eines Verständnisses von (früh-)pädagogischer Professionalität kritisiert, welches, den Habitus der Fachkräfte negierend, die Fachkräfte als bloße „Rational-Choice-Subjekte“ konzipiert. Zudem wirbt Stefanie Bischoff dafür, das Verstrickt-Sein der Kindertageseinrichtung in die Reproduktion von Ungleichheiten angemessen zu reflektieren und nicht lediglich den Ausgleich von Ungleichheiten durch (früh-)pädagogische Institutionen zu fokussieren.

Forschungsmethodisch übersetzt wird das Anliegen der Studie, indem mit insgesamt vierzehn Fachkräften narrative Leitfadeninterviews geführt wurden, welche in zwei Fällen durch videographische Beobachtungen der frühpädagogischen Praxis ergänzt wurden. Auf der Basis habitustheoretischer Methodologie leitet die Autorin konsistent in eine habitussensible Analyse der Daten über. Mithilfe der Dokumentarischen Methode (Bohnsack u. Nohl) konnten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata der Fachkräfte rekonstruiert werden, um die Bedeutung dieser habituellen Muster für das professionelle Denken und Handeln in der Frühpädagogik herauszuarbeiten. Darüber hinaus wurde mithilfe der Habitushermeneutik (Lange-Vester u. Teiwes-Kügler) die Position der Fachkräfte im sozialen Raum analysiert und mit den biographisch erworbenen Dispositionen der Fachkräfte für die Analyse eines „Gesamthabitus“ fruchtbar gemacht. Als methodologisch streitbar zeigt sich hingegen die im Anschluss an die Habitustheorie konzeptionierte Gleichzeitigkeit von handlungstheoretischen und praxeologischen Motiven, da die Begriffe „Subjekt“, „Handlung“ und „Praxis“ hierdurch an Kontur verlieren und Gefahr laufen, inkonsistent zu werden.

Als ein erstes Analyseergebnis werden insgesamt dreizehn Spannungsbereiche induktiv aus den Interviews herausgearbeitet, welche auf heterogene und von Widersprüchen gekennzeichnete Handlungsanforderungen verweisen. Unter anderem zeigen sich diese Spannungsbereiche in dem Versuch, Zeitressourcen angemessen auf administrative Tätigkeiten und die direkte pädagogische Arbeit „am Kind“ zu verteilen, Bildungsprozesse zwischen Ganzheitlichkeit und spezifischer Förderung auszubalancieren und gesellschaftliche Bildungs- und Förderaufträge mit einem auf den „Eigensinn“ der Kinder vertrauenden „Wachsenlassen“ zu harmonisieren. Ungeachtet dessen, dass sich solche, analytisch abstrahierte Systematisierungen unweigerlich mit der Frage der Trennschärfe konfrontiert sehen, vermag die Darstellung der Spannungsbereiche ein überaus differenziertes Bild zu zeichnen, welches die diversen Handlungsanforderungen mit denen sich die Fachkräfte konfrontiert sehen in konsistenter Weise strukturiert. Analog zu den von Fritz Schütze für die Sozialpädagogik und von Werner Helsper für die Schulpädagogik ausformulierten Handlungsdilemmata werden hier ebensolche für das Feld der Frühpädagogik systematisch ausbuchstabiert, womit eine Leerstelle frühpädagogischer Forschung geschlossen wird. Hierauf aufbauend werden in der Studie vier Habitusmuster frühpädagogischer Fachkräfte rekonstruiert, welche eine Systematisierung habituell-heterogener Denk- und Handlungsweisen der Fachkräfte erlaubt. Über die oben genannten Auswertungsverfahren werden die jeweiligen Positionen, welche die Fachkräfte im sozialen Raum innehaben, habitushermeneutisch reflektiert und in Beziehung gesetzt zu den habituellen Schemata, die sich ausdifferenzieren in den Mustern „Autonomie und Selbsterfahrung“, „Fachwissen und individuelle Entwicklung“, „Fürsorge und moralische Werte“ und „Gemeinschaft und Akzeptanz“. Bezogen auf die Kontrastierung dieser Muster kann festgehalten werden, dass eine breitere Präsentation der empirischen Daten wohl eine noch deutlichere Plausibilisierung ermöglicht hätte. In diesem Zusammenhang fällt auch der explorative Charakter der Studie ins Gewicht. So konnten lediglich zwei der Muster auch über videographisches Material erschlossen werden, so dass Aussagen über den modus operandi aller vier Muster nur in Abstrichen möglich werden.

Ungeachtet dieser Kritik ist in den Analyseergebnissen ein überaus elaborierter und produktiver Beitrag für die (früh-)pädagogische Professionsforschung zu sehen. Besonders fallen hierbei die habitusspezifischen Bearbeitungsweisen ins Auge, mit denen die Fachkräfte den unterschiedlichen Handlungsdilemmata begegnen. Es wird deutlich, dass die Reproduktion von Ungleichheiten durch die Kindertageseinrichtung unmittelbar in Zusammenhang damit steht, wie Fachkräfte ihr professionelles Handeln zwischen schulnaher früher Förderung einerseits und der Anerkennung des jeweiligen lebensweltlich geformten kulturellen Kapitals andererseits austarieren. Zusammenfassend kommt die Studie zu Erkenntnissen, die es erlauben die Handlungsanforderungen, mit denen frühpädagogische Fachkräfte konfrontiert sind, professionstheoretisch einzuordnen und in einer habitussensiblen Weise neu zu bewerten. Der Anspruch Bildungsungleichheiten abzubauen wird hierbei in fundierter Weise mit der Omnipräsenz gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen zusammengebracht. So wird sowohl das Verstrickt-Sein der Fachkräfte infolge ihrer Biographie und sozialen Positionierung, als auch der konzeptionell-bürgerliche Bias reflektiert, der mit den an sie gerichteten Handlungsanforderungen verbunden ist. Damit wird – für Wissenschaft wie Praxis gleichermaßen bedeutsam – die Notwendigkeit einer habitussensiblen Professionalisierung der Frühpädagogik aufgezeigt.
Dominik Farrenberg (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dominik Farrenberg: Rezension von: Bischoff, Stefanie: Habitus und frühpädagogische Professionalität, Eine qualitative Studie zum Denken und Handeln von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993652.html