Wissenschaftliche Disziplinen und deren Subdisziplinen vergewissern sich ihres jeweiligen Gegenstandsbereiches in aller Regel durch historische „Klassiker“, die Ideen und Ansätze zur Konstituierung dieses Gegenstandbereiches bieten. Zwar werden KlassikerInnen als Personen unweigerlich mit ihrem Werk verbunden und dabei oft auch zu Kultfiguren [1] „gemacht“. Als Texte weisen sie jedoch in aller Regel etwas substanziell Grundlegendes auf [2]. Dieses Grundlegende geht dabei keineswegs allein im zugeschriebenen Rang oder in der Biographie einer Person auf.
In der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen finden sich solche KlassikerInnen in zusammengestellter Form vielfach. Bezug nehmend auf entsprechende Buchbände wird mancherorts gar von dem „Reble“ dem „Scheuerl“ oder dem „Tenorth“ gesprochen, sobald auf eine versammelte und gedeutete Auswahl klassischer pädagogischer Ideen verwiesen wird. Die jeweilige Bewertung einer Zusammenstellung solcher Ideen hängt davon ab, welche Auswahl substanzieller, umfassender oder auch quellennäher fundiert erscheint. In der Pädagogik der frühen Kindheit im Besonderen tat sich eine solche Zusammenstellung bislang allerdings schwer. Blickt man auf die Textsorte Buch und klammert dabei Editionen aus, so kann die deutschsprachige Subdisziplin letztlich nur ein Werk aufweisen, das sich der deutenden Zusammenstellung und Sicherung klassischer frühpädagogischer Ideen widmet: Es handelt sich um das an dieser Stelle rezensierte Buch von Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer, das hierzulande [3] tatsächlich das erste seiner Art ist!
Das Buch ist in folgende drei Bereiche gegliedert: I. „Einleitung“; II. „KlassikerInnen und WegbereiterInnen der frühkindlichen Bildung und Erziehung“; III. „Geschichte und Gegenwart – von den KlassikerInnen und WegbereiterInnen zu den Kindertagesstätten heute“.
I. Eine Kanonisierung frühpädagogischer KlassikerInnen findet sich nach Franke-Meyer und Reyer gegenwärtig nur in Form von Aufsätzen: in Karl Neumanns „Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit“ [4] und in Helmut Heilands „Erziehungskonzepte der Klassiker der Frühpädagogik“ [5]. Wenngleich im Titel des Beitrags nicht explizit von Klassikern die Rede ist, so müsste an dieser Stelle wohl auch Frithjof Grells Aufsatz „Frühkindliche Bildung in historischer Perspektive“ [6] ergänzt werden. Neumann, Heiland und Grell wählten in unterschiedlicher Gewichtung aus der Rezeption mehr oder minder „bekannte“ Klassiker aus, darunter vor allem Comenius, Pestalozzi, Fröbel, Montessori, Steiner und (bei Heiland) auch Locke und die Philanthropisten. Franke-Meyer und Reyer weisen auf die grundlegende Schwierigkeit einer solchen „Auswahl, Bewertung und Rangfolge der historischen Persönlichkeiten, die als Klassiker gelten sollen“ (7), hin. Vor dem Hintergrund einer Spannung von substanziellen Ideen, die in als klassisch eingeordneten Texten der Pädagogik der frühen Kindheit tradiert werden, und der Herstellung und Konstruktion von Klassikern durch die Rezeption – bis hin zu bloßem „name dropping“ (8) – erscheint es einleuchtend, dass „die Frage nach Klassikern und ihrer Pflege die Kindheitspädagogik […] in einer besonderen Situation“ trifft – nämlich mitten im Konstitutionsprozess eines bislang „nur semiakademisch unterfütterten Profession- und Institutionszusammenhang[es]“ (ebd.). Franke-Meyer und Reyer begründen ihre eigene Neuauswahl frühpädagogischer Klassiker schließlich damit, dass diese „für ein breiteres Spektrum an grundlegenden Problem- und Fragestellungen stehen“ (11).
II. Der Kern des Buches verfährt chronologisch und systematisch, indem die Personengeschichte der ausgewählten KlassikerInnen getrennt von der Ideen- und Sozialgeschichte ihrer jeweils überlieferten Gedanken und Praktiken frühkindlicher Bildung und Erziehung dargestellt wird. Im Fokus stehen frühpädagogische und frühpädagogisch relevante Texte folgender Personen: Comenius, Rousseau, der Philanthropisten Campe und Wolke, Schwarz, Wirth, als Vertreter einer evangelischen Kinderschulebewegung Oberlin, Jolberg, Fliedner, Ranke und von Bissing-Beerberg, Fölsing, Fröbel und die Fröbelbewegung mit Blick auf Köhler, Marenholtz-Bülow und Schrader-Breymann sowie – last but not least – Montessori. Da die mit dem Buch vorgelegte historische Rekonstruktion frühkindlicher Bildung und Erziehung umfangreich, zum Teil aber auch stark konzentriert ist, zahlreiche Details und an einigen Stellen auch ertragreiche Fußnoten enthält, soll im Folgenden nur schlaglichtartig auf diejenigen Aspekte eingegangen werden, die die bislang veröffentlichen frühpädagogischen Klassiker-Rezeptionen an der einen oder anderen Stelle wahrscheinlich zur Reflexion zwingen werden: Ideengeschichtlich ist die Rolle der Philanthropisten Johann Heinrich Campe und Christian Hinrich Wolke herauszuheben – Campe hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit der kindlichen Seele und der Sinnestätigkeit als anthropologischer Voraussetzungen der Erziehung (44ff), Wolke mit Blick auf seinen (35 Jahre vor Fröbels Kindergarten-Stiftung) differenziert ausgearbeiteten „Plan für die Grundlegung und flächendeckende Implementierung einer Bildungsanstalt für kleine Kinder vor der Schule“ (55), der bereits über rein sozialfürsorgerische Ideen zum Umgang mit Kleinkindern hinausging! Aus Friedrich Heinrich Christian Schwarz’ Werk „Die Schulen“ wird von Franke-Meyer und Reyer der erste Teil über Kleinkinderschulen und Bewahranstalten zusammengefasst, in dem der Autor „eine detaillierte Vorstellung von der räumlichen und personellen Ausstattung sowie der Arbeitsweise dieser neuen Einrichtungen“ (66) entwarf. Für die historische Rekonstruktion der Idee elementarpädagogischer Arrangements, wie sie sich später auch in Montessoris Ansatz einer vorbereiteten Umgebung oder in der vielzitierten (und recht losen) Formel des Raums „als dritter Erzieher“ finden sollte, muss Schwarz künftig einen historischen Ausgangspunkt bilden. Eine besondere Bedeutung kommt außerdem der Darstellung elementarpädagogischer Ideen- und Realgeschichte zu, die durch Johann Georg Wirths Bewahranstalten in Augsburg sowie durch seine Texte zu diesen kanonisiert werden. Mehr oder minder neu in der Reihe frühpädagogischer KlassikerInnen erscheinen auch Julie Regine Jolberg, Johann Friedrich Ranke und Adolph Freiherr von Bissing-Beerberg als bislang weitgehend unbeachtete VertreterInnen der evangelischen Kinderschulbewegung. Mit Blick auf den durch seine Kindergartenidee und seine Spiel- und Beschäftigungsmittel bekannten Friedrich Fröbel werden dessen pragmatische Texte zur Bildung und Erziehung kleiner Kinder seinem systematischen Hauptwerk „Die Menschenerziehung“ aus dem Jahr 1826 nachgeordnet. Dies erscheint plausibel, denn wenngleich sich seine spielpädagogischen Ideen zeitlebens änderten und in den 1840er Jahren zunehmend manifestierten, so blieb Fröbels Menschenerziehung eine zentrale Grundlage für sein Verständnis frühkindlicher Bildung und Erziehung. Darüber hinaus legen Franke-Meyer und Reyer einen besonderen Fokus auf die (Weiter-) Entwicklung der Fröbel’schen Ideen in der Fröbelbewegung.
III. Das abschließende Kapitel des Buches blickt aus den eingangs aufgeworfenen Problem- und Fragestellungen noch einmal zurück in die als klassisch kanonisierte und gedeutete Geschichte der Frühpädagogik, um für die Gegenwart einschlägige Erkenntnisse herauszuheben.
Eine Diskussion des Buches von Franke-Meyer und Reyer kann an dieser Stelle nur angedeutet werden, zudem ist eine verdiente Würdigung des Werkes unausweichlich: Die rezipierte Zusammenstellung ist quellennah, sie greift repräsentativ ausgewählte Textstellen auf und kontextualisiert diese angemessen. Vor allem in diesen Kontextualisierungen zeigt sich die sozialgeschichtliche Schule, durch die Franke-Meyer und Reyer offensichtlich gegangen sind und die ein Alleinstellungsmerkmal des Bandes neben den bislang veröffentlichten (und stärker ideell orientierten) Klassikerdeutungen in der Pädagogik der frühen Kindheit bilden! Verglichen mit der Gegenwart (häufig empirisch-sozialwissenschaftlicher) frühkindlicher Bildungsforschung erfreut die gedeutete Zusammenstellung schließlich durch eine gewisse Unzeitgemäßheit, die sich aus Sicht des Rezensenten besonders im Fokus auf die Begriffe Bildung und Erziehung zeigt. Als erziehungswissenschaftliche Grundbegriffe bilden sie die systematische Ordnung, die sich durch den gesamten Band zieht und die es als hermeneutische Brille ermöglicht, auch die teilweise eher psychologisch anmutenden Texte (so etwa von Campe) pädagogisch zu deuten. Liest man das Buch in diesem Sinne, so entsteht im dritten und abschließenden Kapitel allerdings der Eindruck eines gewissen Bruchs, da die aufgedeckte erziehungs- und bildungstheoretische Tiefe der kanonisierten Auswahl kaum mehr aufgegriffen wird. Das Fazit bietet spannende Einsichten, die aber recht pragmatisch wirken und inhaltlich eher auf frühere Arbeiten der Autorin und des Autors hinweisen.
Nichtsdestoweniger ist das Buch in der Gesamtschau ein überzeugendes Werk, das substanzielle Ideen, Praktiken und Einsichten aus der Geschichte der Pädagogik der frühen Kindheit pädagogisch neu ordnet. Mit Blick auf Auswahlkriterien bleiben KlassikerInnen streitbar. Um beide muss in jeder wissenschaftlichen (Sub-)Disziplin immer wieder aufs Neue gerungen werden. Was in diesem Ringen zählt, ist kein Absolutheitsanspruch, sondern die Plausibilität der Begründung, die sich Leserinnen und Lesern erst vor dem Hintergrund drängender gesellschaftlicher Fragen der Gegenwart im Allgemeinen wie auch wissenschaftlicher Fragen im Besonderen zeigt. Somit bleibt auf eine breite Rezeption des Buches von Franke-Meyer und Reyer zu hoffen, das sich als historische Einführung zur Pädagogik der frühen Kindheit im Übrigen ebenso eignet wie als Grundlage zur Auswahl klassischer frühpädagogischer Texte. Wenn bei späteren Auflagen ein Personen- und Stichwortregister beigegeben werden solle, könnte das Buch auch als Nachschlagewerk eine gewichtige Funktion in der gegenwärtigen Pädagogik der frühen Kindheit erfüllen. Fazit: Lesenswert!
[1] Osterwalder, F.: Pestalozzi – ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 1996.
[2] Winkler, M.: Vergessen oder vernachlässigt – Die Erziehungswissenschaft und ihre Klassiker. In: Koerrenz, R. (Hg.): Bildung und Kultur. Zwischen Tradition und Innovation. Jena: IKS Garamond 2010, 27–54.
[3] vgl. zur Auswahl und Rezeption von KlassikerInnen im angloamerikanischen Sprachraum etwa: Nutbrown, C. / Clough, P,./ Selbie, P.: Early Childhood Education. History, Philosophy and Experience. Los Angeles: SAGE 2008; aber auch: Lascarides, V. C. / Hinitz, B. F.: History of Early Childhood Education. New York: Routledge 2000.
[4] Neumann, K.: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit. In: Fried, L. / Roux, S. (Hg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk. Weinheim / Basel: Beltz 2013, 107–118.
[5] Heiland, H.: Erziehungskonzepte der Klassiker der Frühpädagogik. In: Erning, G. / Neumann, K. / Reyer, G. (Hg.): Geschichte des Kindergartens. Bd. II: Institutionelle Aspekte, systematische Perspektiven, Entwicklungsverläufe. Freiburg i.Br.: Lambertus 1987, 148–184.
[6] Grell, F.: Frühkindliche Bildung in historischer Perspektive. In: Stamm, M. / Edelmann, D. (Hg.): Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS 2013, 147–164.
EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)
Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit
Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015
(287 S.; ISBN 978-3-7799-3302-1; 24,95 EUR)
Ulf Sauerbrey (Jena / Bamberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulf Sauerbrey: Rezension von: Franke-Meyer, Diana / Reyer, Jürgen: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit, Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993302.html
Ulf Sauerbrey: Rezension von: Franke-Meyer, Diana / Reyer, Jürgen: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit, Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993302.html