Sexualpädagogik kontrovers ist eine Reaktion auf die öffentlichen Debatten zu sexueller Pluralität, auf die Vorwürfe und Proteste gegen eine Sexualpädagogik der Vielfalt und die Diffamierungen einzelner ihrer Vertreter_innen, die sich vor allem rund um den Bildungsplan in Baden-Württemberg zugespitzt haben. Herausgegeben von Anja Henningsen, Juniorprofessorin im Forschungsbereich „Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“, sowie Elisabeth Tuider und Stefan Timmermanns, die seit vielen Jahren zu Sexualpädagogik forschen und publizieren, möchte der Band einen Beitrag zur „Versachlichung der Debatte“ leisten und eine „fachliche Positionierung“ in der gegenwärtigen Diskussion um sexuelle Vielfalt und Sexualpädagogik anbieten (vgl. 14ff). Sexualpädagogik kontrovers zählt zu jenen kürzlich erschienen Sammelbänden, die den Begriff sexuelle Vielfalt, der zunächst eher in programmatischen Texten zu finden war, theoretisierend aufgreifen (vgl. dazu auch Huch / Lücke 2015 [2]; Katzer / Voß 2016 [3]; Lewandowski / Koppetsch 2015 [4]; Schmidt u.a. 2015 [5]) Einige der nun in publizierter Form vorliegenden Beiträge wurden auf den letzten beiden Fachtagungen der Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V. präsentiert, die sich den aktuellen medialen Kontroversen widmeten.
Der Sammelband umfasst zwei inhaltliche Schwerpunkte: Die ersten sieben Beiträge greifen Diskussionsfelder rund um sexuelle Bildung auf. Das Themenspektrum reicht dabei von der Frage nach theoretischen Grundlagen und sexualpädagogischer Professionalität bis zur Analyse didaktischer Prämissen, dem Verhältnis von sexueller Bildung und Gewaltprävention und dem exemplarischen Handlungsfeld Soziale Arbeit. Im zweiten inhaltlichen Schwerpunkt des Bandes widmet sich vier Beiträgen der Analyse öffentlicher und medialer Debatten. Sie nehmen dabei das Verständnis von Sexualität und Geschlecht insbesondere jener Akteur_innen in den Blick, die sich als Gegner_innen einer Sexualität der Vielfalt in die öffentliche Diskussion eingebracht haben. Im Folgenden werden zunächst alle Artikel kurz vorgestellt, bevor gesamte Band einer kritischen Betrachtung unterzogen wird.
Eröffnet wird die Publikation, nach der Einleitung der Herausgeber_innen, von Stefan Timmermanns, der sich unter dem Titel „Vielfalt wächst aus Freiheit“ theoretischen Bezugspunkten einer Sexualpädagogik der Vielfalt widmet, die er vor allem in der (kritisch-reflexiven) Erziehungswissenschaft und den Queer Studies verortet. Timmermanns konzentriert sich auf die Konzepte Identität, Anerkennung, egalitäre Differenz und Menschenrechtsprofession und kombiniert in seinen Ausführungen theoretische Ansätze, empirische Studien und Policy Papers wie die WHO Standards zu sexueller Aufklärung (2011).
Ulrike Schmauch skizziert in ihrem Artikel sexualpädagogische Herausforderungen professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit und stellt konkrete Beispiele gelungenen Handelns vor. Im Anschluss fasst sie „grundlegenden Annahmen zu Sexualität und sexueller Bildung“ (40) zusammen und schließt mit einem Appell für die curriculare Verankerung von Sexualpägogik in den Studiengängen sozialer Arbeit.
Anja Henningsen widmet sich in ihrem ersten Beitrag der Frage nach dem Selbst- und Zuständigkeitsverständnis von Sexualpädagog_innen. Sie stellt ein Lehrforschungsprojekt an der Universtität Kiel vor, in dem Mitglieder der Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V. – also sexualpädagogische Fachkräfte – zu ihrem Ausbildungshintergrund, ihren Praxiskontexten, den Grundlagen ihrer Handlungssicherheit sowie sexualpädagogischem Forschungsbedarf befragt wurden. Dass bei letzterer Frage Wirkungsforschung die Liste des Bedarfs anführt, interpretiert Henningsen nicht zuletzt als ein Zeichen des Kampfes der Sexualpädagogik um Anerkennung, den sie aufgrund ihrer Positionierung „als Seismograph für gesellschaftliche Ungleichheitstendenzen“ immer wieder zu führen hat (65).
Uwe Sielerts Beitrag beginnt mit einer „Zeitgeschichte sexualpädagogischer Didaktik“ (69) und reflektiert anschließend einige „didaktische Grundthemen“ (77), wie etwa die Frage nach dem Sexualitätsverständnis, der Wissenschaftsorientierung oder dem Präventionsanliegen. Dabei greift er auch die spannende Frage auf, wie sexuell eine sexualpädagogische Didaktik sein dürfe. Nachvollziehbar argumentiert Sielert, dass eine sexualfreundliche Erziehung sich nicht auf die „kognitive Reflexion sexuellen (Er-)Lebens“ beschränken dürfe, sondern „visuelle und auditive Materialien sowie Körper- und Interaktionsübungen“ (80) einschließen solle. Seine Argument, dass Sexualerziehung im Sinne eines ebensolchen „multisinnlichen Lernens“ (ebd.) als sexuell bezeichnet werden könne, überzeugt jedoch nicht, sondern irritiert eher, weil es die Grenze zwischen sinnlich und sexuell verwischt. Die Frage inwiefern eine sexuelle Aufladung auch heikel und grenzüberschreitend sein kann, lässt sich so nicht ausreichend differenziert problematisieren. Als ein weiteres Thema behandelt Sielert die „Didaktik der Sexualpädagogik im Kontext einer kritischen Präventionstheorie“ (82 ff). Seine zugespitzte Gegenüberstellung von gefahrenorientierter Präventionsarbeit und sexualfreundlicher sexueller Bildung scheint pädagogisch nicht zielführend und empirisch fragwürdig; auch wenn sie mit Blick auf die Bildungspolitik und den Kampf um staatliche Finanzierung nachvollziehbar ist. So schließt Sielert seinen Beitrag auch mit einem bildungs- und forschungspolitischen Plädoyer für kontinuierliche sexuelle Bildung und der Etablierung von Forschung zu sexualpädagogischer Didaktik.
Ann-Kathrin Kahle geht in „Sexualität und Vielfalt“ der Frage nach, ob Sexualität gelernt werden muss. Sie betont dabei die nicht sexuellen Bereiche, die für die sexuelle Entwicklung von Bedeutung sind. Daran anschließend widmet sie sich den Zielen und Aufgaben kritisch-reflexiver Sexualpädagogik in verschiedenen Lebensaltern und fragt abschließend nach Haltungen und Kompetenzen, die grundlegend für sexualpädagogisches Handeln sind.
Katja Krolzik-Matthei und Heinz-Jürgen Voss behandeln in ihrem Artikel die Thematisierung von Gewalt in pädagogischen Beziehungen ab den 1960er Jahren sowie nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in kirchlichen und reformpädagogischen Einrichtungen ab 2010. Sie setzen diese Diskurse über Gewalt in Bezug zu den gegenwärtigen Debatten um Geschlechterforschung und Sexualpädagogik und konzentrieren sich auf die Frage, wie die (Kommunikations)Kultur in pädagogischen Einrichtungen, Gewaltprävention fördert oder behindert.
Anja Henningsen widmet sich in ihrem zweiten Beitrag ebenfalls der Gewaltprävention. Sie thematisiert die Vorwürfe der „Frühsexualisierung“ und des „gezielten Abbau[s] von Schamgrenzen“ (120), die der Sexualpädagogik medial gemacht werden und zeigt ihre Haltlosigkeit auf. Henningsen argumentiert, dass ein breiter Ansatz sexueller Bildungsarbeit, der neben sexualpädagogischer Arbeit mit Heranwachsenden auch die professionelle Reflexion pädagogisch Tätiger und die organisationale Verantwortung für sexualfreundliche und gewaltmildernde Umgangsformen umfasst, zuverlässiger vor Übergriffen schützen würde als kurzzeitige Präventionsprogramme. Henningsen weist dabei auch darauf hin, dass rigide Geschlechternormen gewaltfördernd wirken können und homonegative Diffamierung eine gewaltvolle Praxis ist, die oftmals nicht als solche angesehen und behandelt wird.
Nach diesem letzten im engeren Sinne sexualpädagogischen Beitrag folgen die Analysen medialer Diskurse und ihrer Akteur_innen. Zunächst bietet Andreas Kempers eine detaillierte Beschreibung verschiedener Strömungen und Flügel in der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Kemper analysiert die Positionen der Familienunternehmen und der klerikal-aristokratischen Netzwerke in der AfD und nimmt dabei weniger ihr Sexualitätsverständnis als vielmehr ihre Position zu Gleichstellungspolitik in den Blick.
Robert Claus widmet sich unter dem Titel „Zwischen ‚Falschbeschuldigung’ und ‚Zeugungsstreik’“ den Sexualitätsdiskursen im Maskulismus. Er kontextualisiert die Aktivitäten maskulistischer Akteur_innen innerhalb antifeministischer Strömungen und analysiert – methodisch gut nachvollziehbar – ihr Verständnis von Sexualität. Als Heuristik für seine differenzierte Analyse nutzt er die von Uwe Sielert unterschiedenen Sinnebenen von Sexualität, nämlich Identität, Beziehung, Lust / Begehren und Fortpflanzung / Reproduktion. Besonders lesenwert ist dieser Artikel nicht zuletzt deshalb, weil Claus auch die Widersprüche in den maskulistischen Diskursen prägnant herausarbeitet.
Elisabeth Tuider analysiert in ihrem Text Inhalte und Muster der öffentlichen Angriffe auf Queer Studies, Queer Politics und Sexualpädagogik und arbeitet dabei die Strategien der „diskursiven Verkettungen“, der „Dekontextualisierungen“ sowie des „Angst-Schürens“ heraus (178ff). Tuider argumentiert, dass das gegenwärtig beobachtbare Aufrufen des Bildes vom „unschuldigen Kind“ (184ff) historisch nicht neu sei und macht darauf aufmerksam, dass es in der Analyse gegenwärtiger Biopolitik die Verwobenheit von Heteronormativität, Rassismus und Klassismus in den Blick zu nehmen gilt.
Der abschließende Beitrag von Joachim von Gottberg widmet sich der Rolle von Medien bei der Veränderung von sexuellen Normen und Werten. Ausgehend von einem sexualethischen historischen Streifzug skizziert er an konkreten Beispielen die Darstellung von Sexualität in den Medien. Er argumentiert, dass die Medien, die ihr Publikum auch emotional ansprechen, in den letzten Jahrzehnten einen großen Beitrag zur Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensweisen geleistet hätten.
Mit Blick auf den gesamten Sammelband fällt auf, dass die ersten sieben Beiträge ein sehr ähnliches Verständnis von Sexualität und Sexualpädagogik teilen. Auffällig ist, dass die Beiträger_innen ihren Zugang nicht (mehr) als (neo)emanzipatorische Sexualpädagogik und auch nicht als Sexualpädagogik der Vielfalt bezeichnen, sondern den Begriff der „kritisch-reflexiven Sexualpädagogik“ wählen, den Uwe Sielert in der Neuauflage seiner „Einführung in die Sexualpädagogik“ (2015) erstmals verwendet hat.
Aus der Perspektive von Queer Studies und kritischer Erziehungswissenschaft, die als wichtig für die Sexualpädagogik eingeschätzt werden (vgl. Timmermanns), fällt auf, dass sich die Beiträge durchweg affirmativ auf ein Konzept von (sexueller) Identität und beziehen und damit die Vorstellung souveräner Subjektivität, sowohl auf Seiten der Pädagog_innen wie der Adressat_innen transportieren (vgl. etwa Timmermanns, Sielert, Henningsen). Was Walter Müller [6] bereits Anfang der 1990er Jahre über (emanzipatorische) Sexualpädagogik festgestellt hat, erscheint also auch 25 Jahre später noch nicht grundlegend anders: Die in der Bildungstheorie durchaus intensiv rezipierte Subjektkritik ist in der Sexualpädagogik noch nicht breit angekommen.
Neben dem durchwegs affirmativen Bezug auf Identität fällt – aus Perspektive kritischer Erziehungswissenschaft – auch eine ebensolche Verwendung des Kompetenzbegriffs auf. Mehrere der Beiträge (vgl. Henningsen, Kahle, Schmauch) skizzieren wichtige bzw. notwendige sexualpädagogische Kompetenzen, die pädagogische Fachkräfte „haben“ sollten, um dann etwas Bestimmtes damit „machen“ zu können. Den Fokus auf Kompetenzkataloge und nicht etwa auf Antinomien (sexual)pädagogischen Handelns zu legen, suggeriert eine heikle ‚pädagogische Machbarkeit’ anstatt Spannungsverhältnis zwischen institutionellen Verhältnissen, pädagogischen Programmatiken, professionellem Handeln und Bildungsprozessen theoretisch und empirisch in den Blick zu nehmen.
In Zeiten massiver Angriffe, in denen es die eigenen Arbeit öffentlich zu erklären und zu legitimieren gilt, scheinen kontroverse Diskussionen und Kritik innerhalb des Feldes erschwert, so zumindest der Eindruck, den „Sexualpädagogik kontrovers“ hinterlässt. Aufgrund der Aktualität der Thematik verwundert es nicht, dass das Buch etwas eilig geschrieben wirkt. Angesichts seines überaus wichtigen Anliegens ist es jedoch bedauerlich, dass es ihm stellenweise an konzeptioneller, begrifflicher und sprachlicher Präzision mangelt. Für sexualpädagogisch Informierte, denen wohl viele der Inhalte und Positionen im ersten Teil des Buches bekannt sind, dürfte der zweite Teil von besonderem Interesse sein, der einen spannenden Überblick über Akteur_innen und Argumentationen der öffentlichen Debatten anbietet. Die diskursanalytischen Beiträge sind gut recherchiert und verweisen auf eine Fülle an Primärquellen, die ihre Argumentationen illustrieren und belegen.
Abschließend kann festgehalten werden, dass der Band einen wichtigen Beitrag zur Analyse öffentlicher Debatten und zur Reflexion fachlicher Positionen leistet. Angesichts der heftigen Angriffe und Diffamierungen mag es schwierig bis unmöglich sein, mit den Kritiker_innen der emanzipatorisch und an Vielfalt orientierten Sexualpädagogik in eine Diskussion zu treten, die sich an ‚der Sache’ abarbeitet. Umso wichtiger ist es, der interessierten Öffentlichkeit und insbesondere der pädagogischen Fachöffentlichkeit die Prämissen sexualpädagogischer Zugänge immer wieder darzulegen und diese pädagogisch, politisch und ethisch zu begründen.
[1] Im Rahmen diese Forschungsbereich werden vom deutsche Bundesministerium fĂĽr Bildung und Forschung 21 Forschungsvorhaben und fĂĽnf Juniorprofessuren finanziert.
[2] Huch, Sarah/LĂĽcke, Martin (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule. Konzepte aus Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik. Bielefeld: transkript 2015.
[3] Katzer, Michaela/Voß, Heinz-Jürgen(Hrsg.): Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Praxisorientierte Zugänge. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016.
[4] Lewandowski, Sven/Koppetsch, Cornelia (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität. Bielefeld: transkript 2015.
[5] Schmidt, Friederike / Schondelmayer, Anne-Christin / Schröder, Ute B. (Hrsg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt: Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden: Springer VS 2015.
[6] Müller, Walter: Skeptische Sexualpädagogik. Möglichkeiten und Grenzen schulischer Sexualerziehung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992, 102ff.
[7] Sielert, Uwe: Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2015.
[8] WHO Regionalbüro für Europa und BzGA (2011): Standards sexueller Aufklärung in Europa. Online unter: https://www.oif.ac.at/fileadmin/OEIF/andere_Publikationen/WHO-Standards_DE_Endfassung_11_10_2011pdf.pdf (31.03.2016)
EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)
Sexualpädagogik kontrovers
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016
(212 S.; ISBN 978-3-7799-3273-4; 16,95 EUR)
Marion Thuswald (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marion Thuswald: Rezension von: Henningsen, Anja / Tuider, Elisabeth / Timmermanns, Stefan (Hg.): Sexualpädagogik kontrovers. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993273.html
Marion Thuswald: Rezension von: Henningsen, Anja / Tuider, Elisabeth / Timmermanns, Stefan (Hg.): Sexualpädagogik kontrovers. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993273.html