Dass sich Menschen zeitlebens Nahrung zuführen müssen, um überleben zu können, ist unabdingbar und ist allenfalls temporär aufhebbar. Dieser auf die menschliche Physis hin bezogene Befund mag zunächst banal und für pädagogische Zusammenhänge als wenig bedeutsam erscheinen. Vor dem Hintergrund der Relevanz, die die Ernährung für den Menschen und dessen Sein und Werden hat, ist dieser Befund in seiner pädagogischen Relevanz aber kaum zu unterschätzen. Von einer allgemeingültigen, generalisierbaren anthropologischen Bedeutung des Essens und der Ernährung auszugehen, ist sicher irreführend. Vielmehr variiert diese historisch-kulturell und ist individuell verschieden gelagert. Von besonderer Relevanz erscheint dabei, dass die physische Angewiesenheit auf Nahrung und die Befriedigung dieser Notwendigkeit durch Dritte zu den ersten sozialen Erfahrungen des Menschen nach der Geburt zählt. Bedeutsam erscheint zudem, dass die Ernährung, wie die Geschichte zeigt, als anthropologische Universalie umfangreiche Möglichkeiten der Formierung des Menschen und dessen Verhalten bereitstellt und zahlreiche Optionen der Kontrolle und Regulierung des Menschen offeriert. Die Wirkmächtigkeit dieser Zugriffe auf den Menschen ergibt sich dabei nicht zuletzt daraus, dass sie nicht nur äußerlich bleiben, sondern verinnerlicht, inkorporiert werden.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass gerade die frühestkindliche Ernährung Gegenstand des Interesses höchst unterschiedlicher Diskurse ist – von der Pädiatrie, der Pädagogik bis hin zur Ökonomie und Politik – und dass es im Rahmen der Auseinandersetzung um diese Ernährung zumeist nur am Rande um das physische Überleben des Kleinstkindes geht. Vielmehr werden anthropologische, pädagogische, gesellschaftspolitische, ökonomische Fragen verhandelt, wie das Buch „Erziehung an der Mutterbrust. Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens“ von Sabine Seichter entlang einer historischen Perspektive anschaulich macht. Seichter trägt dabei verschiedene Stränge des europäischen Diskurses zum Stillen der letzten 2500 Jahre zusammen. Das in insgesamt sieben inhaltliche Kapitel unterteilte Buch folgt hierbei weitgehend üblichen historischen Einteilungen. Es beginnt mit Stilldiskursen der griechisch-römischen Antike (Kapitel 2) wie auch des antiken Judentums und Christentums (Kapitel 3), geht über zu Stilldiskursen des Mittelalters (Kapitel 4), der Renaissance (Kapitel 5), der Aufklärung (Kapitel 6) wie auch des 19. Jahrhunderts (Kapitel 7) und endet schließlich mit Stilldiskursen des 20. Jahrhunderts (Kapitel 8) sowie des beginnenden 21. Jahrhunderts (Kapitel 9).
Entlang der gewählten historischen Perspektiven stellt Seichter einen breiten Zugang zur europäischen Kulturgeschichte des Stillens her. Auffallend ist dabei sicherlich die über die Zeiten hinweg findende Deutung des Stillens als natürliche Ernährungsform und als natürliche Pflicht der Mutter. Vor dem Hintergrund dieser Diskursivierung des Stillens wird verständlich, dass das gewollte oder ungewollte Nicht-Stillen von Müttern, die sich in allen von Seichter erfassten Zeiträumen und Diskursen ausmachen lässt, stets erklärungsbedürftig blieben und bis heute geblieben sind. Letztlich gelten, überspitzt formuliert, alternative Formen frühestkindlicher Ernährung in der europäischen Kulturgeschichte „lediglich bei offensichtlicher Schwäche oder Krankheit“ (18) der Mutter als zulässig.
In der Zusammenschau der Diskurse fällt zudem eine Heterodiskursivität in Bezug auf das Stillen auf. Das Kapitel zu jüdischen und christlichen Stilldiskursen etwa macht deutlich, wie das Stillen von religiösen Vorstellungen besetzt wird. Auch wird eine über die Zeiten hinweg greifende Politisierung des Stillens deutlich, wie das Kapitel zum Nationalsozialismus eindrücklich zeigt, in dem das Stillen als „rassische Pflicht“ (99) und das an der Mutterbrust gestillte Kind als „würdiges Kind für den Führer“ (100) diskursiviert wird.
Der Durchlauf der Geschichte weist schließlich auch auf Transformationen der Stilldiskurse von der Antike bis heute hin. Deutlich werden unterschiedliche Interpretationen des Zeitpunkts des ersten Stillens, der Dauer der Stillernährung oder auch der Regulierung des Stillens selbst. Im 19. Jahrhundert etwa werden eine „präzise Stillordnung und […] genau einzuhaltende Stillzeiten“ (76) bedeutsam, die den Diskurs bis weit in die 1950er bestimmen. Grundlegende Wandlungen des Stilldiskurses, die bis heute greifen, lassen sich dabei, wie in anderen Lebensbereichen, vor allem seit der Renaissance feststellen. Wie das Buch deutlich macht, wandelt sich neben den Inhalten insbesondere der Modus des Diskurses zum Stillen. Statt von außen an die Mütter herangetragene Gebote des Stillens, die im Mittelalter vorherrschend sind, werden nun Appelle virulent, die auf Vernunfteinsicht sowie Entscheidung basieren und die von einer Emotionalisierung wie auch Moralisierung des Stillens flankiert werden (44f). Ihre Analyse macht dabei deutlich, dass die in der Renaissance aufkommenden Vorstellungen vom Stillen sich in der Aufklärung mit der verstärkten Aufmerksamkeit, die Kinder gesellschaftlich erfahren, verstetigen und teils bis heute unsere Vorstellungen vom Stillen prägen. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang sicherlich die Moralisierung und Emotionalisierung des Stillens, an die etwa die Still-Kampagnen der supranationalen Organisationen WHO und UNICEF anknüpfen (136ff).
Sicherlich bleibt zu fragen, wie umfassend eine „kritische Kulturgeschichte des Stillens“ (11) bei einem Umfang von 174 Seiten inklusive Inhalts- und Literaturverzeichnis sein kann, zumal sich die Autorin bisweilen an Exkursen aufhält, deren Relevanz für die im Titel angekündigte erziehungstheoretische Auseinandersetzung nicht immer einleuchtet. Doch auch in der Kürze des Buchs gelingt es der Autorin in der Zusammenschau der unterschiedlichen Diskurse – und dies ist sicher der vorrangige Verdienst des Buchs – Kontinuitäten wie auch Transformationen des europäischen Diskurses um die frühestkindliche Ernährung herauszuarbeiten. Nicht zuletzt vor dessen Hintergrund mutet die in den verschiedenen Diskursen vielfach proklamierte Natürlichkeit des Stillens höchst seltsam an. Aufschlussreich ist dabei auch die gendertheoretische Perspektive, entlang derer die Autorin die verschiedenen Diskursstränge zusammenführt. Zwar rückt über diese der im Titel angekündigte Zusammenhang von Erziehung und Stillen etwas in den Hintergrund, allerdings kann Seichter hierüber verdeutlichen, dass die gesellschaftliche Formierung und Regulierung des Verhaltens von Frauen quer über die Zeiten hinweg an das Stillen gebunden wurde und wird. Offenkundig wird dies spätestens an der engen, geradezu unauflöslichen Verknüpfung des Stillens mit mütterlichen Erziehungs- und Sorgetätigkeiten, die sich bereits in der Antike feststellen lässt und die schließlich seit der Aufklärung an Relevanz gewinnt. Aus kindheitstheoretischer Perspektive ist zudem interessant, dass das Wohl des Kindes als bedeutendes Element des Stilldiskurses der Neuzeit avanciert, dies nicht zuletzt durch den in der Moderne bedeutsam werdenden medizinischen Diskurs, der die Auseinandersetzung um das Stillen, wie das Buch kenntlich macht, seit dem 19. Jahrhundert bestimmt. Dabei ist aufschlussreich, dass sich der Handlungsspielraum und so auch der Verantwortungsbereich des Kindes im Kontext der frühestkindlichen Ernährung gegenwärtig zu vergrößern scheinen. Deutlich wird dies u.a. in dem sich gewandelten Diskurs zur Stillpraxis, in dem seit den späten 1960ern das Bedürfnis und der Willen des Kindes zunehmend Bedeutung gewinnen (117ff).
EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)
Erziehung an der Mutterbrust
Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014
(174 S.; ISBN 978-3-7799-2985-7; 19,95 EUR)
Friederike Schmidt (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Friederike Schmidt: Rezension von: Seichter, Sabine: Erziehung an der Mutterbrust, Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992985.html
Friederike Schmidt: Rezension von: Seichter, Sabine: Erziehung an der Mutterbrust, Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992985.html