Der Band ist in der Schriftenreihe „Studien und Praxishilfen zum Jugendschutz“, die von Jörg M. Fegert und Ute Ziegenhain herausgegeben wird, erschienen. In ihrem gemeinsamen Vorwort charakterisieren sie das Buch als Sammlung praxisnaher Diskussionsbeiträge zum 13. Kinder- und Jugendbericht, an dem neben Ute Ziegenhain mit Hans G. Homfeldt auch einer der Herausgebenden des vorliegenden Bandes mitgewirkt hat. Diese Praxisnähe markiert zugleich den Anspruch der vorliegenden Veröffentlichung. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei auf multimodalen Unterstützungsnetzwerken, welche auf die Bearbeitung der komplexen Problemlagen von Kindern und Jugendlichen mit speziellem Versorgungsbedarf gerichtet sind. Gemeint sind damit insbesondere Kinder und Jugendliche mit gesundheitlichen Risiken, deren Bedarf an der Schnittstelle von sozialen Hilfen und Gesundheitssystem zu verorten ist. Inklusion, so der vorangestellte Appell der Reihenherausgebenden, dürfe nicht den Wegfall spezialisierter Förderung bedeuten, sondern müsse als personenzentrierte Vernetzung dieser Angebote im Rahmen einer „Großen Lösung“ ihre Umsetzung finden (6).
Einleitend stellen die Herausgebenden des Bandes – illustriert an einem Fallbeispiel – die Aufschichtung und Verstrickung unterschiedlicher Problemlagen sowie die Interdependenz von zu Verfügung stehender Ressourcen dar. Dass solchen Zusammenhängen in der Praxis unzureichend Rechnung getragen werde, führe dazu, dass Kinder und Jugendliche mit komplexen Bedarfen von „einzig einem speziellen Dienst“ (22) unterstützt werden, der damit häufig überfordert sei.
Ziegenhain präsentiert die Ergebnisse eines Modellprojekts zu Frühen Hilfen. Dort ermöglichten Runde Tische Vernetzung, Instrumente regelten verbindlich gemeinsame Standards, zwei Expertisen beleuchteten datenschutzrechtliche und ökonomische Unwägbarkeiten. Handlungsfeldspezifisch wurde ein bewusst berufsgruppenübergreifendes Weiterbildungsangebot etabliert.
Behringer und Dillitzer formulieren ausgehend von praktischen Erfahrungen in der interdisziplinären Frühförderung von Kindern, die behindert oder von Behinderung bedroht sind, Anforderungen und Kriterien für die Kooperation in diesem Handlungsfeld: die Annahme des gesetzlich festgeschriebenen Auftrags zur Kooperation, die Bereitstellung zeitlicher und finanzieller Ressourcen, Information und Kommunikation, Kontinuität der teilnehmenden Akteure, Gegenseitigkeit in gleichberechtigten Arbeitsbeziehungen und eine starke fachliche Basis (vgl. 69-72).
Der Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Teilhabeförderung widmet Thyen besondere Aufmerksamkeit, wenn sie die Versorgungssituation von Kindern- und Jugendlichen mit chronischen Gesundheitsstörungen aufarbeitet. Dabei steht insbesondere die Ermöglichung des Besuchs von Regelschulen im Fokus (vgl. 93-94).
Besondere Herausforderungen für die Kooperation ergeben sich dann, wenn unterschiedliche Dienste wiederum verschiedene Betroffene eines Falles adressieren. Dörr und Schrappe veranschaulichen dies am Beispiel der Kinder suchtkranker Eltern. Operierten Jugendhilfe und Psychiatrie traditionell jeweils entweder vom Kind oder vom Erwachsenen her, wird hier der Beitrag „abgestimmter Gesamtpläne und integrierter Handlungskonzepte“ (109) herausgearbeitet.
Beck leitet aus einer Evaluationsstudie konzeptionelle Folgerungen für therapeutische Wohngruppen für Kinder und Jugendliche ab. Insbesondere in der Ausbildung sieht er eine Notwendigkeit, damit das angestrebte therapeutische Milieu, die Partizipation der Betroffenen und die klinische Orientierung „keine Leerformeln bleiben“ (127).
Schmid, Schröder und Jenkel stellen ein teilstandardisiertes Instrument für die Hilfeplanung mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zur Diskussion. Es soll ermöglichen, Zieldefinitionsprozesse zu strukturieren, und dabei der „ausgesprochenen oder unausgesprochenen Rivalität mit typischen Konflikten zwischen Pädagogik und Psychotherapie“ (142) begegnen.
Mit der Handlungslogik von Asyl- und Aufenthaltsrecht sieht sich die Jugendhilfe bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen konfrontiert. Homfeldt und Schmitt arbeiten entlang dreier Beispiele von Kooperationsstrukturen die transnationale Unterstützung als Desiderat heraus. Diese sei nicht ausschließlich als „grenzüberschreitende“ Kooperation zu verstehen, sondern könne auch lokal oder national, immer aber nur „unter Berücksichtigung der transnationalen Biografien und Lebensweisen der Akteure entstehen.“ (176) Davon ausgehend könnten dann transnationale Kooperationen geknüpft werden.
Bezogen auf Schulabsentismus veranschaulicht Thimm, dass kooperationsfördernde Maßnahmen nicht nur auf Ebene unterschiedlicher Hilfesysteme (Schule, Jugendhilfe, Ordnungsbehörden etc.) zu entwickeln sind, sondern dass auch das Wesen und die Konkurrenz beteiligter Professionen es alles andere als voraussetzungsfrei erscheinen lassen, die „oft immanente Binnenlogik“ (193) zu überschreiten. Dabei komme, so Thimm, dem rekonstruktiven Fallverstehen eine Schlüsselrolle zu.
Fegert führt die Argumentation des Vorwortes weiter und plädiert, um Inklusion bei (drohender) Behinderung zu verwirklichen, für die so genannte „Große Lösung“. Angesprochen ist damit „die Gesamtzuständigkeit des Jugendamtes für alle Kinder und Jugendlichen“ (206), auch für jene, die von Behinderung betroffen oder bedroht sind, anstatt deren Eingliederungshilfe an die Zuständigkeit der Sozialhilfe zu delegieren. Dass eine Verwaltungsreform eine notwendige aber noch nicht hinreichende Voraussetzung für die Realisierung von Komplexleistungen, also für leistungserbringerübergreifende Hilfearrangements, darstellt (vgl. 212), wird anhand des Landes Baden-Württemberg nach der Auflösung des überörtlichen Trägers (Landeswohlfahrtsverbände) veranschaulicht.
Fehrenbacher und Bopp bringen die Perspektive eines Wohlfahrtsverbandes – hier: des Deutschen Caritasverbandes – ein. Für diesen bestehe die Herausforderung bei der Verwirklichung „echter“ Teilhabe nun darin, „alle Einrichtungen und Dienste so zu gestalten, dass sie in der Lage sind, (…) Förderung, Bildung, Erziehung und soziale Entwicklung (…) wohnortnah zu garantieren“ (231).
Wiesner zeigt aus juristischer Perspektive, dass die Aufmerksamkeit nicht nur der Vermittlung der Logiken unterschiedlicher Leistungssysteme zu widmen ist. Er zeigt auch bestehende Kooperationsspielräume auf und verdeutlicht, dass diese „nur zum Teil umgesetzt werden“ (243). Zur Überwindung bestehender Barrieren baut er auf eine „neue Architektur der Leistungssysteme“ (244) im Zuge der „Großen Lösung“.
Die Beiträge sind sehr konkret und praxisnah konzipiert. Sie repräsentieren in ihrer Gesamtheit eine breite Vielfalt an Handlungsfeldern und kooperationsförderlichen Ansätzen. Im ersten von zwei zusammenfassenden Schlussbeiträgen verbinden die Herausgebenden gemeinsam mit Jörg M. Fegert nun die unterschiedlichen Stränge. Sie arbeiten die Notwendigkeit multiperspektivischer Diagnostik, die Qualifizierung interprofessioneller Teams und die Verflechtung unterschiedlicher Angebote zu kohärenten Komplexleistungen als gemeinsame Kernanliegen der versammelten Beiträge heraus. Um dies zu erreichen, sei in den unterschiedlichen Ausbildungsgängen auf eine Integration von Inhalten aus „den jeweils anderen beteiligten Systemen“ (260) zu setzen. Dass dabei der Sozialen Arbeit als „Hüterin interprofessionellen Wissens“ (261) eine vermittelnde Schlüsselrolle zugedacht wird, ist angesichts des bereits von Schütze konstatierten Ausbleibens eines dominierenden und eindeutig abgegrenzten Paradigmas schlüssig. Ob es allerdings zur „Kompensation defizitärer sozialstruktureller Situationsfaktoren im Alltag (…), ohne jedoch (…) die individuelle oder klinische Perspektive aus den Augen zu verlieren“ (261), ausdrücklich einer „Klinischen“ Sozialarbeit bedarf, kann durchaus diskutiert werden. Denn diese Schnittstelle ist doch spätestens seit der realistischen Wende der 1960er Jahre, die durch eine Integration psychologischer und sozialwissenschaftlicher Gegenstände gekennzeichnet ist, auch für die allgemeine Erziehungswissenschaft zwingend [1] und seit jeher für die Soziale Arbeit im Ganzen konstitutiv [2]. Ferner werden im Querschnitt die interdisziplinäre Forschung, eine strukturelle Verankerung von Kooperationen und die Etablierung gemeinsamer Finanzierungsmodelle als konsensuelle Lösungsansätze ausgemacht.
Im zweiten Schlussbeitrag zeigen die beiden Herausgebenden weiterführende Perspektiven auf. Die Forderung nach Respekt vor subjektiven Bewältigungsstrategien, Partizipation, Inklusion und Selbstbestimmung werden zurückgeführt auf die ihnen gemeinsame Orientierung an der Adressatin oder dem Adressaten als kompetentem Akteur und nicht als Klient/in, der/die ausschließlich dem Handeln der Professionellen ausgeliefert wäre. Die Anerkennung der Agency, also der Handlungsmächtigkeit der Betroffenen, sollte den unterstützenden Instanzen gemeinsam sein und mittels biographieanalytischer Verfahren aufgeklärt werden. Die biographische Perspektive wird fortgeführt, wenn die epidemiologische Relevanz „ungünstiger Gesundheitsfaktoren in Kindheit und Jugendalter für das Erwachsenenalter“ (278) aufgezeigt wird. Vor diesem Hintergrund seien soziale Dienste aufgerufen, Widerstandsressourcen und insbesondere die biografische Handlungsfähigkeit zu fördern. Nicht verschwiegen wird die Abhängigkeit von bereitgestellten Ressourcen; daher seien zur Zielerreichung Barrieren unterschiedlicher Zuordnungslogiken und Leistungssysteme abzubauen.
Silke B. Gahleitner und Hans G. Homfeldt ist mit dem vorliegenden Band eine Zusammenstellung vielseitiger und praxisnaher Beiträge gelungen, die durch die beiden zusammenfassenden Schlussbeiträge kohärent verbunden, handlungsfeldübergreifend ausgewertet und zur Entwicklung weiterführender, akteursorientierter Perspektiven genutzt werden. In dieser Form ist der Band nicht nur für die Forschung und Lehre in der Erziehungswissenschaft, der Sozialen Arbeit oder anderen benachbarten Disziplinen eine Bereicherung. Er sei gerade auch Praktikerinnen und Praktikern empfohlen, die aus der präsentierten Vielfalt gelungener Beispiele Konsequenzen für ihre Arbeit ziehen können. Etwas vermisst wird allerdings ein Beitrag, in dem die Potentiale des Case Managements für die Kooperation sozialer Dienste explizit herausgearbeitet werden. Des Weiteren wird durch die mehrfach konstatierten Kooperationshemmnisse auf der konkreten Ebene professionellen Handelns die Notwendigkeit einer theoretischen Aufarbeitung professionspolitischer Dynamiken oder einer Auseinandersetzung mit alternativen Modellen, so z.B. mit dem Modell einer „relationalen Professionalität“ [3], deutlich. Dies sei aber weniger als Kritik denn als weiterführender Aspekt zu verstehen, auf welchen die Beiträge über das gesteckte Ziel hinaus verweisen. Der vorliegende Band ist in seiner praxisorientierten Konzeption konsequent und stimmig umgesetzt. Den Herausgebenden geht es darum, „die Notwendigkeit, vor allem jedoch Lösungswege zur Kooperation der sozialen Dienste in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung“ (22) zu stellen; dazu leistet der Band einen gewinnbringenden Beitrag.
[1]Brezinka, Wolfgang (1972): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Eine Einführung in die Metatheorie der Erziehung. Weinheim, Basel: Beltz. S. 37-38.
[2] Richmond, Mary (1917): Social Diagnosis. New York: Russell Sage Foundation. S. 50.
[3] Köngeter, Stefan (2009): Relationale Professionalität. Eine empirische Studie zu Arbeitsbeziehungen mit Eltern in den Erziehungshilfen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)
Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf
Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste
Weinheim und Basel: Beltz-Juventa 2012
(290 S.; ISBN 978-3-7799-2263-6; 24,95 EUR)
Heiko Hoffmann (Ravensburg-Weingarten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heiko Hoffmann: Rezension von: Gahleitner, Sike B. / Homfeldt, Hans G. (Hg.): Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf, Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste. Weinheim und Basel: Beltz-Juventa 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992263.html
Heiko Hoffmann: Rezension von: Gahleitner, Sike B. / Homfeldt, Hans G. (Hg.): Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf, Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste. Weinheim und Basel: Beltz-Juventa 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992263.html