
Die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen aus Deutschfreiburg, so die vorletzte Grundlage (Modell 1998), welche zu ihrer Selektionsgerechtigkeit wissenschaftlich evaluiert und 2009 über den CORECHED-Preis zugleich prämiert wurde, sowie die neueste und erweiterte Selektionsgrundlage (Modell 2011), werden unter die Lupe genommen. Das Modell 2011, so die Intention der Entwickler_innen, erweitert bisherige Versuche des Kantons, die Selektion gerechter (durch Mäßigung sozialer Herkunftseffekte) zu gestalten. Mit der Berücksichtigung von Notenentwicklungen der Kinder, Empfehlungen der Lehrpersonen, Empfehlungen der Eltern, sowie dem Einsatz einer Vergleichsprüfung sollen die sozialen Aufstiegschancen für alle Kinder garantiert sein.
Es gelingt Hofstetter, den Forschungsstand um das Phänomen der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen sowohl auf der Basis internationaler wie auch historisch-gesellschaftlicher Entwicklungen (seit Durkheim 1911) aus verschiedenen theoretischen Perspektiven kritisch zu diskutieren. Der Autor fokussiert insbesondere die theoretische und methodische Perspektive von Bourdieu/Passeron (1971) sowie jene Cicourels und Kitsuses (1974), die er als Interpretationsfolien für seine qualitativ erhobenen Daten einsetzt. Quantitativ empirische Erkenntnisse zur Bildungsungleichheit werden zwar eingeführt, aber doch eher kurz diskutiert.
Mit einer ethnographischen Forschungsstrategie hat der Autor während einer bewundernswert langen, nämlich dreijährigen Feldforschung (vom Ende der 4. Klasse zum Ende des Semesters der 7.Klasse nach dem Übergang in die Sek I) die Erfahrungswirklichkeiten und die Ko-Konstruktion des Alltagswissens um die schulische Selektion der beteiligten Akteur_innen erfasst, indem sich die Analyse hauptsächlich auf Interaktionsprozesse in Gesprächen fokussiert und diese in der Tradition der Ethnographie dicht beschreibt.
Die analysierte Datenbasis fußt hauptsächlich auf aufgezeichneten und danach transkribierten Gesprächen. Dagegen werden leider kaum Daten aus den langjährigen teilnehmenden Beobachtungen innerhalb und ausserhalb des Unterrichts (im Sinne von analysierten Protokollen) in diesem Forschungsfeld berücksichtigt. Hofstetter entwickelt ein äußerst ausgefeiltes Design, um schulisch relevante Kommunikationsräume der Selektion zu identifizieren. So nimmt der Forscher sowohl an allen obligatorischen Gesprächen der 5. und 6. Klassen zwischen Lehrpersonen und den Eltern der Kinder teil als auch an deren Vor- und Nachbereitungen durch die Lehrpersonen. Beim konkreten Übergang in ein Schulniveau der Sek I vermag er zugleich den Gesprächen zwischen Primarlehrpersonen und Direktor_innen der Sekundarschulen (zur Gestaltung der Durchführung der Vergleichsprüfung) beizuwohnen, womit er Zeuge des Verfahrens der Zuteilung der sogenannten unklaren Fälle (auch nach der Vergleichsprüfung) auf die unterschiedlichen Schultypen wird.
Hofstetter nimmt im Rahmen seiner Feldforschung einerseits eine formale Kontrastierung der zwei Übertrittsmodelle (1998 und 2011) vor, andererseits kann er belegen, dass je nach Selektionsmodell andere Kinder zu ‚klaren oder unklaren’ Selektionsfällen deklariert werden. Die Selektion und der damit verknüpfte Bildungs(miss)erfolg bleiben in diesem Sinne einem gewissen Zufallsprinzip überlassen. Wie bereits Kronig für die Schweiz belegen konnte, sind Selektion und Leistungsbewertungen in der Schule von kuriosen Zufällen, die Bildungs(un)-gleichheit und Chancengerechtigkeit modellieren, betroffen [1].
Die dreijährige Feldforschung von Hofstetter beginnt am Ende der 4. Klasse und endet nach dem ersten Semester der 7. Klasse, also nach dem Übergang in die Sek I Allerdings ist hier hervorzuheben, dass der Autor bereits vor seinem Feldeintritt über Datenmaterial zu den jeweiligen Kindern verfügt, so die Notenzeugnisse aus der 3. Klasse. Der Forscher kann mit seinen Daten deutlich aufzeigen, dass die Entwicklung der Hauptfachnoten bereits ab der 3. Klasse eine tatkräftige Vorselektion darstellen. Die Hierarchisierung der Kinder (bereits lange vor dem Einsatz des Selektionsverfahrens) nach Noten entspricht in hohem Maße der späteren Zuteilung in der gegliederten s.o. Auch der unterschiedliche sozioökonomische Hintergrund der Kinder (Klasse K hauptsächlich Akademiker _Innen-Eltern und Klasse W hauptsächlich Berufe des untersten und mittleren Wirtschaftssektors) spielt bei der Zuteilung der Kinder in die unterschiedlichen Typen der Sek I eine gewichtige Rolle. Die Schultypen mit den erweiterten Ansprüchen (sogenannte A-Plätze) werden hauptsächlich von den sozial besser situierten Kindern belegt (Bourdieu und die Soziodizee lassen grüßen).
Auf die Gespräche mit den Eltern am Ende der 5. Klasse bereiten sich die Lehrpersonen im Lichte der Zeugnisse der 4. Klassen sowie anhand kollektiv konstruierter Bilder bezüglich der elterlichen Bildungsaspirationen (auch abgeleitet vom antizipierten elterlichen Berufsstatus) vor. Im Rahmen dieser Gespräche lässt sich dann eine gewisse Anspannung auf der Seite der Lehrpersonen feststellen, wenn sie die Bildungsaspirationen der Eltern nicht vor dem Gespräch kennen. Bei der Durchführung der Gespräche lassen sich unterschiedliche Kommunikationsmuster zwischen den Akteur_innen aufzeichnen. Aus den Daten wird klar ersichtlich, dass Eltern über unterschiedliche soziokulturelle und sprachliche Fähigkeiten verfügen, um die schulische Zukunft ihrer Kinder mit den Lehrpersonen auszuhandeln. Akademikereltern sind viel eher bereit, sich gegen ungünstige Bewertungen ihres Kindes einzusetzen. Machtkonstellationen zwischen Eltern und Lehrpersonen werden bei diesen Gesprächen und je nach ‚Fall‘ unterschiedlich sozial modelliert. Häufig sind diskriminierende Äußerungen über Eltern und Kinder in den Transkripten vorzufinden.
Der zweifelhafte Vorteil der Verfahren (Modelle 1998 und 2011) scheint darin zu liegen, dass sie offene Fälle produzieren, die je nach Bedarf dem einen oder anderen hierarchisch gegliederten Typus der Sek I zugewiesen werden können. Die Analyse der Daten deutet darauf hin, dass bei der Zuweisung der unklaren Fälle die Argumentation der Direktor_innen der Sekundarschulen von deren organisatorischen Bedürfnissen beeinflusst wird. Bei der Bewertung der Vergleichsprüfungen anlässlich der Schwellensitzung scheinen die Direktor_innen der abnehmenden Schulen ihre Einflussmöglichkeiten so einzusetzen, dass die Ergebnisse möglichst ihren organisatorischen Interessen dienen. Wenn doch die Verletzung des meritokratischen Prinzips durch Leistungsbewertungen (Kronig 2012 [2]) sowie das Phänomen der Institutionellen Diskriminierung im Kontext schulischer Selektion (Gomolla und Radtke 2002 [3]) bereits empirisch belegt worden sind, verweist diese Arbeit ein weiteres Mal darauf, dass nicht die Selektionsmodelle, sondern die bildungspolitische Tradition der Dreigliedrigkeit – mit klaren Quotierungen des Zustroms von Schüler_innen in die unterschiedlichen Leistungstypen der Sek I – die Selektion vordefiniert. Die tatsächlichen Quoten für das Gymnasium, die Sekundar- und Realschule bleiben über die Zeit bedenklich stabil. Die Zuweisung und das ‚Decision making’ wird dadurch vorprogrammiert. Die Lehrpersonen müssen dabei, so zeigt Hofstetter auf, in vorgegeben Selektionslogiken und -erwartungen des Schulsystems operieren.
Dahingehend kann man dem Verfasser zustimmen, wenn er festhält: „So sehr man in ein gutes Verfahren investiert hat, so sehr die Eltern der betroffenen Kinder das Verfahren als gerecht beurteilen mögen, so sehr läuft man Gefahr, den irrigen Eindruck zu erwecken, dass dem Problem der sozialen Reproduktion durch die Schule mit einem ‚guten Verfahren‘, das heisst mit einem transparenten Selektionsinstrument, entschieden entgegengewirkt werden könne“ (288). Die vermeintlich geltende meritokratische Logik, nach welcher die Zuweisung in die spezifische Abteilung der Sek I von den Leistungen der Schüler_innen abhängig gemacht werden soll, wird somit mehrfach verletzt. Im Feld scheint das Verfahren dazu beizutragen, dass kaum über diese Diskrepanzen gesprochen wird und somit eine zweifelhafte Selektionslogik legitimiert wird, was ein wichtiges Ergebnis der Studie darstellt.
Die Einblicke in die Entscheidungspraktiken der Schulen belegen, dass Lehrpersonen das Zustandekommen von Bildungsentscheidungen in jenen Momenten hinterfragen, wo sie mit einem Kind ein Bildungsprojekt verfolgt haben, das gescheitert ist. In diesen Situationen stellen sie ihre eigene Arbeit infrage, machen dann aber schließlich das Kind für das Ergebnis verantwortlich.
Soziodizee steht somit über Allem und damit auch die Gültigkeit der Stammtischaussage ‚Jeder sei seines Glückes Schmied‘ in der Schule. Über die Konstruktion eines ‚gerechten’ Übertritts durch rechtliche Vorgaben und seiner kaum hinterfragten Umsetzung durch Lehrpersonen werden Bildungskarrieren von Kindern legalisiert und legitimiert.
Anmerkung:
[1] Kronig, W.: Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen. Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik 32. Bern / Stuttgart / Wien: Haupt Verlag 2007.
[2] Kronig, W.: Über das Eigenleben von Leistungsbewertungen. In S. Fürstenau und M. Gomolla (Hrsg.) Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung. Wiesbaden: VS Verlag 2012, 51-64.
[3] Gomolla, M. / Radtke, F.-O.: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2002.