In Öffentlichkeit wie auch schulpädagogischer Forschung wird spätestens seit Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA 2000 angesichts unterschiedlicher Probleme im deutschen Bildungssystem häufig eine Öffnung der Schule für die außerschulische Lebenswelt gefordert: Projektorientierter Unterricht sowie die Arbeit mit Beispielen aus der alltäglichen außerschulischen Welt sollen Kinder und Jugendliche ansprechen und das Lernen in der Schule erleichtern.
Im vorliegenden Sammelband – Ergebnis der Sektionstagung „Bildung und Erziehung“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2008 – greift das Herausgeberpaar, Anna Brake und Helmut Bremer, diese Idee auf. Die beiden möchten jedoch mit ihrem Buch an die seit den 1970er Jahren geführte Diskussion um die deutsche Schulforschung anschließen, in der auf soziokulturelle Schranken zwischen Schule und Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler hingewiesen und eine sozialwissenschaftliche Öffnung der Forschung gefordert wird. Obwohl sich seitdem die Einsicht durchgesetzt habe, dass sich außerschulisches Leben auch in der Schule bemerkbar mache, orientiere sich die pädagogische Schulforschung immer noch an einer Grenzziehung zwischen den Bereichen, da es eher um eine „alltagsweltliche Anreicherung des Unterrichts gehe“ (14).
Brake und Bremer wollen einen entscheidenden Schritt weitergehen und auf Schule als Alltagswelt blicken. In den versammelten Aufsätzen wird Schule aus eben dieser Perspektive betrachtet; die Autoren möchten Schule als einen „zentrale[n] Ort des Alltags im Leben von Kindern und Jugendlichen“ ausleuchten, „der weit mehr und anderes beinhaltet als das, was gemeinhin als Unterrichtsgeschehen gilt“ (7). Durch Hinzunahme machttheoretischer Überlegungen Bourdieus eröffne sich eine ungleichheitstheoretische Perspektive auf die Alltagswelt Schule. An den Routinen der schulischen Handelnden interessiere dann, „wie sie an den sozialen Konstruktionsprozessen der alltäglichen Hervorbringung und Bestätigung von Kräfteverhältnissen beteiligt sind“ (17).
Schulleistungsvergleichsstudien seit Mitte der 1990er hätten spezifische Forschungslücken hinterlassen, indem sie primär den Einfluss schulischer Strukturen und Umfeldfaktoren auf Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung untersucht hätten. Weitestgehend unklar geblieben sei dabei, wie Schule von den Akteuren „erlebt, verarbeitet und mit Sinn ausgestattet“ werde (25). Brake und Bremer schreiben ethnografischer Forschung beim Schließen dieser Lücke eine wichtige Rolle zu. Sie geben gleichwohl zu bedenken, dass hier „Wirkungsweise[n] struktureller Zwänge und Herrschaftsmechanismen“ wenig beleuchtet würden, und sehen die ethnografische Schulforschung mit der „‚Struktur-Handlungs-Problematik’ der Sozialwissenschaft“ konfrontiert (25).
Brake und Bremer fordern entsprechend eine systematische Verknüpfung außerschulischer Kindheits- und Jugendforschung mit Fragen der Schulforschung, um so Wechselwirkungen zwischen jugendlicher Alltagskultur und institutioneller Kultur in den Blick zu nehmen. Dass das Zusammentreffen der beiden Forschungslogiken nicht konfliktfrei ist, zeigen die unterschiedlichen Aufsätze.
Den gesammelten Beiträgen vorangestellt ist ein theoriegeleiteter Aufsatz von Peter Büchner über „Kindliche Bildungsarmut und die relationale Logik des Bildungsgeschehens“. Der Autor fokussiert den aus bildungssoziologischer Sicht zentralen Aspekt sozialer Ungleichheit: In Abgrenzung zu einer statusherstellenden Bildungspolitik geht es um „Perspektiven für eine habitusherstellende“ mit dem Ziel, Reproduktion von Bildungsarmut an verschiedenen Orten zu bekämpfen (33). Gelegenheitsstrukturen und Entwicklungsressourcen müssten geschaffen werden, um Kindern aus bildungsferneren Familien die Aneignung von sozialem und kulturellem Kapital zu ermöglichen. Büchner plädiert für eine Betrachtung gesellschaftlicher Herstellung von Bildungsarmut aus einer lebensweltlich-biografischen Sicht. So könne die Entwicklung von Bildungsarmut auf der Mikroebene nachvollzogen werden.
Hannelore Faulstich-Wieland diskutiert die „Schule als gemeinsame Alltagswelt für Mädchen und Jungen“ und die These der getrennten Welten zweier Geschlechter. Anhand ethnografisch erhobenen Datenmaterials aus einer Studie zur Geschlechtergerechtigkeit will sie zeigen, wie Lehrende durch „Dramatisierungen“ von Geschlecht Einfluss auf das Miteinander von SchülerInnen nehmen [1]. Beispielhaft genannt sei hier die Hervorhebung vermeintlicher Unnatürlichkeit geschlechtergrenzenübergreifender Interaktion durch die Lehrperson. Unter anderem werde diese inszeniert, wenn die Lehrerin innerhalb des Unterrichts Arbeitspaare auslose und dabei ohne vorherige Anfrage der Kinder das Tauschen anbiete, wenn ein Junge und ein Mädchen nicht zusammenarbeiten wollen würden.
Unter der Überschrift „Schulische Übergänge und Peerbeziehungen“ betonen Sven Brademann und Werner Helsper, dass neben den Institutionen Familie und Schule auch die Gleichaltrigen für den Übergang von SchülerInnen in die Sekundarstufe I von Bedeutung sind. Die Autoren folgen einem handlungstheoretischen und praxeologischen Ansatz und analysieren angeeignete implizite und handlungsleitende Wissensbestände als Kontexte von Bildungsentscheidungen. Das Besondere der Studie liegt in der systematischen Verbindung bislang eher getrennter Richtungen: der Schülerbiografieforschung und der Schullaufbahnforschung. Durch die Analyse narrativer Interviews mit Schülerinnen und Schülern gelingt es Brademann und Helsper sechs Muster der Peer-Bedeutung für den Übergang herauszuarbeiten, darunter beispielsweise die Bewältigung problematischer Peerbeziehungen der Grundschule oder die Fortsetzung harmonischer Peerbeziehungen als Chance des Übergangs.
Ebenfalls den Peers widmen sich Hedda Bennewitz und Michael Meier: Mittels ethnografischer Methoden loten sie das „Verhältnis von Jugend und Schule“ aus. Die beiden zeigen anschaulich, wie jugendliche Schülerinnen und Schüler die Unterrichtsordnung peerkulturell strukturieren, indem sie soziale Orte herstellen und dort Beziehungen zu den anderen Lernenden gestalten, sich von ihnen abgrenzen oder sich als Teil der Gruppe inszenieren. Zusammenfassend charakterisieren sie das Verhältnis von Peerkultur und Schule wie folgt: „Jede Schule ist ein Ort der Peerkultur“ (109).
Nikola Leufer und Michael Sertl problematisieren im Zusammenhang verstärkter Anwendungsorientierung im Unterricht den „Kontextwechsel in realitätsbezogenen Mathematikaufgaben“. Damit ist gemeint, dass von den Lernenden sowohl der außermathematische Kontext, als auch die darin enthaltene mathematische Aufgabe erkannt werden muss. Gestützt auf Basil Bernsteins theoretische Überlegungen von 1977 zu pädagogischen Codes, Klassifikation und Rahmung wird anhand eigens erhobener empirischer Daten deutlich, inwiefern dieser Aufgabentyp für Kinder aus bildungsferneren Milieus eine erhöhte Anforderung darstellt, weil die zu entschlüsselnden Kontexte nicht mit ihren Lebenswelten korrespondieren bzw. das Erkennen des Kontextwechsels von außerschulisch erworbenen Ressourcen abhängt.
In ähnlicher Weise thematisieren Anke Dorn, Roberto Priore und Jochen Wissinger die drastische Distanzierung von institutioneller Bildung durch „Schulaversive[s] Verhalten“. Anhand von Interviews mit Schülerinnen und Schülern zeigen die beiden unterschiedliche Umgangsformen mit Schule sowie mit besonderen schulischen Settings (z.B. der Einbindung von Sozialpädagogen für Lernschwache parallel zum regulären Angebot) auf. Solche Settings interpretieren sie kritisch als ambivalent, da sie die Jugendlichen zwar fördern, dies jedoch zum Preis verschärfter schulischer Exklusion.
Rahel Jüngers Beitrag „Schule aus der Sicht von Kindern“ setzt sich mit der Einbeziehung von Bedeutungszuschreibungen von Kindern in Inklusionsstrategien auseinander. Auf der Basis von Gruppendiskussionen mit Zürcher Kindern, die aufgrund ihrer Herkunft und ihren Ressourcen unterschiedliche Voraussetzungen mit in die Schule bringen würden, unternimmt die Autorin einen Extremgruppenvergleich. Die beiden Interviewgruppen ergaben sich aus den ‚privilegiertesten’ und ‚am wenigsten privilegierten’ Gemeinden des Kantons, welche die Autorin nach den bourdieuschen Kapitalien sowie den Kriterien Stadtnähe und Ausländeranteil auswählte. Sie weist anschaulich nach, dass die Kinder verschiedene Strategien im Umgang mit ihrer Schule entwickeln: So sei die Haltung der Mitglieder der nichtprivilegierten Gruppen gegenüber der Schule von Ergebenheit und Unterwerfung gekennzeichnet, während die Mitglieder der privilegierten Gruppe einen durch Kenntnis der Regeln geprägten Umgang mit Schule aufwiesen.
Andrea Lange-Vester und Miriam Redlich betrachten die Alltagswelt Schule aus einer ähnlich ungleichheitstheoretischen Perspektive: Mittels Gruppenwerkstätten – einer an Gruppendiskussionen angelehnten und um kreative Elemente erweiterten Methode – untersuchen sie, wie Schülerinnen und Schüler an Hauptschulen bzw. Gymnasien ihren Schulalltag erleben. Die Autorinnen haben in ihrer Studie habitus- und milieuspezifische Haltungen herausarbeiten können. Dabei bildeten die Hauptschülerinnen und -schüler eine homogenere Gruppe. Für sie sei Schule ein Ort der Vergemeinschaftung, weniger des zielgerichteten Lernens, während bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten unterschiedliche Habitusmuster und Bildungsstrategien erkennbar seien. Es werde deutlich, dass die Bildungsaspiration der Schülerschaft in ihrem Gelingen auch davon abhängig ist, inwiefern sich die Schule auf die Schülerinnen und Schüler einstellen würde.
Im letzten Aufsatz erweitern Dieter Isler und Sibylle Künzli den Blick auf Schule um den Bereich der Vorschule: In der Schweiz sind Kindergärten seit einigen Jahren Bestandteil der Volksschule. Anhand der Ethnografie eines dortigen Kindergartenalltags zeigen sie, wie eine Kindergartenlehrerin Kinder unterschiedlicher Herkunft beim Erwerb eines schulkulturellen Habitus unterstützt, indem sie durch sprachliche, körperlich-ausführende und symbolische Praktiken an schulische Lernformen heranführt. Die Autoren plädieren dafür, den Kindergarten als Institution so zu gestalten, dass alle Kinder jenes schulkulturelle Kapital erwerben könnten, das ihnen einen erfolgreichen Bildungsverlauf ermöglicht.
Zusammenfassend: Dieser Band versammelt spannende Aufsätze, die den Gewinn einer Verschränkung von Schul-, Kindheits- und Jugendforschung deutlich machen. Durch die Relativierung der Grenzziehung zwischen Schule und außerschulischer Alltagswelt können Bildungsstrategien jugendlicher SchülerInnen in ihren unterschiedlichen Facetten und an diversen sozialen Orten analysiert werden.
Die Betrachtung von Schule als Alltagswelt öffnet den Blick für vielfältige soziale Herstellungsprozesse schulischer Wirklichkeit und macht den Band empfehlenswert nicht nur für bereits (ethnografisch) in der Schule und an anderen Bildungsorten Forschende, sondern ermöglicht auch Studierenden einen wertvollen Einblick in die Institution Schule. Inwieweit praxisorientierte Hoffnungen für Schulalltag und Bildungspolitik, die von den AutorInnen im Anschluss an ihre Studien jeweils aufgeworfen werden, in Erfüllung gehen, bleibt freilich abzuwarten.
[1] Vgl. Goffman, Erving (1994): Das Arrangement der Geschlechter. In: Ders.: Interaktion und Geschlecht. Frankfurt am Main: Campus, S. 105-158.
EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)
Alltagswelt Schule
Die soziale Herstellung schulischer Wirklichkeiten
Weinheim / MĂĽnchen: Juventa 2010
(232 S.; ISBN 978-3-7799-1586-7; 23,00 EUR)
Catharina Keßler (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Catharina KeĂźler: Rezension von: Brake, Anna / Bremer, Helmut (Hg.): Alltagswelt Schule, Die soziale Herstellung schulischer Wirklichkeiten. Weinheim / MĂĽnchen: Juventa 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991586.html
Catharina KeĂźler: Rezension von: Brake, Anna / Bremer, Helmut (Hg.): Alltagswelt Schule, Die soziale Herstellung schulischer Wirklichkeiten. Weinheim / MĂĽnchen: Juventa 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991586.html