Nun unternimmt Heinz Hengst den Versuch, sein Verständnis von Kindheit als „differenzieller Zeitgenossenschaft“ zu entfalten, welches er dem dichotomen Konzept der generationalen Ordnung gegenüberstellt. Dieses hat lange Zeit in der Kindheitsforschung einen sehr prominenten Stellenwert eingenommen – vertreten insbesondere durch Leena Alanen und Michael-Sebastian Honig. Darum soll es zwar nach wie vor gehen, aber: „Die Aufmerksamkeit“ gelte Aspekten der Subjektformation und der Erfahrungskonstitution in zeitgenössischen Gesellschaften und – das scheint Hengst wichtig zu sein: „es wird unterstellt, dass darüber – auch mit Bezug auf Kinder – mehr in Erfahrung zu bringen ist, wenn man sich nicht nur und nicht primär auf Generationales konzentriert“ (11). Es gebe Erfahrungen, die Kinder machen, die nicht generational gefiltert seien. Diese Annahme sei grundsätzlich relevant, bedürfe jedoch der Überprüfung, vor allem weil heutige Kindheitskontexte über Konsum und Medien in hohem Maße zur Gesamtgesellschaft hin offen seien. „Wer verstehen will, was an den Erfahrungen von Kindern kindheitskonstituierend ist – so die Grundthese des Buches –, muss dafür offen sein, dass es Kindheitserfahrungen gibt, die nicht kindheitskonstituierend sind. Ein Konzept, mit dem diese Forderung eingelöst werden kann, ist „differenzielle Zeitgenossenschaft“. Es ist ein Konzept, das auf der Basis gemeinsamer Zeitgenossenschaft nach generationalen Differenzen, Ungleichheiten, Kontrollformen, Machtverhältnissen, Kindheitskontexten und Kindheitserfahrungen fragt“ (ebd.).
Es geht Hengst um die Vorstellung einer „polyphonen Organisierung von Zeitgenossenschaft“, ein Ansatz, der die Möglichkeit beinhaltet, die gegenwärtigen Tendenzen der Veränderung kollektiver Zugehörigkeiten und Erfahrungen adäquater (weil vorurteilsloser) bestimmen zu können als mit dem Generationenansatz. Heinz Hengst bringt dies – wie er selbst sagt – auf zwei simple Thesen:
- Eine differenzierende Diskussion des Akteur-Status, der agency von Kindern in Gegenwartsgesellschaften sei nur möglich, wenn man ihre Erfahrungen mit Markt und Medien nicht unterschlägt oder marginalisiert. Hier wird ein roter Faden von Hengsts Forschungs- und Denklinie sichtbar, nämlich Kinderkultur im Zusammenhang mit Markt und Medien zu betrachten und die Erfahrungen, die Kinder in diesen Feldern machen, in den Blick zu nehmen und – in seinem neuen Begriffsapparat – als subjektformierende Größen zu thematisieren.
- Das kritische Potential der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung wurde in hohem Maße von Entwicklungen in der Konsumsphäre antizipiert und präfiguriert (15f).
Im zweiten Kapitel wird „Konsum als Erfahrungs- und Möglichkeitsraum“ beschrieben. Der Autor konstatiert, dass sich „die Kindheitsforschung (…) mit der Konsumthematik schwer“ tue (40). Und die Forscher, die sich mit Kinderkonsum beschäftigen, griffen nur ausnahmsweise und sehr zögerlich die Problemstellungen der Kindheitssoziologie auf. Vieles spreche dafür, so Hengst, dass die Vernachlässigung der Konsumthematik in hohem Maße kulturkritisch motiviert sei, und zwar im Sinne einer traditionellen Kulturkritik, deren Basisannahme die Opposition von Kultur und Konsum sei. Um Konsum als Erfahrungsraum zu beschreiben, skizziert Hengst neuere kultur- und konsumsoziologische Arbeiten. Diese stimmen darin überein, Konsum als Integrationsmedium der Gesamtgesellschaft zu diskutieren bzw. als zentralen Faktor moderner Vergesellschaftung. Hengst beschreibt darauf hin Kinder als Konsumenten und die Konsumkindheit (53).
Im dritten Kapitel führt Hengst die Raumdimension menschlichen Lebens als Thema soziologischer Betrachtung ein. Hier kommt jetzt auch der „spatial turn“ in den Human- und Sozialwissenschaften zu den anderen „turns“ hinzu (practical, cultural, linguistic, body) – insofern erfüllt Hengst seinen Anspruch, zeitdiagnostisch und theoretisch auf der Höhe der Zeit zu sein. Der Autor spricht sich auch für die Kindheitsforschung für einen solchen „spatial turn“ aus, in dem Sinne, dass eine Öffnung, Erweiterung und eine Pluralisierung der Dimensionen notwendig sei. Der Kontext, auf den sich seine Überlegungen zu den Raumerfahrungen von Zeitgenossen richten, sei eine hochgradig mediatisierte und globalisierte Gesellschaft. Alle Zeitgenossen müssten sich mit komplexen Sozialräumen arrangieren.
Ein zentrales Kapitel ist das vierte, das sich mit der kommerziellen Kinderkultur bzw. der Populärkultur beschäftigt mit dem Ziel „die Diskussion über die expandierte kommerzielle Kinderkultur, die in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik eröffnet wurde, wieder aufzunehmen und gegenwarts- und zukunftstauglich zu wenden“ (99). Hier führt Hengst den Begriff der Populärkultur ein (100), die „seit langem den Platz eingenommen (hat), der traditionell unter der Überschrift Kinderkultur gehandelt, bzw. als kommerzielle Kinderkultur oder Kindermassenkultur diskutiert wurde.“ Hengst betont, wie wichtig es sei, der Gesamtheit der Elemente Aufmerksamkeit zu schenken, die in die Erfahrungen der Zeitgenossen hineinspielen. Die Kinder der Gegenwart wachsen in und mit vielen Objektwelten auf. Diese hätten auch eine kommerzielle Dimension, alles sei nahezu symbiotisch mit der Warenwelt verwachsen.
Das fünfte Kapitel widmet sich der Darstellung der expandierten Medienwelt als alltagskulturellem Lernfeld. Es geht um Lernen und Erfahrungskonstitution via Medien, Medienverbünde, die Multiplizierung der Medien, um „Medien im Quadrat“ (Umberto Eco), um die Beschreibung der kommerziellen Kinderkultur als lingua franca (118) und script-Transaktionen.
Bezug auf die Theorie sozialer Praktiken, wie sie von Reckwitz vertreten wird, nimmt Hengst wiederum im sechsten Kapitel („Entgrenzte Bewegungskulturen“). Zu den Grundpositionen dieser Theorie zähle auch die Betonung der Materialität des Sozialen und des Kulturellen. Dabei gehe es um zwei Instanzen: den menschlichen Körper und die Welt der Artefakte. Hier wird der nächste „turn“ in den Sozialwissenschaften in die soziologische Perspektive auf Kindheit von Hengst integriert: nämlich der „body turn“ („somatic society“). Hengst interessiert sich aus einer dezentrierten, zeitdiagnostischen Perspektive für Sport als Bestandteil sozialer und kultureller Praktiken. Es geht ihm um Körper, Materialität und Bewegung in ihrem Verhältnis zum Selbst und zur Gesellschaft.
Im siebten und letzten Kapitel („Immersion und zehntausend Stunden Übung“), gibt der Autor einen Ausblick auf unterschiedliche Lern- und Erfahrungsmodi. Der Immersionsbegriff habe keine Tradition, obwohl er eine interessante Perspektive auf Erfahrungs- und Lernkontexte ermögliche. Dieser Begriff spielt auf das Lernen an, das durch das tiefe Eintauchen in bestimmte kulturelle Milieus ermöglicht wird (wie ein Sprachbad). Üben wird als Praktik beschrieben, der in der öffentlichen Diskussion um Fragen der Bildung und des Lernens wieder große Aufmerksamkeit geschenkt und insbesondere von der Expertiseforschung stark gemacht wird. Allerdings, so wendet Hengst ein, sei Üben immer auf die Zukunft gerichtet und linear konzipiert, während Immersion eine allgemeine Erweiterung der Erfahrungs- und Spielräume der Zeitgenossen erlaube. Die Frage der Vernetzung beider Lernmodi sei daher die entscheidende Frage.
Fazit: Mit großem Gewinn habe ich dieses überaus anregende, aber auch anspruchsvolle Buch gelesen; wer sich mit einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Kindheit auseinandersetzen und fundierte Hinweise auf die nationalen, aber vor allem internationalen Diskurse, Fachdebatten und Theorien gewinnen möchte, dem sei das Buch wärmstens empfohlen. Es ist ein beeindruckendes und ein wichtiges Buch. Aber: Es ist nicht voraussetzungslos zu verstehen. Es kann in einer Rezension dieses Umfangs nicht gelingen, die Fülle von Aspekten, Perspektiven und Theoriebezügen, die der Autor in seine Argumentationslinie einbezieht, auch nur annähernd zu würdigen. Deshalb würde ich dieses Buch Neueinsteigern in die „new social studies of childhood“ nur bedingt empfehlen, wohl aber fortgeschrittenen Studierenden, allen Kindheitsforscherinnen und Kindheitsforschern sowie pädagogischen Fachkräften, die mit Kindern zu tun haben. Kinder und Kindheit sozial, kulturell und historisch zu verorten, sprich den Kontext von Kindheit zeitdiagnostisch und sozialtheoretisch zu beschreiben, um dann die Subjektformation und die soziale Konstruktion von Kindheit zu rekonstruieren, ist Hengst ohne Frage beeindruckend gelungen.