Im Nachbeben des PISA-Schocks, speziell des attestierten Zusammenhangs zwischen dem Lernerfolg der SchĂŒler/-innen und dem Bildungsniveau der Eltern, wurde 2005 der FDP-Politiker Bahr mit den Worten zitiert: âEs ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegenâ [1]. Der Diskurs darum, dass âdie Falschenâ zu viele und âdie Richtigenâ zu wenige Kinder bekĂ€men, gebunden an Debatten um Bildung, Erziehung und schlieĂlich âBevölkerungsqualitĂ€tâ reicht weit lĂ€nger zurĂŒck.
Christian Grabau hat es sich in âLeben machen â PĂ€dagogik und Biomachtâ zur Aufgabe gemacht, das âmal laute, mal stumme Ineinandergreifen von Biotechnologien und PĂ€dagogikâ (244) historisch-systematisch zu ergrĂŒnden. Vergleichbare Arbeiten liegen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive nicht vor und der Autor betritt mit seiner Spurensuche der âvergessenen AnfĂ€nge und HerkĂŒnfte moderner PĂ€dagogikâ (95) Neuland. An drei Stationen wird Halt gemacht; um 1800, 1900 und schlieĂlich der Gegenwart.
Die Arbeit nimmt zunĂ€chst Anregungen aus Foucaults âDer Wille zum Wissenâ sowie aus dessen Vorlesungen zur Biopolitik auf, um diese ErtrĂ€ge fĂŒr die PĂ€dagogik zu prĂŒfen. Eine zweite Achse bilden die Arbeiten von Ulrich Bröckling. Grabau geht es mit seiner Genealogie um die Konstellationen, unter denen âneue Problematisierungen und Lösungsangebote auftauchen und sich durchsetzenâ (50): Wer hat die passenden Techniken zur Bearbeitung der Regierungsprobleme?
Hinleitend zum zentralen Teil der Arbeit wirft Grabau einen Blick auf Theorien der Staatsmenschenproduktion, anschlieĂend betrachtet er die Vorgeschichte der Policeywissenschaft und erreicht dann den âKreuzpunkt von staatlicher Gehorsamsproduktion, Geburtenkontrolle und pietistischer SeelenfĂŒhrungâ (52). Nicht mehr familiĂ€r-stĂ€ndische Schicksale werden besiegelt, âdie Policey [macht] Menschenâ (63). Die Policey ist die âTechnologie, die den Untertanenverband in die EntitĂ€t âBevölkerungâ transformiertâ. (70) Doch schon bald gerĂ€t die Policeywissenschaft an Grenzen: Die âgute Ordnungâ lĂ€sst sich nicht jenseits der geschlossenen SchlafzimmertĂŒren forcieren und bald rĂŒckt die Frage nach den notwendigen Techniken ins Zentrum. Die Problembeschreibung findet durch die Policeywissenschaft statt, die Techniken der Problembearbeitung liefert jedoch die PĂ€dagogik. Bröckling und Foucault folgend, wendet Grabau sein Augenmerk auf den Nestor der Policeywissenschaft, Johann Heinrich Gottlob von Justi. Bereits dieser klagte ĂŒber âden sittlichen Zustand der Erziehungâ (88). Erziehung sollte zur Steigerung des Vermögens des Staates dienen und Instrument der Regierung werden. Ziel ist die âĂbereinstimmung von Herz und Gesetzâ, probates Mittel âdie Technologie der Kinderzuchtâ (81). Erst mit der aufkommenden PĂ€dagogik gelingt die Verbindung von disziplinaren und pastoralen Subjektivationsformen, dabei nutzt sie die von den Policeywissenschaften geöffneten Einfallstore. Nachzulesen ist dies auch in Trapps âVersuch ĂŒber die PĂ€dagogikâ. Grabau interessiert sich fĂŒr VorlĂ€ufer und findet sie u. a. bei August Hermann Francke. Dieser widmete sich der Beobachtung der / des Einzelnen und der Ordnung der Schule. Die Schulbank ist als âexemplarische Disziplinartechnik [âŠ] des sĂ€kularisierten Pastoralsâ (115) Beleg hierfĂŒr. SĂ€mtliche Regungen der SchĂŒler/-innen werden in der Ordnung des Klassenzimmers sichtbar. Parallel dazu gelangt die Anleitung zur Versprachlichung und SelbstprĂŒfung in den Vordergrund. Die PĂ€dagogen und PĂ€dagoginnen konnten mehr als die Policey, sie konnten âzur Selbstbeherrschung anleitenâ (142), zu Subjekten machen.
AnschlieĂend durchleuchtet Grabau die Biopolitik als Regierungsmodus des Objekts Bevölkerung. Der Diskurs um den âgefĂ€hrlichen Körperâ gewann um 1800 an Konjunktur. Nachweis hierfĂŒr findet Grabau u. a. in Schriften des vermutlich wirkungsmĂ€chtigsten Protagonisten der Demographie: Malthus. Wie Bildungspolitik zu Bevölkerungsregulierung werden kann, zeigt Grabau anhand von Malthusʼ PlĂ€doyer zur Armenbildung, den Schriften von Adam Smith und Johann Peter SĂŒssmilch. Zwar galt die Vorstellung â[w]er nach oben strebt, wird den Kinderwunsch zurĂŒckstellenâ (133) zunĂ€chst einer vermeintlich drohenden Ăberbevölkerung, jedoch steckte darin bereits der eingangs erwĂ€hnte Konnex von BevölkerungsqualitĂ€t, Bildung und Erziehung. Mit einem Exkurs zu Humboldt und Fichte wird anschlieĂend gezeigt, wie das demographische Wissen Malthusʼ in den deutschen Bildungs-Diskurs einsickerte.
Daran schlieĂt eine Untersuchung des Zusammenhangs von âGesellschaftsschutz und Erziehungâ an. Ob sich Kinder âzivilisieren lassen oder [âŠ] ob sie Wilde bleibenâ (152) wurde zur virulenten Frage; letzteres bedeutete eine Bedrohung der Gesellschaft. Der âgeborene Verbrecherâ wird durch Erziehung von seinem Schicksal bewahrt oder eben durch Ehegesetze erst gar nicht geboren: Erziehung und Eugenik stehen in wechselseitigem Bezug (165). Die einflussreichen Werke von Darwin und Galton wirken tief in die deutsche PĂ€dagogik hinein. Die PĂ€dagogik wird dabei zur âpolitische[n] Technologie der RĂŒstung fĂŒr Ausleseprozesse auf Völkerebeneâ (162). Es beginnt sich bereits abzuzeichnen, dass das Ziel und die Aufgabe der Erziehung nun der eigenverantwortliche Umgang mit dem Erbgut sein wird (159ff). Nachzulesen ist dies bei Schallmayer, der einen Staatsapparat entwirft, der Krankengeschichte, VerwandtschaftsverhĂ€ltnisse und weitlĂ€ufige biographische Angaben eines / -r jeden / jeder BĂŒrgers / BĂŒrgerin sammeln, archivieren und zirkulieren lassen wollte: âBildung, Erziehung und Unterricht sind [âŠ] die vermittelnden, Individuen anleitenden und normalisierenden Instanzenâ (166). Der âNeue Menschâ wird zum Knotenpunkt des biopolitischen Dispositivs um 1900.
Im dritten Teil untersucht Grabau die diskursiven Allianzen von âbiologistischer und völkisch-mythischer Wahrnehmungsneigung im Kindâ (189) um die Jahrhundertwende, zunĂ€chst mit Fokus auf die Schriften von Ellen Key und Maria Montessori (167ff). Montessori ist Datensammlerin, die Schule soll als âpedagogical clinicâ (176) zum zentralen Knotenpunkt der Datenerfassung werden. Grabau weist darauf hin, dass das Kind allein als TrĂ€ger von Genen konstituiert wird und folglich âder Erzieher zum HĂŒter des Erbgutesâ (179) avanciert. In ihren Schriften spiegeln sich die âkriminalanthropologischen, eugenischen oder allgemein sozialdarwinistischenâ (180) Annahmen wieder. AnschlieĂend macht Grabau den Sprung nach Deutschlang und prĂŒft die Arbeiten von Nohl und Spranger. Auch hier wird deutlich, dass die NationalpĂ€dagogik Volksvermehrungspolitik und Mittel zur Anhebung der Geburtenrate ist (198). Paradoxal erscheint dabei zunĂ€chst, dass Erziehung âkontraselektorischâ (201) ambitioniert scheint, es gelingt Grabau jedoch zu zeigen, dass Nohls âgeopolitische Vision [âŠ] dezidiert biopolitischâ (203) ist. PĂ€dagogik wird verstanden als Normalisierungsmacht.
AbschlieĂend und ausblickend widmet sich Grabau den gegenwĂ€rtigen, neoliberalen Kopplungen der Biomacht. Lily E. Kay folgend wird âVererbungsgeschehen als Informationsflussâ (219) umgedeutet. Das neoliberale âBuĂsakramentâ fordert neuartige Techniken der Introspektion: Das Individuum wird vollends in Verantwortung fĂŒr seine Gesundheit genommen und muss durch FrĂŒherkennung und Vorbeugung sein Schicksal reglementieren und normalisieren. FĂŒr die PĂ€dagogik bedeutet dies eine Verschiebung weg von Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung, hin zur Medizinisierung und Medikamentisierung. Exemplarisch verdeutlicht Grabau dies an den Debatten um ADHS und dem damit verbundenen âerbbiologischen Verdachtâ (231).
Grabau versteht es, die zunĂ€chst heterogen wirkenden Diskurse zu verbinden, um verschĂŒttete Beziehungen freizulegen. Dabei imponiert insbesondere das gelungene Heranziehen der zahlreichen Referenzautor/-innen aus PrimĂ€r- als auch SekundĂ€rliteratur. An mancher Stelle wĂŒnschen sich Lesende mehr Orientierung und Informationen zur Genese des vom Autoren eingeschlagenen Weges. Gewinnbringende ErgĂ€nzungen lĂ€gen m. E. in einem Blick auf den Diskurs der SexualpĂ€dagogik und kritische Arbeiten zur Geschichte des demographischen Wissens (bspw. die Studie von Hummel [2]). Möglicherweise wĂ€ren neue Perspektiven, VerschrĂ€nkungen und bis in die Gegenwart reichende KontinuitĂ€ten sichtbar geworden. Gerade das finale Kapitel deutet auf hochinteressante Forschungsdesiderate dieser durchweg erkenntnisreichen Arbeit hin: Welche Implikationen ergeben sich aus Big Data, Kybernetisierung und Biopolitik fĂŒr die PĂ€dagogik? Welche biopolitischen Implikationen liegen in der neurowissenschaftlichen Herausforderung fĂŒr die PĂ€dagogik? Grabau gelingt es eindrĂŒcklich, die verschlungenen Beziehungen und reziproken Angebote zwischen Biomacht und PĂ€dagogik und deren bis in die Gegenwart reichende Wirkung sichtbar zu machen, und damit vergessene ZusammenhĂ€nge ins GedĂ€chtnis zu rufen.
[1] Spiegel Online: FDP-Vorstand will mehr Akademiker-Babys. Spiegel Online-Unispiegel 2005. Online verfĂŒgbar unter http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/elite-debatte-fdp-vorstand-will-mehr-akademiker-babys-a-338172.html, zuletzt geprĂŒft am 18.09.2014.
[2] Hummel, D.: Der Bevölkerungsdiskurs. Demographisches Wissen und politische Macht. Opladen: Leske + Budrich 2000.
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
Leben machen
PĂ€dagogik und Biomacht
Paderborn: Fink 2013
(271 S.; ISBN 978-3-7705-5579-6; 34,90 EUR)
Martin Karcher (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Karcher: Rezension von: Grabau, Christian: Leben machen, PĂ€dagogik und Biomacht. Paderborn: Fink 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377055579.html
Martin Karcher: Rezension von: Grabau, Christian: Leben machen, PĂ€dagogik und Biomacht. Paderborn: Fink 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377055579.html