Ist politische Bildung mit erwachsenen Menschen, die bereits ihre Ansichten von Gesellschaft und Politik entwickelt haben, überhaupt noch möglich? Diese Frage hat der emeritierte Hannoveraner Erziehungswissenschaftler Horst Siebert provokativ in seinem jüngsten Buch aufgeworfen: „Erwachsene lernfähig – aber unbelehrbar?“ [1]. Er verweist darauf, dass sie selten etwas ganz Neues lernen, sondern ihr Wissen und ihre Vorstellungen eher ausdifferenzieren und modifizieren. Neues Wissen, das nicht biographisch integriert werden kann, bliebe wirkungslos. Kein Wunder, dass konstruktivistische Didaktikmodelle bei Erwachsenenbildnern großen Anklang gefunden haben.
Politische Bildung mit Erwachsenen ist also ein besonders schwieriges Geschäft. Aber es ist offenbar auch eine pädagogische Arbeit unter recht mühseligen Bedingungen. Rechnet Klaus-Peter Hufer, Autor des hier vorzustellenden Buches, noch vor, dass man immerhin jährlich von 2,75 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Veranstaltungen der außerschulischen politischen Bildung ausgehen kann, dann muss er doch mitteilen, dass nur etwa 2 % aller Weiterbildungsbeteiligungen auf das Themenfeld „Politik, Gesellschaft und Informationswesen“ entfallen (67f). Die neueste Analyse zum Stand der politischen Bildung in Deutschland durch die Konrad-Adenauer-Stiftung nennt den Stellenwert der politischen Bildung im Rahmen des Weiterbildungsangebotes „geradezu desaströs“; als eine Ursache führt sie die „Pervertierung des politischen Bildungsauftrags durch Vordringen von Marktlogiken in den (Weiter-)Bildungssektor“ an [2].
Um Hufers engagiertes Plädoyer für eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die politische Erwachsenbildung zu verstehen, sei nur noch eine weitere Zahl angeführt: Während sich an den Hochschulen in Deutschland mindestens 42 Politikdidaktik-Professuren um Ausbildung und Forschung zur politischen Bildung an Schulen kümmern, ist lediglich das Aufgabengebiet einer Professur unter den erziehungswissenschaftlichen Professuren für Erwachsenenbildung / Weiterbildung explizit auf die politische Bildung bezogen. Die Dringlichkeit von Hufers Expertise ist also evident. Mit einigen Abbildungen und einem extrem reichhaltigen Literaturverzeichnis versehen sowie immer wieder in Textkästen zu Definitionen, Quellen und weiterführenden Reflexionsanstößen zusammengefasst entwickelt der Autor sein gutachterliches Votum mit klarer Position. Im Rahmen einer emanzipatorisch-kritischen Konzeption politischer Bildung plädiert er für die Entwicklung widerständigen Denkens und gegen ein funktionalistisch verengtes Lernen. Er hält am Bildungsbegriff fest und wendet sich skeptisch gegen eine outputorientierte Kompetenzpädagogik, die gegenwärtig eine so ausgeprägte Konjunktur erlebt, und bezieht sich zustimmend auf die Theorie exemplarischer Erwachsenenbildung von Oskar Negt. Angesichts der Ruhe, die seit den achtziger Jahren auf dem Felde der pädagogischen Konzeptdiskussion um politische Erwachsenenbildung eingekehrt ist, erinnert er daran, dass die moderne Erwachsenenbildung ihren Ausgang im 18. Jahrhundert gerade von einer politisch aufgeklärten Bildung zum Bürger genommen hat.
Klaus Peter Hufer kann ein außergewöhnlich produktives Berufsleben vorweisen, in dem erwachsenenpädagogische Praxis und wissenschaftliche Arbeit fest miteinander verbunden sind. 2014 wurde ihm zu seinem 65. Geburtstag eine Festschrift gewidmet, die beide Handlungsfelder würdigt. 36 Jahre war er Fachbereichsleiter an einer Kreisvolkshochschule und parallel hat er auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung promoviert, habilitiert und an Hochschulen gelehrt, so dass die Universität Essen-Duisburg ihn 2011 zum außerplanmäßigen Professor ernannte. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen finden sich immer wieder Gesamtdarstellungen der politischen Erwachsenenbildung und der Erwachsenenbildung überhaupt [3]. Besonders erfolgreich ist seine didaktisch-methodische Publikation zum Umgang mit extremistischen und populistischen Vorurteilen [4], die 2016 in 10. Auflage vorliegt. Die Leserinnen und Leser profitieren in allen 12 Kapiteln seiner neuesten Expertise davon, dass man es hier mit einem theoretisch und praktisch ausgewiesenen Fachmann zu tun hat.
Nach einer kurzen programmatischen Einleitung entwickelt der Autor gut lesbar in Kapiteln von jeweils höchstens 15 Seiten seine Darstellung und Argumentation. Zunächst klärt er zentrale Begriffe wie „Politik“, „Bildung“ und „politische Bildung“. Die institutionelle und konzeptionelle Geschichte der politischen Erwachsenenbildung seit dem 18. Jahrhundert wird an Hand von wesentlichen Etappen und Werkbeispielen (von Fritz Borinski, Oskar Negt, Hans Tietgens u.a.) entfaltet. Hufer diskutiert dann die Vielfalt der Bezugswissenschaften (Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Politikdidaktik, Soziologie) und skizziert Licht- und Schattenseiten bildungspolitischer Kontextbedingungen und plurale Trägerstrukturen. Das Wissen über die Zusammensetzung der Teilnehmerschaft an den Bildungsangeboten reflektiert Hufer kritisch als „Veranstaltung für eine Minderheit“ (67). Im Kapitel zu „Lehren und Lernen“ stellt er wesentliche Einsichten der Lernforschung zusammen und betont zentrale allgemein-didaktische Prinzipien der Erwachsenenbildung (Teilnehmerorientierung, Subjektorientierung, Lebensweltorientierung und Handlungsorientierung), weil es eine eigenständige Didaktik der politischen Erwachsenenbildung nicht geben könne (vgl. 83). Die anschließende methodische Übersicht lebt außerordentlich von Hufers umfassender Praxiserfahrung. Im Abschnitt zur Qualität politischer Erwachsenenbildung wird die Skepsis des Autors gegenüber empirischer Wirkungsforschung deutlich. Konstruktiv skizziert er schließlich die erforderlichen Kompetenzfelder eines politischen Erwachsenbildners. Zum Schluss resümiert er die Argumente für die politische Bildung in Schule sowie außerschulischer Jugend- und Erwachsenenbildung.
Gerade in den letzten Kapiteln zeigt sich, dass Hufer vornehmlich eine professionsbezogene Perspektive auf die politische Erwachsenenbildung einnimmt. Insofern thematisiert seine Expertise vorerst mehr ein vernachlässigtes Handlungsfeld der Erwachsenenpädagogik als eine „vernachlässigte Disziplin“. So geht er von der starken These aus, nachhaltige Wirkungen seinen „in manchen Bereichen, so in der politischen Bildung, überhaupt nicht zu messen“ (104). Selbst vorliegende empirische Forschung zu Bedingungen und Bildungseffekten [5] wird von ihm nur gelegentlich ausgewertet. Hufers Reserve gegenüber einer quantifizierend und mit Repräsentativitätsanspruch arbeitenden Forschung mag ja berechtigt sein, aber dürfen deshalb beispielsweise die Erkenntnischancen qualitativer Bildungsforschung zur politischen Erwachsenenbildung ausgeblendet werden. Etwa die Einsicht, dass die biographische Passung eine wichtige Gelingensbedingung politischer Erwachsenenbildungsarbeit darstellt, ist empirisch gut belegt. Wenn Hufer sich auf Wissenschaft bezieht, meint er primär Theorie und nicht Forschung. Aber erst wenn die politische Erwachsenenbildung sich intensiver zu einer auch quantitativ und qualitativ empirisch forschenden Disziplin entwickelt, wird sie eine hilfreichere Stütze für die praktische politische Erwachsenenbildung werden.
Suchte jemand gezielt nach thematischen Lücken in Hufers Expertise, würde er kaum fündig. Allenfalls könnte er feststellen, dass ein eigener Teil zu den Bildungsinhalten der politischen Erwachsenenbildung fehle. Dieser zentrale didaktische Aspekt ist aber in anderen Untersuchungen und Abhandlungen gut aufbereitet [6]. Hufers Ansicht zu einer ausformulierten Didaktik der politischen Erwachsenenbildung: „Es kann sie auch nicht geben“ (83), scheint hingegen überzogen. Es ist sehr wohl denkbar, dass es möglich ist, im Rahmen einer Didaktik lebenslanger politischer Bildung die spezifischen Momente des politischen Lernens im Erwachsenenalter, die es zweifelsohne gibt, herauszuarbeiten.
Insgesamt ist Hufers Buch ein weit ausgreifender, fundierter, überzeugender und glaubwürdiger Aufruf an die Verantwortlichen in Politik und Bildungswesen Deutschlands, sich wieder verstärkt der politischen Erwachsenenbildung zuzuwenden. Aber es sollte auch gelesen werden als eine kritische Anfrage an Theorie und Forschung der Erziehungswissenschaft, ob sie und die Pädagogik der Erwachsenenbildung mitverantwortlich sind für die gegenwärtige Lage der politischen Erwachsenenbildung.
[1] Siebert, H.: Erwachsene – lernfähig, aber unbelehrbar? Was der Konstruktivismus für die politische Bildung leistet. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2014.
[2] Kalina, A.: Erfolgreich.Politisch.Bilden. Faktensammlung zum Stand der Politischen Bildung in Deutschland. 2. Auflage. St. Augustin / Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 2014, 125 und 128.
[3] jüngste Veröffentlichung: Hufer, K.-P. / Lange, D. (Hg.): Handbuch politische Erwachsenenbildung. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2016.
[4] Hufer, K.-P.: Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Materialien und Anleitungen fĂĽr Bildungsarbeit und Selbstlernen. 10. Auflage. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2016.
[5] Ahlheim, K. / Heger, B.: Wirklichkeit und Wirkung politischer Erwachsenenbildung. Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2006; Fritz, K. / Maier, K. / Böhnisch, L.: Politische Erwachsenenbildung. Trendbericht zur empirischen Wirklichkeit der politischen Bildungsarbeit in Deutschland. Weinheim: Juventa 2006; Becker, H.: Praxisforschung nutzen, politische Bildung weiterentwickeln – Studie zur Gewinnung und Nutzbarmachung von empirischen Erkenntnissen für die politische Bildung in Deutschland. Berlin: Arbeitsgemeinschaft deutscher Bildungsstätten (AdB) 2011.
[6] vgl. Ahlheim, K. / Heger, B.: Wirklichkeit und Wirkung politischer Erwachsenenbildung. Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2006, 68-134; Hufer, K.-P. / Lange, D. (Hg.): Handbuch politische Erwachsenenbildung. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2016, 111-244.
EWR 15 (2016), Nr. 5 (September/Oktober)
Politische Erwachsenenbildung
Plädoyer für eine vernachlässigte Disziplin
Bielefeld: W. Bertelsmann 2016
(139 S.; ISBN 978-3-7639-5654-8; 24,90 EUR)
Hans-Joachim von Olberg (MĂĽnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Joachim von Olberg: Rezension von: Hufer, Klaus-Peter: Politische Erwachsenenbildung, Plädoyer fĂĽr eine vernachlässigte Disziplin. Bielefeld: W. Bertelsmann 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376395654.html
Hans-Joachim von Olberg: Rezension von: Hufer, Klaus-Peter: Politische Erwachsenenbildung, Plädoyer fĂĽr eine vernachlässigte Disziplin. Bielefeld: W. Bertelsmann 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376395654.html