EWR 10 (2011), Nr. 5 (September/Oktober)

Christine Zeuner / Antje Pabst
„Lesen und Schreiben eröffnen eine neue Welt!“
Literalität als soziale Praxis – Eine ethnographische Studie
Bielefeld: W. Bertelsmann 2011
(304 S.; ISBN 978-3-7639-4686-0; 29,90 EUR)
„Lesen und Schreiben eröffnen eine neue Welt!“ In den letzten Jahren ist ein deutlich gewachsenes wissenschaftliches Interesse an Fragen der Literalität zu beobachten. Dies hängt sicherlich auch mit einem umfangreichen Förderschwerpunkt des BMBFs zusammen, mit dem Forschung und Entwicklung zu Fragen der Literalität und Grundbildung unterstützt werden. Auch die vorliegende Studie entstand in diesem Zusammenhang. Die Autorinnen untersuchen Literalität als soziale Praxis aus ethnographischer Perspektive. In einem begründet eng gefassten räumlichen Ausschnitt, im Mittelpunkt steht Altona-Altstadt in Hamburg, nähern sie sich mittels unterschiedlicher methodischer Zugänge dem Facettenreichtum von Literalität an.

Unter der Überschrift „Rahmungen, Begriffe und Methoden“ stellen die Autorinnen zunächst begrifflich-theoretischen Grundlagen vor und gehen auf die in ihrer Untersuchung verwendeten Methoden ein. Ihre Untersuchung lehnt sich, wie sie auf S. 69ff. ausführen, insbesondere eng an die Literacy-Studies von Brian Street sowie von David Barton und Mary Hamilton an. Methodisch orientieren sie sich stark an der Grounded Theory, in der theoretische Begriffe und Modelle sukzessive aus dem Material heraus entwickelt werden.

Im zweiten Teil stellen sie ihre Erhebungen und deren Erträge dar. Die überschaubare geographische Größe des Untersuchungsraums, der von den Autorinnen knapp und klar strukturiert vorgestellt wird (89ff), erlaubt es, in unterschiedlichen Zugängen literale Produktion, Distribution und Konsumtion in den Blick zu nehmen und sich dabei auf zum Teil heterogene Daten und Wege der Datenerhebung bzw. –aufbereitung zu stützen. Die Verfasserinnen haben Schriftprodukte unterschiedlicher Textsorten von Beschilderungen und Werbebeschriftungen bis hin zu Graffitis und Kritzeleien fotografisch dokumentiert, Interviews mit zufällig ausgewählten Personen im Untersuchungsfeld wie auch Leitfadeninterviews mit gezielt ausgewählten Personen geführt. Sie haben Experten- und Informationsgespräche geführt und eine Fülle von Materialien und Daten ausgewertet. Bei der schrittweisen Auswertung lassen sie, wie es im Titel der Studie annonciert ist, ein breites ethnografisch ausgeleuchtetes Panorama von Literalität im städtischen Umfeld entstehen.

Zu diesem Panorama gehören bspw. die vielfältigen Formen schriftlicher Mitteilungen, Appelle und sonstiger Erzeugnisse, die fotografisch dokumentiert (129ff) und systematisch dargestellt und analysiert werden (101ff). Zum Panorama gehören auch die Einstellungen, Gewohnheiten und Erfahrungen der im untersuchten Stadtviertel lebenden bzw. sich bewegenden Menschen, die in „Spontaninterviews“ hierzu befragt wurden (145ff). Dabei werden, wie dies Aufgabe alltagsorientierter ethnografischer Studien ist, alltägliche Routinen und Gewohnheiten bisweilen erst durch die Interviews bewusst.

Die Autorinnen beobachten eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Funktionen, Bedeutungszuschreibungen und Gewohnheiten im Umgang mit Schriftlichem. Die Auswertung der „Spontan-Interviews“ sollte auch der Vorbereitung der Interpretation der Leitfaden-Interviews dienen. Leider wird nicht recht deutlich, inwieweit in dieser Untersuchungsphase tatsächlich neue Einsichten und Interpretationen gewonnen wurden bzw. vorherige Annahmen revidiert, verworfen oder ergänzt wurden. Es wäre auch sinnvoll gewesen, Überlegungen dazu anzustellen, welche Bedeutung die Willkürlichkeit bzw. Zufälligkeit der Auswahl der Interviewpartner auf das gewonnene Material hatte.

In Leitfaden-Interviews näherten sich die Autorinnen dem alltäglichen Umgang mit literalen Praktiken und versuchten deren subjektive Bedeutsamkeit zu klären. Hierzu bezogen sie sich auf ein „Theoretical Sampling“, bei dem sie drei Hauptgruppen unterscheiden: a) die „typischen Fälle“ mit durchschnittlichem Bildungsverlauf, b) die „positiv-gelungenen Fälle“ mit eher überdurchschnittlicher literaler Bildung und c) die „negativ-problematischen Fälle“ mit zunächst misslungener Literalität.

Spätestens hier macht sich bemerkbar, dass bei den theoretisch-konzeptionellen Darlegungen und Überlegungen im ersten Teil der Studie Fragen der Kompetenzstufen von Literalität nur gestreift wurden. Kompetenzstufen, wie sie für Literalität insgesamt Untersuchungen wie der PISA-Studie oder unterhalb der ersten PISA-Stufe in die Bereiche des funktionalen und des absoluten Analphabetismus hinein noch feiner gegliedert der unlängst veröffentlichten leo-Studie zugrunde liegen, werden nicht behandelt. Dies hätte die Zuordnung der Sample-Gruppen der Leitfaden-Interviews aber transparenter gemacht. Die Auswertung der Interviews lässt aber dennoch ein heterogenes Bild von Begründungen, Anwendungsformen und Bezügen deutlich werden, das die Autorinnen systematisierend aufbereiten (224ff).

Nach der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Praktiken und Sichtweisen der spontan bzw. an Leitfaden entlang Interviewten gehen die Autorinnen im neunten Kapitel noch einmal auf Geschriebenes im öffentlichen Raum ein, wobei sie sich diesmal auf die „alltagsweltliche Inbesitznahme“ konzentrieren, wie sie bspw. durch Graffitis vorgenommen wird. Die Platzierung an dieser Stelle statt im Anschluss an die im sechsten Kapitel anhand der Fotodokumentation vorgenommenen Analysen überzeugt nicht gänzlich, zumal hier keine Erträge und Einsichten aus den in den vorhergehenden Kapiteln dargestellten und interpretierten „Spontan-Interviews“ und den „Leitfaden-Interviews“ aufgegriffen werden.

Die Digitalisierung macht auch nicht vor Kommunikation und Schriftlichkeit im Stadtviertel halt. Daher ist es nur konsequent, dass die Autorinnen der „Literalität im virtuellen Raum“ ein eigenes Kapitel widmen (245ff). Dies ist recht knapp gehalten und konzentriert sich auf einige Anmerkungen zur literalen Praktiken im virtuellen Zusammenhang, wie sie in einzelnen Interviews angesprochen wurden.

Im Schlusskapitel fassen die Autorinnen die Erträge ihrer Studie zusammen und stellen die Bedeutung der Betrachtung von Literalität als sozialer Praxis für die Alphabetisierungsarbeit heraus. Insgesamt liegt mit diesem Buch eine interessante Studie zu den vielfältigen Facetten literaler Produktion, Distribution und Konsumtion im örtlichen Kontext vor.
Markus Höffer-Mehlmer (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus Höffer-Mehlmer: Rezension von: Zeuner, Christine / Pabst, Antje: „Lesen und Schreiben eröffnen eine neue Welt!“, Literalität als soziale Praxis – Eine ethnographische Studie. Bielefeld: W. Bertelsmann 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376394686.html