EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

Matthias Pilz
Modularisierungsansätze in der Berufsbildung
Deutschland, Ă–sterreich, Schweiz sowie GroĂźbritannien im Vergleich
Bielefeld: Bertelsmann 2009
(190 S.; ISBN 978-3-7639-4218-3; 34,90 EUR)
Modularisierungsansätze in der Berufsbildung Vor dem Hintergrund der Europäisierung beruflicher Bildung und den daraus erwachsenden Ansprüchen der Flexibilisierung und Individualisierung sowie der besseren internationalen Vergleichbarkeit und der Anschlussfähigkeit von Bildungsabschlüsse im Bildungssystem, werden die Forderungen nach einer grundlegenden Veränderung der Organisation beruflicher Bildung immer lauter. In Deutschland geschieht dies nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der offensichtlichen Krisenerscheinungen im Dualen System beruflicher Bildung.

Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern steht die Reformierung des beruflichen Bildungssystems derzeit auf der Agenda. Darin lässt sich auch das Infragestellen des Berufskonzeptes als zentrales Prinzip und pädagogischem Kern der Berufsausbildung finden. Die Modularisierung der beruflichen Bildung gilt als einer der Reformansätze, die in diesem Kontext diskutiert werden. Frühere und aktuelle Debatten dazu polarisieren zwischen der Befürwortung einer konsequenten Modularisierung nach angelsächsischem Vorbild auf der einen Seite, und der Beibehaltung der „klassischen“ – für Deutschland üblichen – Berufslehre auf der anderen Seite. Vor allem Kritiker des Modularisierungsansatzes sehen in einer konsequenten Modularisierung immer die Gefahr, dass das den Verlust des Berufsprinzips in der deutschen Berufsausbildung bedeutet. Diese beiden absolut konträren Positionen zur Modularisierung greift Pilz in seinem Herausgeberband nun auf und fragt, ob eine Modularisierung beruflicher Bildung als „Heilsbringer“ zu verstehen oder als „Teufelszeug“ zu verdammen ist.

Die aktuell geführten Diskussionen zu diesem Thema betrachtet Pilz eher kritisch, da sie sich häufig nur auf regional und inhaltlich begrenzte Modellversuche beziehen oder auf ausgewählte Teilbereiche des beruflichen Bildungssystems reflektieren. Diese Kritik übersetzt Pilz in die Fragestellung und das Vorgehen des vorliegenden Sammelbandes. Darin wird deutlich, dass der Band nicht darauf abzielt, die beiden stark polarisierenden Sichtweisen, Modularisierung oder Berufsprinzip, „Heilsbringer oder Teufelszeug“, zu verschärfen. Schon gar nicht versucht er, sich zu einer der beiden Standpunkte zu positionieren. Vielmehr soll es um eine Relativierung dieser beiden Standpunkte gehen. Dies erfolgt anhand eines Ländervergleichs der landesspezifischen Modularisierungskonzepte Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und Großbritanniens. Der Fokus des Bandes liegt eindeutig bei den deutschsprachigen Ländern. Diese stehen alle in der gleichen oder einer ähnlichen Tradition beruflicher Bildung. Das wird schon allein daran deutlich, dass alle drei beruflichen Bildungssysteme auf dem Berufsprinzip aufbauen. Großbritannien stellt dazu einen für die Untersuchung und Fragestellung des Sammelbandes notwendigen Kontrastpunkt dar.

Zunächst werden die einzelnen Länder in acht Einzelbeiträgen beschrieben. Dabei werden jeweils die landesspezifischen theoretischen und politischen Debatten und die praktische Umsetzung der Modularisierungsansätze nebeneinander gestellt. Im Schlussteil des Bandes werden sie dann miteinander verglichen. Interessant dabei: Um den Vergleich der Länder zu vereinfachen, hat Pilz Leitfragen entwickelt, die in den Einzelbeiträgen beantwortet werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, was Deutschland aus den Modularisierungserfahrungen der anderen Länder lernen kann.

Im theoretischen Teil zu Deutschland, verdeutlicht Frommberger zwei Dinge: er zeigt erstens dass Module eine neue Form der curricularen Standardisierung von Bildungsinhalten darstellen. Durch eine Modularisierung wird eine stärkere Differenzierung und Flexibilisierung der Bildungsgänge ermöglicht. Für das Individuum wird so der Verlauf von Bildungsgängen geöffnet und die Gestaltung und Organisation beruflicher Bildung in seine Verantwortung übergeben (Flexibilisierung und Individualisierung). Er macht zweitens deutlich, dass dies eine neue Form der Standardisierung von Bildungsinhalten ist. Diese geht konform mit einer auf europäischer Ebene sich durchsetzenden didaktischen Orientierung an konkreten, anwendbaren Lernergebnissen (Outcomes).

Obwohl in Deutschland am Prinzip des Ausbildungsberufes festgehalten wird, haben sich verschiedene Organisations- und Strukturmodelle beruflicher Bildung ausdifferenziert, die vom „klassischen“ Modell des Ausbildungsberufs abweichen. Frommberger zeigt, dass sich in Deutschland bereits Organisationsformen beruflicher Bildung etabliert haben, die zwar eine modularisierte Struktur aufweisen, die aber am Berufsprinzip festhalten. Die verschiedenen Organisationsformen werden im Praxisbeitrag Rulands erörtert. Er eröffnet die Perspektive, dass eine konsequente Modularisierung nicht der einzige Reformweg in der beruflichen Bildung sein muss. In der deutschen Berufsbildungspraxis haben sich bereits verschiedene Formen zur Differenzierung und Flexibilisierung von Berufen etabliert. Das deutsche Berufsbildungsgesetz eröffnet dafür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten.

Rulands zeigt weiter, dass der Modularisierung beruflicher Bildung in Bereichen, die der Erstausbildung vor- oder nachgelagert sind, ein besonderer Stellenwert zukommt. Das sind die Qualifizierungsbausteine der Ausbildungsvorbereitung und die Ausbildungsbausteine, wie sie in der beruflichen Nachqualifizierung zu finden sind. Im letzten Teil seines Beitrages zeigt er, dass es in der Wirtschaft zusätzliche Differenzierungsbedarfe gibt, vor allem hinsichtlich der stärkeren Berücksichtigung der Leistungspotenziale von Auszubildenden und der stärkeren Berücksichtigung (einzel-)betrieblicher Erfordernisse.

Im Theorieteil zu Österreich stellen Schlögl und Gramlinger fest, dass dort die Diskussionen zur Modularisierung in der beruflichen Erstausbildung erst seit kurzem geführt werden. Ähnlich wie in Deutschland stehen auch hier die Modernisierung und Flexibilisierung der beruflichen Bildung, die Erhöhung der betrieblichen Ausbildungsbeteiligung, die bessere Verzahnung von Aus- und Weiterbildung sowie die Anschlussfähigkeit an internationale Klassifizierung (EQF, ECVET) im Vordergrund. Auch Österreich hält bei allen Modularisierungsbestrebungen am Berufsprinzip fest. Eher kritisch wird der fehlende wissenschaftliche Diskurs zur Modularisierung betrachtet. Theoretische Reflexion und begriffliche Bestimmung, was Modularisierung konkret für Österreich bedeutet, lassen sich nicht finden. Dennoch, es hat sich hier eine Modularisierungsform von Lehrberufen als Organisationsprinzip beruflicher Bildung durchgesetzt. Diese eine Modularisierungsform beschreibt Tritscher-Archan nun am Beispiel von zwei Berufen genauer: am Beispiel der Installations- und Gebäudetechnik sowie am Beispiel der Holztechnik. Sie vermerkt kritisch, dass das Modularisierungskonzept Österreichs seit seiner Einführung noch keiner Evaluierung unterzogen wurde. Lediglich im Vorfeld der Gesetzeseinführung wurden Expertenbefragungen zur Modularisierung durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Befragung fasst sie im letzten Teil ihres Beitrags zusammen.

Gonon fasst den Diskussionsstand zur Modularisierung in der Schweiz zusammen. Hier entsteht der Eindruck, dass die Modularisierung beruflicher Bildung in der Schweiz einen im Vergleich zu Deutschland und Österreich geringeren Stellenwert einnimmt, zumindest in der beruflichen Erstausbildung. Derzeit lassen sich nur in einigen wenigen Teilbereichen der Ausbildung, insbesondere im Informatikbereich, aber vor allem in der Weiterbildung und im Hochschulsystem Modularisierungsansätze finden. In der beruflichen Grundbildung (Erstausbildung), sind sie bislang offenbar kaum zu finden. So sind in der Schweiz die Diskussionen über die in der Erstausbildung anwendbaren Modularisierungskonzepte noch in vollem Gange. Marty stellt im Praxisteil das schweizerische „Baukastenmodell“ vor. Er erläutert kurz den historischen Entwicklungsweg und erklärt die Begrifflichkeiten und Ziele dieses Systems. Darin werden Parallelen zum britischen Modulsystem, aber auch zur beruflichen Nachqualifizierung Deutschlands deutlich.

Im letzten Teil richten Deißinger und Ertl ihren Blick nach Großbritannien. Zunächst fragt Deißinger, ob die Berufsbildung im angelsächsischen Format, im Kontext „europäischer Harmonisierungsbestrebungen“ im Bildungswesen, ein Vorbild für die Modularisierung beruflicher Bildung im deutschsprachigen Raum sein kann. Er macht klar, dass das britische NVQ System als „Gegenmodell“ zum deutschen Ausbildungssystem betrachtet werden kann. Rechtlich, organisatorisch und didaktisch wird es stark durch liberale Grundsätze geprägt. Es trifft keine konkreten Aussagen über Qualifizierungsverläufe, Qualifizierungszeiten oder Inhalte. Im Vordergrund stehen die Lernergebnisse und Kompetenzen – im Sinne von Fähigkeiten und Fertigkeiten – über die der Einzelne am Ende verfügen muss, um eine bestimmte Tätigkeit ausüben zu können. Letzteres führt dazu, dass dieses System in erster Linie ein „Zertifizierungs-„ bzw. „Berechtigungssystem“ ohne curriculare Basis darstellt, womit die Befähigung nachgewiesen wird eine bestimmte Arbeit ausführen zu können. So bewegt sich das britische System zwischen traditioneller und innovativer Programmatik, mit einer hohen Ausbildungsbeteiligung, einem hohen Grad der Individualisierung und Flexibilität. Andererseits gilt es aber im hohen Maße als intransparent, stark fragmentiert, als kaum standardisiert, als unterreglementiert und wird auch aus wissenschaftlicher Sicht oft kritisiert. So ist fraglich, ob es als Reformvorlage im deutschen Sprachraum tatsächlich geeignet ist.

Im Praxisteil verknüpft Ertl eine der aktuellsten Entwicklungen im britischen (englischen) Berufsbildungssystem, die „14-19 Diplomas“ mit der Frage, ob es sich dabei um einen grundsätzlich neuen Weg der britischen Berufsbildung handelt. Nach einer historischen Betrachtung der Modularisierung des britischen Berufsbildungssystems und einer genauen Strukturanalyse der „Diplomas“ und ihrem Vergleich mit dem NVQ kommt er zu dem Ergebnis, dass es sich dabei eigentlich nur um die Fortsetzung des Alten im neuen Format handele.

Abschließend fasst Pilz die Ergebnisse der Einzelbeiträge in einem Ländervergleich zusammen. Als Fazit werden zwei zentrale Ergebnisse festgehalten: Erstens, es lassen sich bereits verschiedene gemäßigte Modularisierungskonzepte in der deutschen Berufsbildungspraxis finden. Diese gehen mit den formalen Rahmenbedingungen beruflicher Bildung in den einzelnen Ländern konform. Auch die Autoren der Einzelbeiträge haben das verdeutlicht. Diese werden in den bestehenden Ausbildungsstrukturen als „neue Form von Beruflichkeit“ akzeptiert. Insbesondere das deutsche System weist hier eine erstaunliche Vielfalt auf, die den meisten Lesern des Bandes so noch nicht bewusst sein wird.

Zweitens, es wird differenziert in „radikale“ und „gemäßigte Modularisierungsansätze“. Vermutlich wird sich im deutschsprachigen Raum nur eine gemäßigte Form der Modularisierung in der beruflichen Erstausbildung durchsetzen können. Grund dafür ist, das Festhalten am Berufsprinzip im deutschen Berufsbildungssystem. Damit wird gezeigt, dass Modularisierung keineswegs eine entweder-oder-Entscheidung ist, und dass Modularisierung nicht zwangsläufig die Ablösung des Berufskonzeptes meint. Zumindest nicht im Kontext einer „gemäßigten Modularisierung“, wie sie im deutschsprachigen Raum angestrebt wird.

Insgesamt weist der vorliegende Band eine große innere Kohärenz auf. Das liegt zum einen an seiner sehr klaren Zielstellung, zum anderen an den Leitfragen, die dem Leser zu Beginn an die Hand gegeben werden. Der Band gibt viele kurze Einblicke in den aktuellen Diskussions- und Entwicklungsstand der verschiedenen Berufsbildungssysteme. Für diejenigen, die mit dem Thema „Modularisierung“ nicht vertraut sind, eröffnet er einen guten Einstieg. Sehr interessant ist die Kontrastierung deutscher und britischer Berufsbildung. Hier vor allem die Erkenntnis, dass sich die Systeme in ihren Grundprinzipien und Strukturen bislang zwar erheblich voneinander abheben, dass es aber von beiden Seiten eine Annäherungen der Systeme gibt.
Abschließend noch drei kritische Anmerkungen: Für diejenigen, die mit dem schweizerischen Berufsbildungssystem nicht vertraut sind, ist der Praxisbeitrag schwer verständlich. Es wird nicht deutlich, zu welchem Teil des beruflichen Bildungssystems das von Marty beschriebene Baukastenprinzip zählt und welchem Bildungsbereich es zuzuordnen ist.
Weiter bemühen sich die Autoren des Sammelbandes sehr, eine gewisse Objektivität in ihren Beiträgen zu wahren und eine einseitig polarisierende Sichtweise auf die Modularisierung beruflicher Bildung zu vermeiden. Problematisch ist dabei, dass die Kritik sich allein auf den Verlust des Berufsprinzips ausrichtet. Lediglich bei Frommberger wird angedeutet, dass es auch um die Frage der Verwertbarkeit und der betrieblichen Anerkennung von Abschlüssen und Zertifikaten geht. Dass es bspw. eben auch tarifpolitische Probleme oder die Marginalisierung einzelner Personengruppen ein Thema sein kann, wird nicht angesprochen. So erscheinen die Darstellungen zur Position der Kritiker und auch die Darstellung der bestehenden Praxisprobleme eher unvollständig.

Schließlich werden die Grundintentionen und Probleme in den bestehenden Berufsbildungssystemen, die für eine Modularisierung dieser Systeme sprechen, sehr ausführlich beschrieben, nämlich Flexibilisierung, Anschlussfähigkeit usw. Damit liegt der Fokus des Bandes auf den Strukturen des Berufsbildungssystems und bei den Betrieben. Zu kurz kommt dabei die Frage, welche konkreten Vorteile eine Modularisierung beruflicher Bildungsgänge für die Adressaten bzw. Nachfrager beruflicher Bildungsangebote hat. Warum sind modularisierte Bildungsgänge auch für ihre Adressaten besser, oder – vielleicht auch schlechter?

Als Fazit bleibt, dass es sich um ein sehr lesenswertes Buch handelt, das einen guten Einblick in die derzeit gefĂĽhrten Modularisierungsdiskussionen gibt.
Dietmar Heisler (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dietmar Heisler: Rezension von: Pilz, Matthias: Modularisierungsansätze in der Berufsbildung, Deutschland, Ă–sterreich, Schweiz sowie GroĂźbritannien im Vergleich. Bielefeld: Bertelsmann 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376394218.html