Der von Stefan Hößl, Lobna Jamal und Frank Schellenberg herausgegebene Sammelband beschäftigt sich mit Fragen der politischen Bildung im Kontext von Islam und Islamismus. Die öffentliche und wissenschaftliche Debatte über diesen Themenkomplex gleicht nicht selten einem ideologiepolitischen Minenfeld, in dem unterschiedliche gesellschaftliche Akteure um die Deutungshoheit über die relevanten Begriffe und Phänomene ringen. Die resultierenden, häufig emotional aufgeheizten Diskurskonstellationen sind teilweise recht unübersichtlich und auch durch eigentümliche, in der Regel unfreiwillige Allianzen und Wechselwirkungen geprägt (etwa wenn sowohl Islamist_innen als auch Rechtsextremist_innen und -populist_innen mit essentialistischen und reduktionistischen Vorstellungen `des wahren Islams´ operieren oder wenn Vertreter_innen islamistischer Doktrinen wissenschaftliche Kritiken an der Diskriminierung von Muslim_innen für eigene ideologische Zwecke instrumentalisieren). Dies macht es – gerade im Kontext politischer Bildung – umso wichtiger, ein differenziertes, theoretisch-begrifflich präzises und empirisch informiertes Bild der relevanten Sachverhalte und Herausforderungen vorzulegen, das als diskursives Gegengewicht gegen einseitige, unterkomplexe, zweckdienlich aufbereitete und verwandte Deutungsschablonen fungieren kann.
Die deskriptiv-analytische Klärung von Abgrenzungs- und Zuordnungsproblemen, etwa zwischen Islam und politischem Islamismus, ist, so die Herausgeber_innen in ihrer informativen Einleitung, insbesondere in der aktuellen Debattenlage wichtig, in der der – in vielen Fällen selektive und ideologisch fixierte – Blick auf hochgradig heterogene muslimische Lebenswelten durch weit verbreitete antimuslimische Vorurteile und damit einhergehende „simplizistische Islambilder“ (13) verstellt wird. Ein in dem Band zurecht immer wieder aufs Neue aufgegriffenes Leitmotiv verweist daher auf die Gefahr einer Reproduktion antimuslimischer Feindbilder und Diskurse (bzw., so der in dem Band häufig genutzte Begriff: antimuslimischer Rassismus) auch in der politischen Bildung und damit möglicherweise verbundene kontraintentionale Effekte (etwa wenn Präventionsmaßnahmen gegen Radikalisierung speziell auf Muslim_innen zugeschnitten werden, denen selektiv Defizite attestiert und die als potentielle Terrorist_innen adressiert werden und dadurch – häufig zusätzlich zu bestehenden Ungleichheiten und -behandlungen – stigmatisiert und diskriminiert werden). Den Autor_innen des Bandes – so viel sei vorneweg festgehalten – gelingt es auf hohem theoretischem Niveau und in der Regel mit der gebotenen distanzierten Sachlichkeit die relevanten pädagogischen und politischen Problemvorgaben zu rekonstruieren und so die Debatte auf instruktive Weise fortzuführen.
Der Band ist in vier Hauptteile gegliedert, die jeweils durch Überblicksartikel eingeleitet werden. Im ersten Teil (Gegenstandsbestimmungen) sind Texte versammelt, die für den Themenkomplex lslam und Islamismus zentrales Hintergrundwissen bereitstellen. Naika Foroutan gibt zunächst einen Überblick über aktuelle Forschungsarbeiten zum Thema muslimischer Identitäten. Dabei betont sie vor allem die Vielfalt, Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität muslimischer Identitäten und legt den Fokus auf die sozialen Dynamiken ihrer Konstruktion und (re-aktiven) Formierung in gesellschaftspolitischen Kontexten (etwa als Reaktion auf verbreitete negative Fremdwahrnehmungen, in denen die Bezeichnung Muslim oder Muslimin, so ihre These, sich von einer religiösen zu einer negativ konnotierten sozialen Kategorie wandelt). Es folgen differenzierte und interessante Beiträge von Hanna Fülling zum Thema Islam und Religionspolitik in Deutschland und von Hazim Fouad und Behnam Said zur historischen Genese der Begriffe und Phänomene des Islamismus, des Salafismus und des Dschihadismus. Besonders lesenswert ist der Beitrag von Floris Biskamp zu der Kontroverse, ob und inwiefern Islamismus als genuin modernes oder als islamisches Phänomen zu deuten ist oder vielmehr – so die Argumentation von Biskamp – als „eine von mehreren möglichen Fortschreibungen islamischer Überlieferung in der Moderne“ (101). Der erste Teil wird beschlossen mit einem Beitrag von Nils Schumacher, der eine kritische Analyse über die vielen Fallstricke und Probleme einer angemessenen theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit den Themen Radikalisierung und Islamismus liefert.
Teil 2 (Professionsspezifische Verhältnisbestimmungen) beschäftigt sich mit professionsspezifischen Grundfragen und Herausforderungen der politischen Bildung im Kontext von Islam und Islamismus. Der erste Beitrag stellt eine Fachdebatte ausgewiesener Expert_innen aus der politischen Bildung dar, die u.a. entlang der Themen normative Grundlagen und Kritik, Wirkungserwartungen und Prävention gefĂĽhrt wird. Auch hier werden Probleme der Reproduktion fragwĂĽrdiger gesellschaftlicher Diskurskonstellationen durch PräventionsmaĂźnahmen diskutiert, ebenso Fragen der Abgrenzung zwischen mehr oder minder normalem jugendlichen Abweichungsverhalten und problematisierungsbedĂĽrftigen Radikalisierungsprozessen, zwischen Prävention und politischer Bildung. Es folgen ein Beitrag von Wolfgang Sander zur Debatte ĂĽber die Wiederentdeckung von Religion und damit verbundenen Aufgaben und Herausforderungen politischer Bildung im Rahmen liberaler Demokratien, sowie Beiträge von Kemal Bozay und Gudrun Hentges zum Verhältnis der politischen Bildung zu angrenzenden Professionen (insbesondere soziale Arbeit) und von Katja Schau, Maria Jakob und Björn Milbradt zum Problem einer zielgruppenspezifischen Ausrichtung von PräventionsmaĂźnahmen. Der letzte Beitrag dieses Teils von Tarek Badawia und Said Topalović diskutiert Fragen nach der Möglichkeit von Islamismusprävention durch die schulische Institutionalisierung politischer Bildung, welche sich ja auf Grund der ungeklärten politischen Zuständigkeits- und Repräsentationsfragen als notorisch schwierig erweist.
In Teil 3 (Fokussierungen auf ausgewählte Inhalte) werden ausgewählte Inhalte zum Themenkomplex politische Bildung, Islam und Islamismus dargestellt. Der erste Beitrag von Saba-Nur Cheema beschäftigt sich mit dem Spannungsfeld zwischen legitimer Kritik am Islam und der Deutung solcher Kritik als antimuslimischen Rassismus. Abgesehen von einzelnen Schwierigkeiten, die der rassismuskritische Begriffsapparat mit sich bringt (etwa Kritiken des concept stretching), ist Cheema in ihrer Diagnose einer doppelten Gefahr einer ggf. auch rassistisch begründeten Islamfeindschaft im Gewande der Islamkritik und einer Immunisierung gegen Kritik und Empirie durch Rassismusvorwürfe zuzustimmen. Es kommt eben hier, wie in anderen Kontexten auch, auf den Kontext und die Intention an, mit der Kritik geübt und ¬– und dies sollte im Mittelpunkt stehen – wie diese begründet wird.
Daniela Pisoiu verweist in einem kritisch gehaltenen Beitrag darauf, dass häufig postulierte Zusammenhänge zwischen Diskriminierung und Radikalisierung auf empirisch eher wackeligen Füßen stehen und es häufig schwierig ist, hier direkte kausale Zusammenhänge nachzuweisen. Stefan Hößl setzt sich auf differenzierte Weise mit der Diskussion über Antisemitismus unter Muslim_innen auseinander, ein Topos, der ebenfalls mit dem Verdikt des antimuslimischen Rassismus belegt wird, gerade weil er häufig von Rechtspopulist_innen vorgebracht wird.
Konzedieren muss man jedoch, dass insbesondere auf einer global-vergleichenden Ebene die Zahlen hier recht eindeutig zu sein scheinen ¬– auch wenn es unklar bleibt, wie die Zusammenhänge genau zu interpretieren sind und welche Rolle Religion dabei tatsächlich am Ende spielt (305). Es scheint daher zumindest fragwürdig, so die Einschätzung von Hößl, wenn in der Debatte die Ergebnisse der entsprechenden nationalen und internationalen Studien [1] einfach ausgeblendet werden (303). In einer qualitativen Studie weist Hößl dann nach, dass religiöse Orientierungen einerseits als Grundlage von Antisemitismus fungieren können, aber andererseits in universalistischen Auslegungen auch Gegenargumente und -motivationen gegen Antisemitismus liefern können. Darüber hinaus vertritt er die These, dass die spezifische Codierung von Gemeinschaft (religiöse, ethnische, nationale) in antisemitischen Vorstellungswelten eher sekundär relevant zu sein scheint, was Ansatzpunkte für eine zielgruppenübergreifende antisemitismuskritische Bildungsarbeit liefert. Eine wichtige Rolle sollte in diesem Zusammenhang, so seine plausible Argumentation, zudem ein pluralistisches Modell von Identität spielen, wie es von Sen vorgelegt wurde. Die letzten beiden Beiträge dieses Teils von Meltem Kulaçatan und Bekim Agai beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Gender, Islam und Islamismus sowie mit dem Verhältnis von Nationalismus und Religion am Beispiel der Türkei.
Der vierte Teil (Erfahrungen aus der Praxis) stellt aus der Sicht von Praktikern Beispiele aus der Islamismusprävention vor, die die vielen konkreten Probleme einer diskriminierungssensiblen Präventionsarbeit verdeutlichen. Die klugen Beiträge ¬– von denen man insbesondere den von Jochen Müller von ufuq.de hervorheben kann ¬– zeigen allesamt, wie wichtig es für Wissenschaftler_innen auch in Zukunft sein dürfte, in konstantem Austausch mit Praktiker_innen zu arbeiten. Jenseits allzu eindeutiger und simpler Ableitungs- und Verwendungsambitionen von der Theorie in die Praxis sollten wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzungen mit dem Thema idealiter in einem Verhältnis der wechselseitigen Korrektur stehen.
Kurzum: Der Sammelband ist ein must read fĂĽr alle, die sich fĂĽr Fragen der politischen Bildung im Kontext von Islam und Islamismus interessieren und kann ohne Vorbehalte weiterempfohlen werden.
[1] hierzu auch: Brumlik, M. (2020). Antisemitismus. Stuttgart: Reclam.
EWR 21 (2022), Nr. 1 (Januar)
Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus
Bonn: Bundeszentrale fĂĽr politische Bildung 2020
(430 S.; ISBN 978-3-7425-0399-2; 4,50 EUR)
Caroline Bossong und Johannes Drerup (Dortmund; Amsterdam/Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Caroline Bossong und Johannes Drerup: Rezension von: Hößl, Stefan / Jamal, Lobna / Schellenberg, Frank: Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus. Bonn: Bundeszentrale fĂĽr politische Bildung 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978374250399.html
Caroline Bossong und Johannes Drerup: Rezension von: Hößl, Stefan / Jamal, Lobna / Schellenberg, Frank: Politische Bildung im Kontext von Islam und Islamismus. Bonn: Bundeszentrale fĂĽr politische Bildung 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.01.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978374250399.html