Die vollzeitschulische Berufsbildung erfreut sich in Österreich großer Beliebtheit, und auf den ersten Blick scheint es so, als ob wir es hier – insbesondere mit Blick auf den kritischen Übergang aus dem Bildungs- in das Beschäftigungssystem – mit einem „good-practice“-Modell zu tun haben. Vor diesem Hintergrund wird die Übergangsproblematik in Österreich auch weniger intensiv diskutiert als in den beiden anderen Ländern, wo „Wartesaalkonstruktionen und Auffangbecken geschaffen werden“ (31) mussten.
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine Dissertation, in der sich die Autorin sowohl theoretisch als auch empirisch mit der Berufsbildungswahl von Hauptschüler/innen in Österreich beschäftigt. Die Autorin möchte damit „einen Beitrag zur Übergangsforschung an der ersten Schwelle in Österreich“ (164) leisten. Anzumerken ist an dieser Stelle, „dass in Österreich im Unterschied zu Deutschland keine Realschule existiert“ (5), die Sekundarstufe I besteht somit aus zwei „Ausbildungssäulen“ (4), nämlich der gymnasialen Unterstufe und der Hauptschule. Die Sekundarstufe II ist maßgeblich durch die berufliche Erstausbildung geprägt, rund 80% der Jugendlichen der zehnten Schulstufe befinden sich in einem beruflichen Bildungsgang. Trotz dieser quantitativen Bedeutung dieser „ersten Schwelle“ im österreichischen System, gibt es dazu bislang kaum Untersuchungen, woraus sich die Relevanz der vorliegenden Studie nachvollziehbar begründen lässt.
In ihrer Einleitung formuliert die Autorin die Forschungsfragen, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden:
- Für welche Berufsbildungswege entscheiden sich Hauptschüler/innen unmittelbar vor dem Übertritt an der ersten Schwelle?
- Welchen Einfluss hat das sozioökonomische Umfeld auf die Entscheidung zwischen dualer Ausbildung, berufsbildender mittlerer und höherer Schule unmittelbar vor der ersten Schwelle?
- Welchen Einfluss haben personale Faktoren auf die Entscheidung zwischen dualer Ausbildung, berufsbildender mittlerer und höherer Schule unmittelbar vor der ersten Schwelle?
- Welchen Einfluss haben die beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten auf die Entscheidung zwischen dualer Ausbildung, berufsbildender mittlerer und höherer Schule unmittelbar vor der ersten Schwelle?
- Welche Schülergruppen wählen welchen der drei Berufsbildungswege, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die berufsbildenden Qualifizierungswege?
Im zweiten Untersuchungsabschnitt erörtert die Autorin verschiedene Berufswahltheorien – darunter entwicklungstheoretische Ansätze, persönlichkeitspsychologische Theorien, entscheidungstheoretische Ansätze sowie soziologische und sozioökonomische Theorien – und bewertet diese hinsichtlich ihrer Eignung für die anschließende empirische Untersuchung des Berufsbildungswahlverhaltens von Hauptschüler/innen in Österreich.
Als Grundlage für die empirische Untersuchung zieht sie schließlich die soziologischen und sozioökonomischen Theorien heran, wobei die Autorin dabei in Anlehnung an Seifert 1977 die drei Kategorien „Sozioökonomisches Umfeld“, „Personale Faktoren“ und „Aktuell berufliche Ausbildungsmöglichkeiten“ als „Faktorencluster“ definiert (88). In der „Generierung dieses theoretischen Ansatzes“ sowie in dessen empirischer Evaluierung sieht die Autorin „den zentralen Erkenntnisfortschritt dieser Dissertation“ (88).
Den Kern der vorliegenden Arbeit bildet der dritte Abschnitt (Kapitel 6 bis 9), in dem die eingangs formulierten Forschungsfragen in einer empirischen Studie aufgegriffen werden. Mit einem Online-Fragebogen wurden insgesamt 858 Schüler/innen der 8. Schulstufe (letztes Jahr der Sekundarstufe I) in den Bundesländern Wien und Niederösterreich befragt, die Rücklaufquote betrug 63,9 %. Die Schüler/innen wurden dabei nach den Merkmalen „Regionale Herkunft“, „Geschlecht“, „Muttersprache“ sowie dem „Bildungsniveau der Eltern“ differenziert.
Während die Frage 1 deskriptiv beantwortet wurde (Bildung von Häufigkeiten und Mittelwertvergleiche), wurden für die Fragen 2 bis 4 Hypothesen generiert, die auf ihre empirische Haltbarkeit hin überprüft wurden. Die Hypothesen wurden auf Basis der im zweiten Teil hergeleiteten Kategorien gebildet, die wiederum den zuvor formulierten Forschungsfragen entsprachen. Bei der Frage 5 handelt es sich um eine bildungspolitische Fragestellung, zu deren Beantwortung eine Regressionsanalyse (logistische Regression) sowie eine Clusteranalyse und eine Panelerhebung herangezogen wurden. Die daraus resultierenden Befunde dienten wiederum als Grundlage für eine ausführlichere Diskussion der möglichen Konsequenzen für die verschiedenen Berufsbildungswege.
Auch wenn die abschließende Interpretation und Diskussion der Ergebnisse verhältnismäßig knapp ausfällt, so vermittelt der letzte Abschnitt doch ein recht klares Bild der Rolle der verschiedenen Berufsbildungswege im österreichischen Bildungssystem. So zeigt sich, dass nicht nur die BHS, an der neben einem Berufsabschluss auch die Hochschulzugangsberechtigung vergeben wird, eine „attraktive Option“ (160) für die Hauptschüler/innen darstellt, sondern dass auch für die BMS die „starke Position […] neben der dualen Ausbildung empirisch belegt werden kann“ (161). Allerdings folgert die Autorin aus der Clusteranalyse, dass hier regional differenziert werden müsse.
Die Cluster wurden getrennt nach Ausbildungswegen auf Basis der folgenden Variablen gebildet: Interesse an den Inhalten der Ausbildung; Zufriedenheit mit der Ausbildungswahl; Wunschausbildung („Meine gewählte Ausbildung ist meine absolute Wunschausbildung“); Notendurchschnitt in Mathematik, Deutsch und Englisch (je niedriger der Notendurchschnitt, desto besser die Leistungen der Schüler/innen); Stadt / Land. Insgesamt konnten so sieben Cluster gebildet werden. Je zwei Cluster ergaben sich für die BMS und die Lehre vorwiegend aus dem Kriterium Stadt/Land. Die Schüler/innen in der ländlichen Region waren generell zufriedener mit dieser mittleren Ausbildungsoption als die Schüler/innen in der Großstadt, wo die BMS eher eine „Kompromisslösung“ (154) darstellte und die Lehre tendenziell von den „schwächsten Hauptschüler/innen“ (154) gewählt wurde.
Für die BHS führte die Clusteranalyse zu drei Clustern: Ein Cluster für die Hauptschüler/innen in der Großstadt und zwei Cluster für die Hauptschüler/innen in der ländlichen Region. Die beiden Cluster für die BHS in der ländlichen Region wurden aufgrund unterschiedlicher Werte für Interesse, Zufriedenheit und Wunschausbildung sowie einem signifikant abweichenden Notendurchschnitt gebildet. Die „Teilung der niederösterreichischen Schüler/innen in zwei Gruppen“ stellt nach Einschätzung der Autorin einen „interessanten Befund“ dar (149), den sie dahingehend interpretiert, dass die Polyvalenz der BHS (Studierfähigkeit und Berufsausbildung) für eine Gruppe von höherer Bedeutung sei, während für die andere Gruppe eher der „berufsausbildende Aspekt der BHS“ (149) im Vordergrund stehe. Zwischen dieser letztgenannten Gruppe und den städtischen Schüler/innen gebe es Ähnlichkeiten.
Der kursorische Vergleich der österreichischen BMS mit dem deutschen „Übergangssystem“ vermag an dieser Stelle nur wenig zu überzeugen. Zwar wird das deutsche Berufsbildungssystem im ersten Teil der Arbeit dargestellt und einer Kurzanalyse unterzogen, allerdings ist die Darstellung der schulischen Berufsausbildungsmöglichkeiten in Deutschland nur wenig ausdifferenziert und es fehlt an entsprechenden Belegen. Die Motive der Bildungswahl der Schüler/innen, die sich in Deutschland an einer beruflichen Vollzeitschule befinden, werden beispielsweise nicht weiter hinterfragt. Die Schlussfolgerung, dass die „BMS […] kein reines Sammelbecken für sozial-benachteiligte Schüler/innen [ist], wie dies teilweise bei den Übergangssystemen in Deutschland der Fall ist“ (161) ist nicht ohne Weiteres haltbar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Clusteranalyse zur Erkenntnis geführt hat, dass die österreichische BMS für städtische Schüler/innen auch eher eine „Kompromisslösung“ darstellt.
Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit jedoch um einen interessanten Beitrag zur Übergangsforschung aus österreichischer Sicht, sodass die Autorin ihrem eigenen Anspruch durchaus gerecht wurde. Neben der klaren Strukturierung der Untersuchung besteht eine weitere Stärke dieser Arbeit in den zahlreichen grafischen und tabellarischen Darstellungen der im Laufe der Untersuchung angesprochenen Sachverhalte. Das empirische Vorgehen wird in der vorliegenden Publikation ausführlich dokumentiert.