Der von Wigger und Dirnberger herausgegebene Band fokussiert auf mögliche verschiedene Formen des Erinnerns an „the unimaginable horrors of World War II“ (1) in Deutschland und Japan, darauf, wie sich Erinnerungskultur in diesen Nationen entwickelt hat, welche Implikationen dies für die Pädagogik hat(te) und welche Herausforderungen sich zukünftig in diesem Zusammenhang für Pädagogik, Gesellschaft, Gedenken und Erinnern noch stellen werden. Der Band stellt die nationalen Gedenk- und Erinnerungskultur(en) in Deutschland und Japan vergleichend dar, indem vergangene und gegenwärtige Entwicklungen und Debatten analysiert und empirische Fallstudien herangezogen werden, die sich auf neue Quellen beziehen (1). Er umfasst elf englischsprachige Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus beiden Ländern.
Kurz zur historischen Einordnung: Deutschland und Japan waren seit 1940 nicht nur Verbündete und Japan führte (im Dreimächtepakt zusammen mit Italien) nicht nur Krieg gegen die USA (Pearl Harbor 1941 etc.), sondern Japan fiel bereits 1931 in China und Korea ein, verwüstete diese Länder und tötete Millionen von unschuldigen Menschen im Asien-Pazifik-Krieg bis 1945, ähnlich wie das Deutsche Reich Osteuropa. Deutschland wie Japan vergingen sich in diesen Kriegen zigfach an der Zivilbevölkerung, um das Land für ihre „reinrassigen“ Siedler frei zu machen. Teilweise wird das damalige Kriegsgeschehen und die Taten der Japaner im Pazifikraum international ausgeblendet, da die Atombombenabwürfe durch die USA auf Hiroshima und Nagasaki im Vordergrund des Erinnerns stehen. In der Erinnerungskultur beider Staaten nach 1945 gibt es ähnliche Strategien und Entwicklungen. Sowohl in Deutschland als auch in Japan wird der Geschichtsrevisionismus in den letzten zwei Jahrzehnten wieder präsenter und zeigt, dass die faschistischen und rassistischen Ideologien nie wirklich verschwunden waren.
Lothar Wigger geht in seinem Artikel „Theodor W. Adorno and the Vergangenheitsbewältigung in the Early Years of the Federal Republic of Germany” (13–30) vor allem auf die historische Entwicklung der Erinnerungskultur in den 1950er und teilweise 1960er ein und zeigt, wie Adornos kritischer Blick auf diese „Vergangenheitsbewältigung“ nicht nur damals Relevanz hatte, sondern noch heute relevant wird, da eine kontinuierlich vorhandene antisemitische, rassistische und faschistische politische Einstellung der Bevölkerung der BRD nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges seit 1945 bis heute präsent ist. Adornos Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ hat nicht nur 1967 nationalistische Überzeugungen in der Bevölkerung aufgedeckt und identifiziert, sondern diese lassen sich genauso auf die politische Situation der Gegenwart übertragen. Markus Rieger-Ladich, Milena Feldmann und Flora Petrik führen in „Contested Remembrance. The “Old” Federal Republic and “New” Right Politics in Germany” (31–44) die von Wigger genannte Darstellung der Entwicklung und die verschiedenen Gruppierungen der sogenannten „Neuen Rechten“ weiter und legen dar, welche Strategien des Revisionismus sie anwenden und wie sie damit die vorhandene Erinnerungskultur attackieren und diese in Frage stellen.
Die folgenden drei Beiträge beziehen ihre Analyse auf die revisionistischen Entwicklungen in Japan. Sven Saaler „Japan’s Soft Power and the “History Problem”” (45–66) rekonstruiert, wie sich in Japan nach dem Ende des zweiten Weltkriegs revisionistische Perspektiven in den letzten 20–30 Jahren verstärkt haben und sich in politischen Zusammenhängen präsentieren. Dazu gehören bspw. Positionen, dass Japan keinen „Aggressionskrieg“ geführt habe, sondern sich in der Pazifikregion verteidigen und Stärke zeigen musste, oder dass es die chinesichen und koreanischen, „comfort women“ („Trostfrauen“) angeblich nicht gegeben habe (55). „Comfort women“ sind Frauen, die im Krieg zur Prostitution gezwungen bzw. vergewaltigt wurden und an der Front den Soldaten dadurch ‚Trost‘ und mehr Moral zum Kämpfen geben sollten. Am Beispiel des Nanjing Massakers (1937/38), bei dem schätzungsweise hunderttausende chinesische Zivilisten getötet wurden,zeigt Kasahara Tokushi in „The Nanjing Massacre in Japanese Historiography and Education” (67–78), wie dieses historische Ereignis, das die Greueltaten der japanischen Armee während des Asien-Pazifik-Krieges demonstriert, von der revisionistischen Regierung Abe Shinzos (2006–2007, 2012–2020) und anderen politischen Akteuren aus der Erinnerungskultur Japans systematisch entfernt oder bis zur Unkenntlichkeit relativiert wurden. Beispielsweise wurde das Massaker aus Schulbüchern als solches herausgestrichen und wird nur als Vorfall mit nicht historisch korrekt nachvollziehbaren Opferzahlen genannt. Ken`iche Mishimas Beitrag „Moral Education and Historical Revisionism” (79–91) zeigt, wie in Schulen Moralerziehung von Revisionisten genutzt wird, um Geschichte zu relativieren oder national „unangenehme“ historische Ereignisse ganz und gar zu verleugnen.
In den folgenden beiden Beiträgen stehen Erinnerungsorte in Japan im Fokus und wie diese für patriotische und nationalistische Zwecke genutzt werden. Justin Aukema erläutert in „Educational Tourism for the Nation? Memory and History at Japan’s War Sites” (93–108) zum einen, wie Japan seit dem Russisch-Japanischen Krieg (1906–1907) und nach dem Asien-Pazifik-Krieg ehemalige Kriegsschauplätze als Gedenkstätten verwendete bzw. einen regelrechten Tourismus initiierte, der teilweise staatlich gefördert wurde und noch wird. Nationalismus und Geschichtsrevisionismus wird so gefördert, weil die Gedenkstätten vor allem die nationale Größe Japans zeigen und nicht an begangene Greueltaten erinnern sollen. Collin Rusneacs „Japanese War Cemeteries and What They Teach Us About History” (109–124) geht auf einen weiteren Erinnerungsort ein, der oftmals zu wenig Aufmerksamkeit im Kontext von Gedenken erhält. Am Beispiel des kontroversen Yasukuni Schreins in Japan demonstriert er, dass dieser Friedhof – der keine Gräber oder Gebeine aufweist – nicht nur ziviler und militärischer Kriegstoter gedenken lässt, sondern ebenso 1068 Individuen ehrt, die als Kriegsverbrecher verurteilt wurden. Rusneac untersucht diesen Gedenkort kritisch und stellt dessen Funktion in Frage.
Miguel Zulaica y Mugica verweist in „The Controversy over the “Comfort Women”-Statue in the Relationship between Japan and Germany” (125–140) auf eine Kontroverse, die durch eine Statue („Statue of Peace“) entfacht wurde. Diese zeigt eine Frau, die eine sogenannte „comfort woman“ („Trostfrau“) darstellt. Der Disput wurde dadurch ausgelöst, dass Südkorea diese Statue erstellt hat und der Stadt Freiburg schenken wollte, Japan hat dies jedoch als einen Angriff auf ihre nationale Integrität angesehen und verlangte, dass die Statue nicht aufgestellt werde. Die Statue steht nach verschiedenen Stationen in Deutschland mittlerweile in Berlin-Moabit und löst weiterhin bei revisionistisch gesinnten Japanern und Japanerinnen großen Unmut aus. Die Statuen-Kontroverse zeigt, wie auch andere Beispiele im Band, dass Japan zum Teil eigene Kriegstaten verharmlost oder verleugnet. Mit dieser Haltung zur eigenen negativen Geschichte steht Japan weltweit nicht allein da, andere Länder – Deutschland eingeschlossen – zeigen sich ähnlich revisionistisch – wie etwa in Bezug auf sexualisierte Gewalt in Kriegen.
Nora Berners Text „Life Stories as Memory Carriers. Culture of Remembrance and the Importance of Biographical Work and Biographical Research” (141–156) lobt den ‚Erinnerungsweltmeister‘ Deutschland und zeigt dies anhand des Umgangs mit Lebenserzählungen, die in verschiedenen pädagogisch relevanten Bereichen genutzt werden können. Hier wird vor allem die Vorstellung einer geglückten „Vergangenheitsbewältigung“ dargestellt. Dass dies seit Jahren von verschiedenen jüdischen und nicht-jüdischen Autoren und Autorinnen in Frage gestellt wird, wird allerdings in Berners Text nicht thematisiert. Die Autorin beschreibt darüber hinaus, welche Tendenzen sich bei narrativen Interviews mit Zeitzeugen, sowohl mit Opfern wie auch Tätern, zeigen: Bei Opfern wird die Schwierigkeit präsent, die traumatisierenden Erfahrungen in Wort zu fassen, Täter tendieren dazu, ihre Erlebnisse vor 1945 zu relativieren und kein Schuldbewusstsein zu zeigen.
Die beiden letzten Beiträge im Band zeigen verschiedene Formen des Umgangs mit den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki. Yamana Juns „Encountering Absurdity Through Theater. An Essay on Remembering and Education about the Atomic Bomb in Hiroshima” (157–167) beschreibt, wie das Theaterstück „Summer Clouds Never Forget: Hiroshima and Nagasaki 1945“ die Atombombenabwürfe in Japan interpretiert. Dazu werden Gedichte und Zeitzeugenaussagen verwendet. Im Anschluss daran wird diese Aufführung – nach Albert Camus – als eine Darstellung des Absurden bezeichnet und abschließend Katastrophe, Theater und Erziehung in Verbindung mit Absurdität gedacht.
Barbara Platzer verbindet in „The Problem of Responsibility in Technological Modernity. Reflections Following Günther Anders” (169–178), von Günther Anders postulierte Thesen zur Technik und zur Atombombe mit Verantwortung zu verbinden und zeigt, wie mit ihm diese in unserer von Technik beherrschten Zeit vor allem zur Verantwortungslosigkeit verkehrt wird.
Im Sammelband werden verschiedene Entwicklungen der Erinnerungskultur und des Gedenkens in Deutschland und Japan dargestellt. In den meisten Artikeln wird sich jedoch auf jeweils nur ein Land beschränkt. Eine tatsächlich vergleichende Perspektive wäre interessant und ließe sich anhand der Texte ermöglichen. Der Band leistet dennoch einen Brückenschlag zwischen den beiden nationalen Diskursen und gibt Einblick in verschiedene Bereiche der jeweiligen Erinnerungskultur und zeigt Parallelen.
EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)
Remembrance – Responsibility – Reconciliation
Challenges for Education in Germany and Japan
Berlin: J.B. Metzler 2022
(178 S.; ISBN 978-3-662-64184-2; 69,54 EUR)
Diana Lohwasser (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Diana Lohwasser: Rezension von: Dirnberger, Lothar Wigger, Marie (Hg.): Remembrance – Responsibility – Reconciliation, Challenges for Education in Germany and Japan. Berlin: J.B. Metzler 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978366264184.html
Diana Lohwasser: Rezension von: Dirnberger, Lothar Wigger, Marie (Hg.): Remembrance – Responsibility – Reconciliation, Challenges for Education in Germany and Japan. Berlin: J.B. Metzler 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978366264184.html