Der von Yalız Akbaba und Konstantin Wagner herausgegebene Band „Die Schule der Migrationsgesellschaft im Blick. Diskriminierungskritische Lehrforschung von Studierenden“ umfasst „Ergebnisse aus den Forschungsprojekten von Studierenden, die sich aus machtkritischen, postkolonialen und poststrukturalistischen Perspektiven mit der Schule in der Migrationsgesellschaft beschäftigen“ (13). Dabei werden „neben Analysen zu rassifizierenden Strukturen auch sol¬che über Diskriminierungsverhältnisse zu Gender, sexueller Orientierung und Sprache“ (ebd.) vorgenommen. Allen Beiträgen liegt eine diskriminierungskritische Perspektive zugrunde, mit der die Schule als von Dominanz- und Differenzverhältnissen geprägten Ort begriffen und die Aufgabe formuliert wird, zu untersuchen, wie migrationsgesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse durch natio-ethno-kulturell kodierte Unterscheidungspraktiken hergestellt und wirksam gemacht werden [1]. Die Systematisierung der Beiträge orientiert sich an dem Didaktischen Dreieck, das sich in den Kapiteln „Schul- und Kinderbücher“, „Schüler*innen“ und „Lehrer*innen“ wiederfindet.
Im Kapitel „Einleitung" wird zunächst die theoretische Einordnung der im Rahmen des forschenden Lernens entstandenen Forschungsberichte vorgenommen. Die Herausgeber*innen geben einen Überblick über rassifizierte Zugangsbeschränkungen zu gesellschaftlichen Gütern wie formale Bildung, sowie über rassistische Unterscheidungslogiken in der Migrationsgesellschaft. Vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsergebnisse zur Involviertheit der (Lehrer*innen-)Bildung in rassistische Ungleichheitsverhältnisse plädieren die Autor*innen für diskriminierungskritische pädagogische Reflexivität als fundamentales Ziel der (Lehrer*innen-)Bildungsprozesse.
Im zweiten Teil werden Schul- und Kinderbücher in den Fokus genommen. Der Beitrag von Sebastian Jaspers und Céline Ragni untersucht „Afrikabilder in Schulbüchern der Musik“ (25) und liefert Hinweise auf eurozentristische Perspektiven und kulturalisierende Tendenzen, aber auch durchaus auf Versuche einer differenzierten und machtsensiblen Auseinandersetzung.
Der Beitrag von Farsana Daud und Julia Fischer untersucht inhaltsanalytisch die Darstellung der Kategorie „Gender“ am Beispiel von zwei Französisch-Lehrwerken und verdeutlicht dabei, dass stereotype Geschlechterrollen in den analysierten Abbildungen bis auf wenige Ausnahmen nicht nur reproduziert, sondern durch Kontextsetzungen gar verstärkt werden (63 f.).
Dem Umgang der Lehrkräfte mit rassistischer Sprache in Kinderbüchern ist der Beitrag von Annette Blum, Timo Lunkenheimer, Lena Thiele und Anna Wüst gewidmet. Zu beachten ist zum einen, dass die von den Autor*innen gewählte Definition von Rassismus lediglich den Rassenbegriff einbezieht (78) und dadurch der Untersuchungsfokus eingegrenzt wird. Zum anderen umfasst die Stichprobe ausschließlich Lehrkräfte an einer Grundschule mit dem Schwerpunkt Inklusion (78), wobei diese Schulspezifik kaum reflektiert wird. Auch lässt sich die Verortung der Analyse in dem – von den Zwängen des Regelunterrichts losgelösten – Format der Lesenacht gerade mit Blick auf das Forschungsziel, das Handeln der Lehrkräfte vor dem Kontext des „Gleichbehandlungsauftrag[s] der Schule näher zu beleuchten“ (72) kontrovers diskutieren.
Im dritten Teil stehen die Schüler*innen im Fokus der Beiträge. Die ethnografische Untersuchung von Katharina Schneider, Silke Münch, Laura Wolff, Anina Leute-Roemer und Mona Großmann liefert eine prägnante Analyse der machtvollen Rituale im Unterricht und sticht durch ihre methodische Klarheit und durchdachte inhaltliche Fokussierung heraus.
Der Beitrag von Umid Mohammad beleuchtet den „Umgang schwuler Jugendlicher mit Heteronormativität und -sexismus in der Schule“ (147). Neben dem sorgfältig ausgearbeiteten empirischen Teil (drei narrative Interviews, deren Sprecher sich in unterschiedlichen Lebensstadien – geoutet, weitgehend geoutet und teilweise geoutet – befinden,) wird ein profunder theoretischer Überblick über die bisherige Forschung zu Queerness im Kontext Schule gegeben und auf die Dringlichkeit weiterer Untersuchungen hingedeutet.
Im vierten Teil liegt der Schwerpunkt auf den Lehrer*innen. Hier soll zunächst auf die empirische Untersuchung von Samira Romero Ramirez zur "Konstruktion von ethnischer und sprachlicher Differenz in Argumentationen über Bildungsungleichheit" eingegangen werden, die – wohl irrtümlich – im Teil III abgedruckt wurde. Der Beitrag wird eingeleitet durch die ausführliche theoretische Einordnung zu den relevanten Aspekten aus Sicht der Migrationspädagogik, wobei dezidiert auf die unterschiedlichen Sprachverhältnisse in der Migrationsgesellschaft eingegangen wird. Die Untersuchung bietet Einblick in die Methode der objektiven Hermeneutik, die nicht zuletzt aufgrund ihrer hohen Komplexität kein häufiger Gast in thematisch ähnlichen Forschungsbeiträgen ist. Bei der Verknüpfung der empirischen Analyseergebnisse mit den vorhausgehenden theoretischen Überlegungen gelingt es der Autorin, die Konstruktion von ethnischer und sprachlicher Differenz in Argumentationen der Lehrkraft über die Bildungsungleichheit aufzuzeigen.
Der Beitrag von Esra Demirel und Cahen Suleiman untersucht die Ansprache der Lehrkräfte mit Migrationshintergrund durch die Schüler*innen und rückt die – so das Fazit der Autorinnen – zwangsläufige Herstellung von rassistischen Unterscheidungen in den Fokus der Ergebnisdiskussion. Wenn auch die Annahme der Zwangsläufigkeit, die anhand von lediglich zwei Beispielen erfolgt, zugegebenermaßen gewagt ist, hat das Fazit der Untersuchung – nämlich, dass rassistisch geprägte Strukturen nicht bloß durch die Einstellung von mehr Lehrkräften mit Migrationshintergrund, sondern vielmehr durch die – nach innen gerichtete – „Kritik bisheriger Thematisierungsformen von Migration“ (191) überwinden lassen –bildungspolitische Relevanz.
Der Beitrag von Issam Elmoatasimi thematisiert die Wirkungsweisen des hegemonialen Islamdiskurses auf die Subjektbildung, exemplarisch veranschaulicht durch die Analyse von Positionierungen des muslimisch markierten Anderen in der pädagogischen Praxis (195). Als Grundlage dient eine Sequenz aus einem Fallprotokoll, die mit der Methodik der Grounded Theory analysiert wird. Sowohl die Auswahl der analysierten Sequenz als auch die Analyse selbst dürften für weitere Untersuchungen anregend sein.
Abgeschlossen wird der Band durch den Beitrag von Joanna Fallscheer zu Bildungsprozessen weißer Studierender im Seminar, das sich dem Thema Rassismus(Kritik) widmet. Anhand der Inhaltsanalyse der Interviewtranskripte mit zwei Lehramtsstudierenden nennt die Autorin unter anderem angestoßene Selbstreflexionsprozesse (217 ff.) und damit einhergehende „Veränderung der Wahrnehmung auf Selbst- und Weltverhältnisse“ (ebd.) als Wirkungen des Seminars. Für die weitere Forschung wäre es sicherlich aufschlussreich, auch darauf bezogene Widerstände (221) und Irritationen genauer zu untersuchen.
Der Band bietet eine vielseitige Sammlung von Produkten forschenden Lernens, die sich aus machtkritischen, postkolonialen und poststrukturalistischen Perspektiven mit der Schule in der Migrationsgesellschaft beschäftigen (13). Dass neben den natio-ethno-kulturellen Unterschieden auch weitere Differenzlinien, die eine Schule in der Migrationsgesellschaft „mitstrukturieren“ (ebd.) im Fokus der Forschungsbeiträge stehen, ist die besondere Stärke des Bandes.
Wenngleich die Herausforderung, ganze Forschungsarbeiten zu komprimieren, nicht gleichermaßen erfolgreich gemeistert wurde und einzelne Beiträge eine profunde theoretische Einordnung oder gründliche methodische Ausarbeitung schuldig bleiben, schaffen es die empirischen Analysen durchaus, die Manifestationen, Wirkungen und Folgen von diskriminierenden Strukturen nachvollziehbar zu machen.
Von großem Wert v.a. für angehende Forscher*innen ist zudem der Einblick in unterschiedliche empirische Analysemethoden, die in den Forschungsprojekten zum Einsatz kamen. Die in den einzelnen Beiträgen anzutreffende Tendenz, anhand einer kleinen Stichprobe allgemeine Hypothesen zu bilden mit dem Hinweis, diese in nachfolgenden Forschungen überprüfen zu wollen, wirft dabei die methodologisch relevante Frage auf, wie diese Überprüfung aussehen kann und sollte. M.E. wäre es für die weitere Forschung zu den im Sammelband angeführten Projekten sinnvoll, Repräsentativität im Sinne von Repräsentanz zu denken und entsprechend nicht die Quantifizierung von Ergebnissen, sondern das Aufzeigen der Heterogenität der Phänomene im untersuchen Feld sowie die gründliche Erschließung ihrer Sinneszusammenhänge anzustreben [2].
[1] Mecheril, P., Bücken, S., Streicher, N. & Velho, A. (2020). Einleitung. In. Bücken, S., Streicher, N., Velho, A. & Mecheril, P. (Hrsg.) (2020). Migrationsgesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse in Bildungssettings. Analysen, Reflexionen, Kritik (S. 1-17, hier: S. 7). Springer VS.
[2] Institut für Soziologie der Universität Freiburg (2015): "Repräsentativität" qualitativer Forschung – Wintersemester 2015/16 (Wiki). https://institut.soziologie.uni-freiburg.de/2015ws-repraesentatitvitaet-qualitativer-forschung/wpg_9409.html (28.06.2022)
EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)
Die Schule der Migrationsgesellschaft im Blick
Diskriminierungskritische Lehrforschung von Studierenden
Wiesbaden: Springer VS 2022
(224 S.; ISBN 978-3-658-37846-2; 74,99 EUR)
Dr. phil. Alina Ivanova (MĂĽnchen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dr. phil. Alina Ivanova: Rezension von: Yalız, Akbaba, / Konstantin, Wagner, (Hg.): Die Schule der Migrationsgesellschaft im Blick, Diskriminierungskritische Lehrforschung von Studierenden. Wiesbaden: Springer VS 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365837846.html
Dr. phil. Alina Ivanova: Rezension von: Yalız, Akbaba, / Konstantin, Wagner, (Hg.): Die Schule der Migrationsgesellschaft im Blick, Diskriminierungskritische Lehrforschung von Studierenden. Wiesbaden: Springer VS 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365837846.html