
In drei Kapiteln wird der theoretische Rahmen der Studie entfaltet, welcher elterliche Erziehungsvorstellungen, Elternschaftskonzepte und Leitbilder „guter“ Elternschaft zunächst allgemein, dann bezogen auf die Kontexte Migration und Mehrsprachigkeit synthetisiert. Nach einer ausführlichen Darstellung und Reflexion der methodischen Vorgehensweise werden die Ergebnisse präsentiert und diskutiert. Den Kern bildet das Kapitel „Erziehungsziel Mehrsprachigkeit“, welches neben den Begründungen für dieses Ziel detailliert auf die Gestaltung des sprachlichen Inputs, das Vorlesen und Erzählen, den Einsatz von auditiven und visuellen Medien bis hin zu Erfahrungen mit und Perspektiven auf die sprachliche Bildung in der Kita eingeht. Ein weiteres, höchst lesenswertes Kapitel präsentiert mit „Dynamiken einer Minderheiten-Mehrsprachigkeit“ (271) die Ergebnisse der zweiten Interviewstudie.
Das zentrale Ergebnis der Studie lautet, dass alle interviewten Eltern dezidiert „eine aktive Mehrsprachigkeit“ (179) als Erziehungsziel benennen und die Umsetzung dieses Ziels planen, organisieren und beständig an sich verändernde Anforderungen (z.B. in Folge des Kindergarteneintritts) anpassen. Das bedeutet, dass sie möchten, dass ihre Kinder sowohl Türkisch als auch Deutsch aktiv verwenden können. Dabei heben die Eltern die eigene Verantwortung für die Sicherstellung eines reichhaltigen Inputs in der Familiensprache hervor und organisieren diesen aktiv sowohl in Bezug auf die dafür notwendigen Interaktionspartner:innen als auch in Bezug auf analoge und digitale Medien. Thematisiert wird ein elaborierter, kindzentrierter und quasi-partnerschaftlicher Sprachstil. Bemerkenswert ist dieses klare Ergebnis auch deshalb, weil der Interviewleitfaden keine Frage enthielt, die sich direkt auf Sprache(n) bezog, sondern allgemein nach Aktivitäten fragte, die nach Einschätzung der Eltern die Entwicklung der Kinder unterstützten.
Von der Bildungsinstitution Kita erwarten die Eltern, dass diese den Deutscherwerb der Kinder gewährleistet, so ein weiteres bedeutsames Ergebnis der Studie. Diese Erwartung wird in einigen Fällen enttäuscht, insbesondere bei Familien, die in segregierten Stadtteilen wohnen. Dort thematisieren die Familien häufiger Desinteresse der Pädagog:innen und auch Segregation in den Einrichtungen. In diesen Fällen organisieren die Familien selbst zusätzliche Unterstützung für den Deutscherwerb der Kinder.
Die Familien thematisieren eine Abnahme des Türkischsprechens der Kinder mit dem Eintritt in den Kindergarten. Uçan arbeitet heraus, dass die Eltern die Einsprachigkeitsausrichtung der Einrichtungen zum Teil kritisieren, aber nur marginal. Kein Elternteil erhebt die Forderung, dass der Kindergarten die Mehrsprachenerziehung unterstützen solle. Hierin findet sich laut Uçan ein Unterschied zu bisherigen Studienergebnissen, die ein solches Einfordern von Eltern feststellten, deren Familiensprachen europäische Sprachen waren, die auch zum schulischen Fremdsprachenkanon gehörten.
Eltern, die neben Deutsch und Türkisch eine Minderheitensprache der Türkei sprechen, entscheiden sich bewusst dafür, die Minderheitensprache im Rahmen einer familiären Dreisprachigkeit weiterzugeben, so die weiteren Ergebnisse der Studie. Eine Schwierigkeit stellt dabei das Fehlen überregionaler Varietäten dar, so dass in analogen Medien sowie im Herkunftssprachlichen Unterricht häufig nicht die Varietät verfügbar ist, die in der Familie gesprochen wird. Digitale Medien scheinen hier aber eine verbesserte Zugänglichkeit zu schaffen. Solcherart dreisprachige Eltern thematisieren eigene Erfahrungen mit Restriktionen in Bezug auf die Minderheitensprache, wie etwa das Sprachverbotsgesetz, das in der Türkei in den 1980er und 1990er Jahren Minderheitensprachen vollständig verbot, als relevant für die Auseinandersetzung mit der jetzigen Spracherziehung, die ihnen daher ein besonderes Anliegen ist.
Insgesamt kann Uçan zeigen, dass Organisation und Umsetzung des Erziehungsziels Mehrsprachigkeit in „komplexe Planungs- und Reflexionsprozesse“ (305) innerhalb der Familie eingebunden sind. Die Eltern betrachten sich selbst als verantwortlich für die Sicherstellung des für die Mehrsprachenerziehung notwendigen Inputs. Dessen Sicherstellung geschieht nicht selbstläufig, sondern bedarf wiederholter Absprachen, Reflexionen und Anpassungen an veränderte Lebensumstände und bildungsbiographische Veränderungen der Kinder. Diese umfassenden Prozesse, die die Eltern aktiv und kontinuierlich gestalten, werden dabei kaum nach außen sichtbar: Die Eltern leisten, so Uçan, „unsichtbare sprachliche Erziehungsarbeit“ (ebd.).
Es ist das große Verdienst dieser Studie, die sprachenbezogene Erziehungsarbeit der Eltern in ihrer Komplexität und Differenziertheit sichtbar zu machen. Ebenfalls hervorzuheben ist der hohe Reflexionsgrad, mit dem die Anlage der Studie kritisch reflektiert wird: die Zielgruppenherstellung „Eltern aus der Türkei“ wird von Uçan kontinuierlich als Reflexionsfolie herangezogen, um Aussagen der Eltern auch in ihrer Dimension der Zurückweisung von erfahrenen und in der Forschungssituation potenziell reproduzierten Rassialisierungen zu interpretieren. Weiterhin kontextualisiert Uçan die Aussagen der Eltern mit Leitbildern „guter“ Elternschaft, die insbesondere in Formen aktiver Elternschaft bestehen. Es zeigt sich, dass Eltern diese Leitbilder aufgreifen und ihre Erziehung kongruent zu diesen Leitbildern darstellen. Uçan hebt hervor, dass dies auch für die interviewten Väter der Studie gilt, die Spracherziehung als Teil ihrer aktiven Vaterschaft praktizieren.
Anhand eines varianten Samples sollte die Heterogenität der Zielgruppe möglichst vollständig erfasst werden. So wurden Mütter und Väter, Personen der ersten und der zweiten Migrationsgeneration sowie mit höherem oder niedrigerem Schulabschluss befragt, wobei mit „höherem Schulabschluss“ ein Abschluss definiert wurde, der nach der zehnten Schulstufe erfolgte. Das hier relevant gesetzte Merkmal „Bildungsgrad” bedarf jedoch weiterer Problematisierung. Die sprachliche Erziehungsarbeit der Eltern ist, wie Uçan herausarbeitet, mit einer umfassenden Auseinandersetzung mit (sprach-)biographischem Wissen und anderen Wissensarten zu Spracherwerb, Mehrsprachenerwerb, Spracherziehung und aktiver Elternschaft verbunden. Nicht nur erscheint diese Erziehungsarbeit unsichtbar, sondern auch die Bildungsprozesse, die dieser Erziehungsarbeit vorausgehen und diese begleiten. Das wird durch eine Relevanzsetzung des Merkmals „Bildungsgrad”, verstanden als formale Bildungsabschlüsse, zwangsläufig verstärkt. Auch hinsichtlich der Ungleichstellung, die Eltern in der Studie erfahren, erscheint die Relevanzsetzung des Merkmals „Bildungsgrad” problematisch. Die Ungleichstellung ist, wie Uçan herausarbeitet, in erster Linie durch segregierte Wohnverhältnisse und Desinteresse von Pädagog:innen bedingt. Diese Faktoren gehen in den Ergebnissen mit dem Merkmal „Bildungsgrad” einher; dennoch besteht bei einer Konzentration auf dieses Merkmal die Gefahr, diesen Zusammenhang zu verdecken. Die Studie befindet sich, gewiss auch durch die a priori Rahmung durch das übergeordnete Forschungsprojekt, in einem Dilemma, dem vergleichbar angelegte Studien nicht entkommen können. Allerdings wird gerade diesem Dilemma durch die hochdifferenzierte Darstellung und die kontinuierliche Reflexion dieses Dilemmas durch die Forscherin begegnet.
Mit der Studie „Erziehungsziel Mehrsprachigkeit” liegen nun höchst lesenswerte Ergebnisse zu Erziehungsvorstellungen mehrsprachiger Eltern sowie deren Auseinandersetzung mit den an sie herangetragenen Diskursen vor, deren Lektüre für Pädagog:innen in Praxis und Bildungsadministration, für Stadtplaner:innen und Kommunalpolitiker:innen sowie für Studierende, Forschende und Dozierende im Kontext von Mehrsprachigkeit und Bildung sehr zu empfehlen ist.