
Das Stolpern als Bewegung charakterisiert auch seinen empirisch-methodischen Zugang (Kap. 2), den er als „Weg des Denkens“ (21) bezeichnet und in dem der Forschende den Gegenstand hervorbringt, von dem er als leibliches Individuum zugleich angesprochen wird. Mangels methodologischer Alternativen entwickelt er mit Bucks „Gang-Struktur vom Konkreten zum Konkreten“ (40) und ergänzend mit Lippitz Begriff des „fungierenden Allgemeinen“ (37) eine eigene abduktive Methodik als „Stil“ (20), in der statt Begriffe „Konzeptionen“ (39) und statt Wahrheit „Tauglichkeit“ (ebd.) anvisiert werden. Mit diesem innovativen Ansatz versucht er die Grenzen der Empirie-Skepsis phänomenologischer Provinienz zu überwinden und gleichzeitig die Theorie des Negativitätslernens, die sich gegen kriteriologische Vereindeutigungen sperrt, für „Didaktik und Unterrichtsforschung“ (320) „fruchtbar(er)“ (ebd.) werden zu lassen.
Den Beginn seines theoretischen Teils (Kap. 3) gestaltet Rödel mit einer „Umschau“ (47) als kursorisch angelegten „Anfang des Theoretisierens“ (48), in der er Kollers Bildungstheorie, das Scheitern in Managerratgebern, das Sprichwort „pathein – mathein“ (58) und das Stolpern bespricht. Aus dieser heraus formuliert er erste Aspekte und Differenzen negativer Erfahrung, wie Vielfalt, Prozessstruktur, Reflexivität, pädagogische Dimension etc. Was es aber nun bedeutet ein Beispiel als Beispiel negativer Erfahrung einzuführen, wird von Rödel in Kap. 4 in Form einer „Vignettenlektüre“ (80) gezeigt. Mit dem Begriff der Vignette möchte er in Rekurs auf Agostini die Unabgeschlossenheit des Verstehens durch das Bewusstsein über die Differenz von Versprachlichung und Erfahrung pointieren. In dem Beispiel, das auf eine teilnehmende Beobachtung von Schratz zurückgeht, wird die Nichtbewältigung einer mathematischen Aufgabe des Schülers Lenny als Enttäuschung, einer darauffolgenden „Infragestellung des Selbstbildes“ (84) und einer einsetzenden Reflexivität interpretiert. Diese Interpretation wird von Rödel in Kap. 5 mit der Rekonstruktion des erziehungswissenschaftlichen Diskurses zur Negativität, den er in zwei Teile aufteilt, einer „phänomenologischen Reduktion“ (87) unterzogen. In den Diskursen der Negativität I befasst Rödel sich mit Positionen eines Themenhefts der ZfPäd von 2005 – Benner, Koch, Ricken, Mitgutsch – und in II geht er ergänzend auf Schäfer und Bühler ein. Nach einer Zusammenschau dieser Besprechungen, in der er seine Kritik an einer formallogischen Definition von Negativität und Negation als Moment einer kognitiven Operation des Urteilens untermauert, folgt eine „Re-Lektüre“ (131) der Vignette. Aufgrund der Suspendierung der theoretischen Implikationen liest er die Selbstdistanznahme Lennys nun nicht mehr als Reflexivität sondern als Selbstverlust.
Diese „zweite ‚bereinigte‘ Deskription“ (131) soll in Kap. 6 mit einer theoretischen Variation reformuliert und die „Konzeption“ der negativen Erfahrung damit weiter angereichert werden. In seinen sehr lesenswerten und kritischen Auseinandersetzungen mit der existenzphilosophischen Pädagogik Bollnows zur Bedeutung von Stetigkeit und Unstetigkeit, der hermeneutischen Lerntheorie Bucks zur Struktur der negativen Erfahrung im Lernen, und der leibphänomenologischen Pädagogik Meyer-Drawes zur Leiblichkeit, zum Widerfahrnis und zur Responsivität ragen seine theoretischen Fluchtpunkte heraus. Seine Kritik gilt dem „hermeneutischen Subjekt“ (213) Bucks, das teleologisch auf Positivität ausgerichtet wäre und dadurch das radikal Fremde nicht integrieren könne. Im leibphänomenologischen „‘gebrochenen Subjekt‘“ (213) wäre dagegen die Negativität aufgrund des vorreflexiven Selbstentzugs uneinholbar in die Erfahrung eingeschrieben und ein Raum für „Widerstand und Widerstreit“ (12) abgesteckt. Auf jede theoretische Besprechung lässt er eine Re-Lektüre folgen, in der er „Entdeckungen“ (167) und „Verdeckungen“ (168) offenlegt und drei Dimensionen herauslöst, „Situierung: Konstitutionsbedingungen und Kontexte“ (228), „Struktur: Anlass und Verlauf“ (229) und „[p]ädagogische Interaktion: Umgang mit negativen Erfahrungen“ (231).
In seinem zweiten empirischen Teil setzt er in Kap. 7 mit der bildungstheoretischen Problematisierung von Empirie nach Koller und Schäfer ein und beschäftigt sich eingehend mit Fragen der „Offenheit und Nicht-Feststellbarkeit“ (234) von pädagogischen Kategorien. Darüber hinaus argumentiert er für die Verwendung der Videographie aufgrund der erfassbaren „Multidimensionalität“ (251), der „Permanenz“ (ebd.) und der „Wiederholbarkeit“ (ebd.). Als Besonderheit von seinem und Brinkmanns Ansatz stellt er heraus, dass die Betrachtung der Datensorte Video als eine „Figur einer spezifischen Wirklichkeit des (Bewegt)Bildes“ (253) behandelt würde, die das Forschen zu einem lebensweltlich involvierten Antwortgeschehen macht. Diese Dynamik eines Antwortgeschehens tritt hier sowohl im gut dokumentierten Forschungsprozess und in der Interpretation der videographischen Beispiele hervor, die er anhand der Kategorien „Verkörperung“ (261), „Antwortgeschehen“ (276) und „Zeigen“ (279) operationalisiert. In Kap. 8 zielt er auf die „konzise Beschreibung“ (258) zweier empirischer Beispiele. In dieser gelingt es ihm, die soziale Situiertheit der negativen Erfahrung, in der die Klassenöffentlichkeit die machtstrukturierten Aushandlungsprozesse mitorchestriert, und die Dynamik vom Unterrichtsgeschehen im Kontext konfliguierender pädagogischer Motive und Bedingungen einzufangen.
Im abschließenden Rückblick und Ausblick zieht er ein zweifaches Fazit. Seine erste These, die Verstellung von negativen Erfahrungen durch die theoretische „Sakralisierung“ (307), hätte er bestätigen können. Seine zweite These aber einer „Re-Theoretisierung“ (307) von „‘radikale[n]‘ negative[n] Erfahrungen“ (308) wäre ihm nicht möglich gewesen. Ernüchternd stellt Rödel am Ende seiner Studie fest, dass er in Ansehung seines gesamten Datenkorpus keine bildenden „‘gelungenen‘“ (317) Lernprozesse im Sinne des „Negativitätslernen“ (312) beobachten hätte können und dass die negativen Erfahrungen der „Ökonomie unterrichtlicher Situationen“ (312) zum „Opfer“ (312) gefallen wären. Pädagogische Hoffnung birgt aber der von Rödel festgehaltene Umstand, dass negative Erfahrungen nicht durch den Gegenstand als Solchen sondern dessen pädagogische Transformation vermittelt durch die Aufgabenstellung ausgelöst würden. Mit diesem Hinweis eröffnet Rödel eine Perspektive pädagogisch-didaktischer Reflexion auf einem hohen theoretischen Niveau, welche er in seinen Überlegungen zu einer Kleinen Didaktik der negativen Erfahrung einfließen lässt.
Eine kritische Rückfrage an die Studie ließe sich an Rödels Verwendung des Begriffs der „Negativität“ richten. Wenn diese nicht formallogisch (z.B. Nicht-Wissen) gedacht wird, müsste „Negativität“ werttheoretisch gefasst werden. Hierfür müsste aber geklärt werden, wieso und in welcher Hinsicht eine Erfahrung eine Enttäuschung für eine Person sei. Der phänomenale Entzug als Negation scheint mir letztlich nicht hinreichend hierfür. Zudem ist die Videographie eine situative und auf Körper und weniger auf Subjekte gerichtete Erhebungsmethode, die möglicherweise die personale und biographische Dimension von Negativitätslernen nicht in den Blick bekommt. Insgesamt stellt die Studie aber einen wertvollen Beitrag für den wissenschaftlichen Diskurs dar, in der er luzide, kritisch und systematisch argumentiert und mit der er die Bedeutung allgemeiner Erziehungswissenschaft für die Lerntheorie und Didaktik aktualisiert und heraushebt.