EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Deichmann, Carl / Partetzke, Marc (Hrsg.)
Schulische und außerschulische politische Bildung
Qualitative Studien und Unterrichtsbeispiele hermeneutischer Politikdidaktik
Wiesbaden: Springer VS 2018
(174 S.; ISBN 978-3-658-20617-8; 29,99 EUR)
Schulische und außerschulische politische Bildung Wie wahrscheinlich jede Fachdidaktik kennt auch die politische Bildung die Frage, ob es ihr in erster Linie als Reflexionswissenschaft um theoretisierende Grundlagenforschung geht, oder ob sie als Handlungswissenschaft Anwendungswissen für ihr Gegenstandsfeld bereitstellt. Der vorliegende Band aus dem Arbeitszusammenhang der sich selbst als „Jenaer Forschungs- und Arbeitsgruppe“ (1) bezeichnenden Hermeneutischen Politikdidaktik positioniert sich deutlich auf der Seite der Anwendungsorientierung. In der Einleitung legen beide Herausgeber die Ziele der Gruppe und des Bandes. Es geht um „um eine Neujustierung der Zielbestimmungen der schulischen und außerschulischen politischen Bildung“ (1). Daneben sollen „Unterrichtsbeispiele“ vorgestellt und „Forschungsperspektiven“ aufgezeigt werden. Der Band gliedert sich in drei Abschnitte, was zwar in der Einleitung erwähnt, nicht aber im Inhaltsverzeichnis abgebildet ist. Jeweils drei Beiträge behandeln die drei Schwerpunkte „Politikdidaktik als wissenschaftliche Disziplin“, „Unterrichtspraxis“ und „außerschulische politische Bildung“.

Der erste, Grundlagen setzende Beitrag von Marc Partetzke widmet sich der erwähnten Problemstellung einer Wissenschaft zwischen „Wahrheit“ und „Brauchbarkeit“. Der Autor sieht die politische Bildung in einer Fehlentwicklung durch Kompetenzorientierung und zunehmender quantitativer Forschung und forderte eine Neujustierung auf den Maßstab Brauchbarkeit. Die Kritik ist nachvollziehbar, wenn auch überspitzt formuliert. Sie verdeutlicht den Anspruch der Arbeitsgruppe, fachdidaktisches Forschen und Denken in den Dienst der Verbesserung der Praxis zu stellen.

Hendrik Schröder fokussiert in seinem Beitrag die politische Urteilskompetenz. Unter Perspektive der Objektiven Hermeneutik wird der Text der Gymnasialschülerin Lena analysiert, in dem sich diese zum Bedingungslosen Grundeinkommen äußert. Die Analyseschritte werden detailliert dargestellt, so dass man gut nachvollziehen kann, wie diese sozialwissenschaftliche Auswertungsmethode auf solches Datenmaterial angewendet wird. Im Anschluss lässt sich fragen, ob das schließlich formulierte Ergebnis das Potenzial der Objektiven Hermeneutik schon voll ausschöpft. Spannende methodologische Fragen, wie das Konzipieren des politischen Urteilens in strukturtheoretischer Perspektive, werden (noch) ausgespart.

Der Beitrag von Michael May ist zweigeteilt in einen Vergleich von Demokratiepädagogik und politischer Bildung und einer sich daran nur teilweise anschließenden Vorstellung von zwei Seminarbeispielen aus der Hochschullehre des Autors. Ergebnis des Vergleichs ist die Empfehlung, im Sinne einer „politisch-demokratischen Bildung“ (51) die Balance zu halten zwischen kognitiv ausgerichteten Methoden und der Arbeit an einer „schulischen und unterrichtlichen Anerkennungskultur“ (54). Beide Seminarbeispiele entstammen Fallseminaren. Dargestellt werden Unterrichtsfälle aus der schulischen Praxis, Konzept und Anwendung der Auswertungsmethode „politikdidaktische Hermeneutik“ und Teile der gemeinsamen Seminarinterpretation. Der/die Leser/in erhält ein anschauliches Beispiel zur Gestaltung kasuistischer Hochschulformate.

Carl Deichmann eröffnet mit seinem Beitrag den Schwerpunkt Unterrichtspraxis. Er widmet sich in seinem Beitrag dem Themenfeld Integration in der multikulturellen Gesellschaft und stellt die „personenbezogene Geschichtspolitik“ zur unterrichtlichen Bearbeitung vor. Die Ausgangsidee, Integration in der Auseinandersetzung mit einer politischen Kultur als „Erzählgemeinschaft“ (67) zu verstehen, wirkt aufschlussreich. Der Autor stellt zwei Beispiele vor: zwei gemeinsam interpretierte Reden von Richard von Weizsäcker und August Winkler zum Kriegsende und eine Art Diskursinterpretation samt Unterrichtsmaterial zu den Motiven der Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Neben dem interessanten Material zeigt sich ein eher einseitiges Verständnis von Integration. Die konstruktive Rolle der Narrationen zugewanderter Menschen (über Deutschland) wäre eine wichtige Erweiterung des hier diskutierten Ansatzes.

Dennis Hauk stellt in seinem Beitrag die Unterrichtsmethode „Denkhüte“ vor und geht dem Anliegen nach, deren „unterrichtspraktische Wirksamkeit“ (84) zu überprüfen. Die unterrichtliche Planung wird ausführlich (inkl. Verlaufsplan) darstellt. Durchführung und gemeinsame Reflexion mit einem Oberstufenkurs werden mit Transkriptauszügen und Fragebogenergebnisse dargestellt und gedeutet. Der Autor formuliert Verbesserungsvorschläge für den Einsatz die Methode. Insgesamt zeigt sich ein ambitioniertes Aktionsforschungsprogramm, das stark die Förderung von Kontroversität und Schüleraktivierung durch die Methode fokussiert, ihre Bezüge zur Urteilskompetenzausbildung empirisch aber nicht berührt.

Florian Weber-Stein geht in seinem Beitrag der doppelten Fragestellung nach, welche inhaltlichen subjektiven Theorien Schüler/innen im Sinne von Präkonzepten zum Gegenstand Demokratie mit in den Unterricht bringen und mit welchen Diagnosemethoden sich diese erheben lassen. Er stellt eine Fallstudie aus einem Oberstufenkurs vor. Der Unterricht besteht aus einer hypothesengenerierende Schüler/innendiskussion und anschließenden Anfertigungen von „Mind-Map“, „Concept-Map“ und „Concept-Cartoon“. Diese drei Arrangements werden inhaltlich ausgewertet und bezüglich „Praktikabilität“ und „diagnostischer Eignung“ für den Unterricht evaluiert. Darüber hinaus gelingt es dem Autor zu zeigen, wie Aktionsforschung den Wissensstand der Disziplin zur Deutung und Umgestaltung der eigenen Praxis aufnehmen kann.

Im dritten Teil des Buches zum Schwerpunkt außerschulische politische Bildung untersucht Benjamin Moritz mithilfe von vier empirischen Studien und einer eigenen Forschung im Bereich Gedenkstättenpädagogik Bildungsziele und Bildungspraxis von NS-Gedenkstätten. Ihn interessiert die Frage, wie historische und politische Bildung an jenen Orten ins Verhältnis gesetzt werden und arbeitet schließlich heraus, dass im Widerspruch zu den programmatischen Entwürfen der Anteil politischer Bildung dort sehr gering ist. Der Beitrag schließt mit Überlegungen, wie Gedenkstätten ein größeres (politisches) Bildungspotenzial ausbauen können.
Ingo Juchler präsentiert in seinem Beitrag neun US-Amerikaner/innen, die mehr oder weniger bekannt sein dürften und die an verschiedenen Stätten in Berlin gewirkt haben. Die interessanten Persönlichkeiten werden biografisch skizziert und deren Orte des politischen Wirkens im Sinne „außerschulischer politischer Lernorte“ für Bildungsgänge empfohlen. Genauere Vorschläge, wie solche Exkursionen gestaltet werden können und Bezüge zu erhofften Kompetenzgewinnen, werden nicht entfaltet.

Im letzten Beitrag stellt Stefanie Kessler Auszüge aus einem qualitativen Forschungsprojekt zur beruflichen (Bildungs-)Praxis in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor. Auszüge aus einem narrativen Interview mit einem Angestellten in einem Jugendclub in Thüringen werden mithilfe der Dokumentarischen Methode interpretiert. Die Darstellung ermöglicht einen anschaulichen Blick in die nur wenig erforschte alltägliche Praxis von Jugendclubs. Es scheint jedoch, dass die von der Autorin formulierten Orientierungen noch stark auf der Ebene des kommunikativen Wissens verbleiben und manche performative Figuren in den Erzählungen des Interviewten übersehen werden.

Dem Praxisanspruch des Bandes gerecht werdend erhält man konkrete Beispiele und fachdidaktische Reflexionen für die Gestaltung von Hochschullehre, Unterricht und außerschulischer Bildungsarbeit. Leser/innen, die hier Inspirationen suchen, können den Band mit Gewinn lesen. Das forschungsmethodische Programm wirkt hingehend etwas unzusammenhängend. Die Ansätze pendeln zwischen „freier“ Hermeneutik (May, Deichmann), sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden (Schröder, Kessler) und Aktionsforschung (Hauk, Weber-Stein). Als Desiderat ließe sich formulieren, dass das Aufzeigen eines konsistenten Theorie- und Methodenprogramms jener Gruppe der Hermeneutischen Politikdidaktik förderlich sein könnte, gerade wenn es um die Brauchbarkeit der Ergebnisse für die Bildungspraxis geht.
David Jahr (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
David Jahr: Rezension von: Carl, Deichmann, / Marc, Partetzke, (Hg.): Schulische und außerschulische politische Bildung, Qualitative Studien und Unterrichtsbeispiele hermeneutischer Politikdidaktik. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365820617.html