EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)

Anna Aleksandra Wojciechowicz
Erkämpfte Hochschulzugänge in der Migrationsgesellschaft
Rassismuskritische Perspektiven auf Biografien von Lehramts- und Jurastudentinnen
Wiesbaden: Springer VS 2018
(451 S.; ISBN 978-3-658-19933-3; 59,99 EUR)
Erkämpfte Hochschulzugänge in der Migrationsgesellschaft Rassismuskritik ist als erkenntnisleitende Perspektive auf den Zusammenhang von Migration und Bildung in den letzten Jahren immer häufiger genutzt geworden. Dem Bildungsort Schule in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen kommt dabei eine besondere Aufmerksamkeit zu. Hingegen ist das Feld der Hochschule, das Anna Aleksandra Wojciechowicz in ihrer Dissertation behandelt, Gegenstand noch weniger Arbeiten.
Wojciechowicz interessiert sich in ihrer Arbeit für Wege zum fachspezifischen Hochschulstudium im Kontext migrationsgesellschaftlicher Differenzverhältnisse. Mittels biographisch-narrativer Interviews mit zehn Studentinnen des Lehramts und der Rechtswissenschaften rekonstruiert sie, welche Erfahrungen migrantisch positionierte Studentinnen in ihren lebensgeschichtlichen Konstruktionen artikulieren und wie diese in migrationsgesellschaftliche Verhältnisse eingebettet sind. Ein spezifischer Fokus liegt dabei auf den Auseinandersetzungsprozessen am Übergang zwischen Schule und Hochschule und der studienfachspezifischen Platzierung.

Nach der Einleitung in die Thematik und dem Überblick über den Aufbau der Studie (Kapitel 1) stellt Kapitel 2 den Forschungsstand zu Biographieforschung im Kontext von Migration und Bildung mit dem Fokus auf Bildungsaufstieg und Diskriminierungsverhältnissen sowie migrationsspezifischen Studienwahlentscheidungen für Lehramt bzw. Jura vor. Wojciechowicz befragt diese Forschungsarbeiten dabei auch nach ihren methodisch-empirischen Zugängen. Im dritten Kapitel fasst sie dann ihre theoretischen Bezüge (Rassismustheorien, Rassismuskritik, postkoloniale Theorie, Migrationspädagogik) pointiert zusammen. Sie spitzt diese Theorien für die eigene Studie zu und nutzt die Erkenntnisse aus der theoretischen Auseinandersetzung, um ihren Forschungsgegenstand zu beschreiben (10). Die methodisch-methodologische Anlage der Studie (Kapitel 4), nach der die mittels biographischen-narrativen Interviews erhobenen Erzählungen mit einer Kombination aus biographischer Fallrekonstruktion (Rosenthal) und Grounded Theory Methodologie (GTM) (Strauss/Corbin) interpretiert wurden, wird durch eine ausführliche selbstreflexive Darstellung des Forschungsprozesses ergänzt. Diese bezieht die Autorin konsequent auf Fragen nach Forschung in migrationsgesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. So stellt sie eine detaillierte Analyse des Erzählimpulses der narrativen Interviews an, in der sie reflektiert, welche Implikationen und Aufforderungen in der Ansprache als ‚Studentinnen‘ und der Bitte, die eigene ‚Lebensgeschichte‘ zu erzählen, liegen (111f.). Anhand der Analyse der Forschungsbeziehung mit der Interviewpartnerin Jolanta Kaminski rekonstruiert Wojciechowicz eine „Ambivalenz in der Fremdwahrnehmung meiner Person“ (140) und nimmt darüber eine Reflexion des Beziehungsraums im Interview und dessen migrationsgesellschaftlicher Strukturierung vor.

Eine besondere Stärke der Arbeit liegt in der ausführlichen Präsentation der empirischen Untersuchung in Kapitel 5. Wojciechowicz widmet sich der biographieanalytischen Rekonstruktion von vier empirischen Referenzfällen: zwei Jura- und zwei Lehramtsstudentinnen. Die einzelnen Fälle werden auf die Relevanz von Migrationsgesellschaftlichkeit für den Studienfachzugang befragt. Ein besonderer Fokus der Fallpräsentation liegt dabei auf der Darstellung von Handlungsmächtigkeit, die sich die jungen Frauen innerhalb migrationsgesellschaftlicher Dominanzverhältnisse, insbesondere am Ort Hochschule, schaffen und erkämpfen.
Auf die Einzelfalldarstellungen folgt eine fallübergreifende Betrachtung, in der Wojciechowicz drei thematische Schlüsselkategorien herausarbeitet (339): Bildungsaufstieg, Systemmisstrauen und Bekenntnis- und Geständnisarbeit. Diese drei Fokussierungen werden nicht allein auf Grundlage der vier präsentierten Einzelfälle, sondern mit Bezug auf das gesamte Sample von 10 Biographien vorgenommen. Die theoretische Kontextualisierung dieser Schlüsselkategorien stellt dabei neue Bezüge her: So kommt z.B. mit dem Verweis auf Luhmanns Begriff des Systemvertrauens, welchen Wojciechowicz in Systemmisstrauen wendet, eine systemtheoretische Perspektivierung hinzu (377).
In einem letzten Unterkapitel (5.5.4) stellt Wojciechowicz Systematisierungsversuche zu Darstellungsfiguren von Rassismuserfahrungen in ihrem empirischen Material an, die sich an der Frage orientieren, auf welche Weise in der Interviewinteraktion Rassismus thematisierbar ist und thematisch wird. Dieses Kapitel hätte prominenter gesetzt und so als wichtiges Ergebnis der Arbeit angemessener gewürdigt werden können.

Das abschließende sechste Kapitel fasst die Ergebnisse der empirischen Studie zur Bedeutung der Kategorie Migration(sgesellschaft) für die Biographien sowie deren spezifischer Relevanz im Kontext des Hochschulzugangs zusammen. Wojciechowicz hält die zentrale Bedeutung von Differenzerfahrungen während der Schulzeit fest, welche zumeist mit der Infragestellung von Leistungsfähigkeit und -ambitionen einhergehen (396). Die darauf ausgerichteten biographischen Bearbeitungsformen beinhalten z.B. eine „beständige Arbeit an der eigenen Leistungsfähigkeit“ (399, Herv. i. O.), heben aber auch die positive Auswirkungen von Anerkennungszusammenhängen hervor (404). Zugleich wird die Gymnasialzeit als wichtige Phase für Bildungsaufstiegspositionierungen herausgestellt.
Für den Hochschulzugang hält Wojciechowicz zunächst die zentrale Bedeutung der Familie in der Entwicklung einer zielgerichteten Studienfachperspektive fest. Zudem entfalten Gelegenheitsstrukturen beim Hochschulzugang sowie schnelle Anpassungsbereitschaft der Akteurinnen eine positive Wirkung für die Bewältigung der Statuspassage (415). Das Thema Bildungsaufstieg bearbeitet die Autorin für die beiden Studienfächer Jura und Lehramt separat, da sie zu Berufsfeldern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Prestige-Setzungen hinführen. Für das Lehramt konnten dabei keine studienfachspezifischen Begründungen herausgearbeitet werden. Bei der Wahl zum Jurastudium hingegen stellt Wojciechowicz zwei Orientierungen heraus. Mit Beweisarbeit bezeichnet sie solche Begründungen, die sich aus der in und durch Bildungsinstitutionen erfahrenen Defizitzuschreibungen ergeben. Der stete Widerstand gegen diese Zuschreibung mündet in der Wahl eines besonders prestigeträchtigen Studiengangs, in dem sie ihre Leistungsfähigkeit und Anpassungsleistung verdeutlichen. Die Entfaltung transnationaler Berufsperspektiven wird als weitere Studienwahlbegründung genannt, die die beruflichen Perspektiven jenseits von nationalen Grenzen bezeichnet. Wojciechowicz bringt diese Orientierung in Verbindung mit der Anerkennung als Mehrfachzugehörige.

Als abschließendes Fazit kann festgehalten werden, dass die Arbeit von Wojciechowicz einen wichtigen Beitrag zur qualitativen Hochschulforschung aus rassismuskritischer Perspektive leistet. Dass der Empirie in dieser Arbeit viel Raum gegeben wird und die Lesenden so der analytischen Entfaltung der Fälle gut folgen können, kann als besondere Stärke der Arbeit gesehen werden. Allerdings wird Geschlecht als Analysekategorie kaum berücksichtigt, was angesichts des geschlechtshomogenen Samples und der Bezugnahme auf Geschlecht im Erzählimpuls der Interviews („Lebensgeschichte von jungen Frauen und insbesondere von Studentinnen“ (110)) verwundert. Eine Beleuchtung der vergeschlechtlichten Erfahrungen als Migrationsandere im Hochschulkontext wäre für die Arbeit sicherlich gewinnbringend gewesen. Methodologisch wirft die Untersuchung Fragen auf: So werden Biographieforschung und die GTM relativ problemlos ineinander verschränkt. Fragen nach der Passung der beiden Methodologien stellt Wojciechowicz nicht. So kann z.B. ihr einzelfallorientiertes biographieanalytisches Vorgehen als Widerspruch zum fallübergreifenden Kodierverfahren der GTM gesehen werden. Unklar bleibt, warum die GTM eine notwendige und gewinnbringende Erweiterung für die biographische Analyse ist.
Wojciechowicz forscht überzeugend reflexiv und rassismuskritisch. Die ausführliche Darstellung der Interviewsettings und ihrer machtvollen Setzungen wie dem Ausschluss einer anderen Interviewsprache als Deutsch (142) zeugen von hoher Selbstreflexion als Forscherin. Die Frage, wer legitimerweise zu Rassismus forschen dürfe, kritisiert sie, weil sie häufig in der Dichotomie eines Besser/Schlechter verhaftet bleibe. Sie macht auf die Gefahr der Reproduktion „rassifizierende[r] Unterscheidung“ (137) aufmerksam. Leider entfaltet sie diese Kritik nicht, sondern verweist darauf lediglich in einer Fußnote. Diese Kritik ist dennoch für rassismuskritisch arbeitende Doktorand*innen und auch erfahrene Forscher*innen anregend.
Lydia Heidrich (Bremen) und Marie Hoppe (Bremen) ()
Zur Zitierweise der Rezension:
Lydia Heidrich (Bremen) und Marie Hoppe (Bremen): Rezension von: Wojciechowicz, Anna Aleksandra: Erkämpfte Hochschulzugänge in der Migrationsgesellschaft, Rassismuskritische Perspektiven auf Biografien von Lehramts- und Jurastudentinnen. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365819933.html