Um eines gleich vorweg zu nehmen: Alex Knolls Buch zur diskursiven Produktion und sozial differenziellen Ausgestaltung früher Kindheiten ist eine äußerst lesenswerte Lektüre, die eine Reihe neuer Erkenntnisse zur spezifischen Situation in der deutschsprachigen Schweiz und darüber hinaus mit Blick auf elterliche Perspektiven auf Kindheit, Kinder und insbesondere eigene Aufgaben, Pflichten und Ziele liefert.
Soziale Ungleichheiten in der frühen Kindheit, konkret: in elterlichen Bildungs- und Betreuungspraktiken, sind als Vorläufer und Wegbereiter ungleicher Erfolgschancen von jungen Menschen im Bildungssystem spätestens infolge der internationalen Bildungsstudien seit Beginn des 21. Jahrhunderts in den Blick von Kindheits- und Bildungsforschung gerückt. Alex Knoll knüpft mit seiner Studie „Kindheit herstellen. Diskurs, Macht und soziale Ungleichheit in Betreuung und Alltagsgestaltung“ an zwei bislang weitgehend unverbundene Forschungsstränge an, die auf dem neuen Interesse an sozialer Ungleichheit in der frühen Kindheit basieren, um diese vor dem Hintergrund (post-)strukturalistischer Theoriebildung (Foucault und Bourdieu) in einen Dialog zu bringen. Zur Ausgangslage:
Mit Blick auf die Praxis früher Bildung und Betreuung wurde beispielsweise im deutschen Sprachraum untersucht, wie kulturelle und ökonomische Ressourcen mit den elterlichen Idealvorstellungen von Bildung und Betreuung zusammenhängen (Bischoff, Betz & Eunicke 2017). International haben vor allem die britischen Studien aus dem Umfeld von Carol Vincent und Stephen Ball entscheidend dazu beigesteuert, dass neben der Kindertagebetreuung weitere Betreuungsformen und insbesondere von Mittelschicht-Eltern in Anspruch genommene sogenannte „enrichment activities“ als Distinktionspraktiken erkannt wurden, die potenziell zu den ungleichen Startchancen von Kindern beim Schuleintritt beitragen (z. B. Vincent, Braun & Ball 2008).
In Bezug auf Diskurse über frühe Bildung und Betreuung wurden – ebenfalls in Großbritannien – Studien durchgeführt, in denen öffentliche Debatten und politische Programme zu Frühförderung und Elternschaft analysiert werden. Im Vereinigten Königreich begann man bereits früh mit sozialpolitischen Initiativen zur Elternbildung, mit denen die Verantwortung für den Bildungserfolg von Kindern verstärkt von den Bildungsinstitutionen auf die Eltern verlagert wurde (Gillies 2008). Dieser politische Trend erfasste zeitgleich oder bald darauf weitere westliche Wohlfahrtsstaaten (Stichwort: Sozialinvestitionsstaat), in denen die Politik zunehmend daran interessiert war, Eltern wie Kinder in die Lage zu versetzen, selbstgesteuert am meritokratischen Wettbewerb auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt teilzunehmen (z. B. Olk 2007). Wie wir in Knolls Buch erfahren, gilt dies auch für die Schweiz.
Im deutschen Sprachraum stellt Alex Knolls Studie ein Novum dar, insofern er diese beiden Forschungsstränge zusammenführt und fragt, „wie sich die frühe Kindheit konstituiert, wie sich der Umgang mit Kindern im Vorschulalter und die Gestaltung ihres Alltags darstellt, welche Aufgaben ihnen zugewiesen und wovor sie verschont werden“ (12). Neben der anspruchsvollen Verbindung der beiden skizzierten Forschungsstränge geht Knoll vom theoretischen Ansatz her das Wagnis ein, die Konzepte Bourdieus (Kap. 2.2) mit der Diskurstheorie sensu Foucault und Butler (Kap. 2.3) unter dem Dach der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung (Kap. 2.1) zusammenzubringen.
Im Folgenden skizziere ich knapp die inhaltlichen Eckpunkte des Buches:
Im Theorieteil erläutert Knoll die zentralen Konzepte der Kindheitsforschung (generationale Ordnung, Kindheit als soziales Konstrukt etc.), Bourdieus Gesellschafts- und Kapitaltheorie sowie das diskursanalytische Begriffsrepertoire, soweit dieses für die empirischen Analysen relevant ist. Verständlicherweise kommt die Frage nach der Vereinbarkeit der Perspektiven, etwa des Foucault’schen Machtbegriffs und der Bourdieu’schen Sicht auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, dabei etwas kurz, was sich mit der empirischen Ausrichtung von Knoll Studie erklären lässt. Gleichwohl hätte sich noch klarer herausarbeiten lassen, wie sich beide theoretische Perspektiven auf die kindheitstheoretischen Konzepte Agency und generationale Ordnung beziehen lassen. Apropos Agency: Obgleich sich das Forschungsinteresse hier explizit auf Eltern richtet, bleibt doch unklar, warum im Sinne der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung nicht auch die Perspektive von Kindern – ungeachtet ihres Alters – stärker berücksichtigt wurde. Durch den Fokus auf die Eltern erscheinen diese in Knolls Buch stellenweise als alleinige Gestalter von Kindheit. Hier besteht also weiter Forschungsbedarf für die ungleichheitsinteressierte Kindheitsforschung.
Der Forschungsstand fasst die gegenwärtige Forschungslandschaft im Bereich soziale Ungleichheit in Bildung und Betreuung sowie in Bezug auf gegenwärtigen Vorstellungen von guter Kindheit, Elternschaft und Kind-Sein zusammen. Der empirische Teil mit seinen beiden Schwerpunkten aus quantitativer Fragebogenstudie und qualitativen Interviews bildet das Herzstück des Buches und schließt an die verständliche Erläuterung des methodisch komplementären Studiendesigns und der Auswertungsmethoden an.
Im quantitativen Teil wird gefragt, inwieweit die elterliche Kapitalausstattung die Alltagsgestaltung von Kindern (147ff) und die elterlichen Vorstellungen von Kindheit und Elternschaft beeinflusst. Ich möchte hier exemplarisch einen Befund herausgreifen: Wie Knoll zeigen kann, werden Spielgruppen deutlich öfter von Eltern mit geringem Kapital in Anspruch genommen als von besser positionierten Eltern (180-184).
Das ist insofern interessant, da bei dem bekannten Befund einer relativ häufigeren Teilnahme von privilegierten Kindern an organisierten Aktivitäten meist unklar bleibt, wie im Vergleich hierzu weniger privilegierte Kinder ihre Zeit außerhalb der Familie verbringen. Das Ergebnis deutet nun darauf hin, dass Kinder aus ökonomisch benachteiligten Verhältnissen ihre Zeit eher in vermutlich weniger pädagogisch strukturierten Settings verbringen, ein Befund der auch anschlussfähig an die Studie von Lareau (2003) zur Alltagsgestaltung von Grundschulkindern ist. Einschränkend ist für alle quantitativen Ergebnisse in Knolls Arbeit festzuhalten, dass diese auf einer stark mittelschichtlastigen Stichprobe basieren (357).
Beachtenswert ist auch Knolls Auswertung der Elterninterviews. Hier wird unter anderem die „Kindheit zuhause“ (201) und die „spielbetonte Kindheit“ (229) beschrieben, wobei sich zeigt, dass die Erwerbstätigkeit der Mutter einen zentralen Einfluss auf die Alltagsgestaltung des Kindes hat und sie noch immer den größeren Anteil an familiärer Reproduktionsarbeit leistet. Vor dem Hintergrund stets aktueller Debatten um Mutterschaft, Karriere und Selbstverwirklichung ist auch die teils spürbare Zerrissenheit der interviewten Mütter bemerkenswert, die sich zwischen dem Anspruch eine gute Mutter sein zu wollen und dem Ziel beruflicher Selbstverwirklichung und damit auch ökonomischer Souveränität bewegen (z. B. 320, 331, 347). Zwiespältig ist auch die Einstellung von ökonomisch bessergestellten Müttern zum sogenannten „Pushen“ (248) des Kindes, also der zielgerichteten Förderung von Fähigkeiten und Talenten. Angesichts der Anstrengungen um Frühförderung soll in den Augen einiger Mütter auch die Freude am Spielen und am unbeschwerten Leben nicht zu kurz kommen. Kurzum: Kindheit, so eine zentrale Erkenntnis aus Knolls Analysen, ist weiterhin in hohem Maße von Handeln, Selbstsicht und familialer wie gesellschaftlicher Positionierung der Mutter abhängig, wobei Schicht und Berufsstatus die wichtigsten Differenzkategorien darstellen.
Ich kann das Buch von Alex Knoll ohne Einschränkungen zur Lektüre empfehlen. Es bietet auch über die Schweiz hinaus wichtige Erkenntnisse und zahlreiche Anstöße für die weitere Forschung, wozu auch die gewinnbringende Verbindung von quantitativen Fragebogendaten und qualitativen Interviews beiträgt. Die Zusammenführung der Forschung zu ungleichen Bildungs- und Betreuungspraktiken einerseits und Diskursen zu früher Bildung und Betreuung andererseits sind eine überfällige Bereicherung der deutschsprachigen Forschungslandschaft.
[1] Bischoff, S. / Betz, T. / Eunicke, N.: Ungleiche Perspektiven von Eltern auf frühe Bildung und Förderung in Familie und Kindertageseinrichtung. In: Bauer, P. / Wiezorek, C. (Hg.): Familienbilder zwischen Kontinuität und Wandel. Analysen zur (sozial-)pädagogischen Bezugnahme auf Familie. Weinheim: Beltz Juventa 2017, 212-228.
[2] Gillies, V. (2008): Perspectives on Parenting Responsibility: Contextualizing Values and Practices. Journal of Law and Society, 35(1), 95-112.
[3] Olk, T. (2007): Kinder im „Sozialinvestitionsstaat“. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 27(1), 43–57.
[4] Vincent, C. / Braun, A. / Ball, S. J. (2008): Childcare, choice and social class: Caring for young children in the UK. Critical Social Policy, 28(1), 5-26.
EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)
Kindheit herstellen
Diskurs, Macht und soziale Ungleichheit in Betreuung und Alltagsgestaltung
Wiesbaden: Springer VS 2018
(392 S.; ISBN 978-3-658-19438-3; 49,99 EUR)
Frederick de Moll (Luxemburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Frederick de Moll: Rezension von: Knoll, Alex: Kindheit herstellen, Diskurs, Macht und soziale Ungleichheit in Betreuung und Alltagsgestaltung. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365819438.html
Frederick de Moll: Rezension von: Knoll, Alex: Kindheit herstellen, Diskurs, Macht und soziale Ungleichheit in Betreuung und Alltagsgestaltung. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365819438.html