EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Heike Ohlbrecht / Astridt Seltrecht (Hrsg.)
Medizinische Soziologie trifft Medizinische PĂ€dagogik
Wiesbaden: Springer VS 2018
(300 Seiten; ISBN 978-3-6581-8815-3; 44,99 EUR)
Medizinische Soziologie trifft Medizinische PĂ€dagogik Was Krankheit ist, wie sie erfahren wird und wie Menschen mit ihr umgehen, ist keineswegs mehr allein ein Thema, das die Medizin als Praxis und als Wissenschaft beschĂ€ftigt. Krankheit und Gesundheit sind PhĂ€nomene, die heute inter- und transdisziplinĂ€r erforscht werden. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass eine Professorin fĂŒr Mikrosoziologie/Allgemeine Soziologie und eine Erziehungswissenschaftlerin und Juniorprofessorin fĂŒr Fachdidaktik der Gesundheits- und Pflegewissenschaften einen Sammelband zu verschiedenen Dimensionen von und Schnittstellen zwischen Medizinischer Soziologie (Med. Soz.) und Medizinischer PĂ€dagogik (Med. PĂ€d.) vorgelegt haben.

Kernaufgaben der Med. Soz. sind die „Beschreibung und ErklĂ€rung“ von Krankheit und Gesundheit aus sozialwissenschaftlicher Sicht, also eine Erkenntnisproduktion ĂŒber soziale Aspekte, die fĂŒr „den Erhalt, die GefĂ€hrdung und die Wiederherstellung von Gesundheit sowie fĂŒr die BewĂ€ltigung gesundheitlicher BeeintrĂ€chtigungen von Individuen und Populationen“ [1] relevant sind. FĂŒr die in der medizinischen Ausbildung bereits stark institutionalisierte Med. Soz. konstatieren Ohlbrecht und Seltrecht allerdings einen Verlust des „Kontakt[s] zur Mutterdisziplin Soziologie“, der in der „Anwendungsorientierung fĂŒr das Feld der Medizin“ liege, so dass „das kritische Potenzial eines soziologischen Blicks auf die Medizin“ (13) zu schwinden drohe. Die Erziehungswissenschaft habe demgegenĂŒber bislang keinen mit der Soziologie vergleichbaren Einfluss auf die Medizin. Sie widmete sich jedoch bereits dem Zusammenhang von Krankheit und Lernen aus verschiedenen pĂ€dagogisch-didaktischen Perspektiven [2]. Med. PĂ€d. sei bislang allerdings noch ein recht unklares „Begriffskonstrukt“ (14). Die Forschungs- und LehrtĂ€tigkeiten, die unter diesem Label stattfinden, seien zu klĂ€ren. Wenngleich der Sammelband in zwei entsprechende Teile gegliedert ist (Teil I: Med. Soz., Teil II: Med. PĂ€d.), so enthalten gleich mehrere BeitrĂ€ge Verweise auf Schnittstellen zwischen beiden Fachdisziplinen.

Teil I: Ernst von Kardorff arbeitet in seinem Beitrag mittels eines disziplindiagnostischen Blickes eine inhaltliche Krise der Med. Soz. heraus. Sie drohe „durch die Abkoppelung von den theoretischen und konzeptionellen Entwicklungen in ihrer Herkunftsdisziplin an analytischer Kraft und KritikfĂ€higkeit einzubĂŒĂŸen“ (29). Bruno Hildenbrand skizziert im Anschluss u.a. an Ideen von Louis Wirth eine Klinische Soziologie, in der SoziologInnen ihr wissenschaftliches Wissen „in psychosozialen Handlungsfeldern“ (55), darunter auch medizinische Institutionen, zur VerfĂŒgung stellen, um so die Soziologie auch in der Medizin „praktisch werden“ (57) zu lassen. Hildenbrand sieht im Zentrum eines solchen (noch eher seltenen) Transfers die Optionen einer mĂ€eutische Beziehungsform zwischen Fachpersonal und KlientInnen sowie die Sequenzanalyse als berufliche Analyseform im Praxisfeld. Johannes HĂ€tscher beschĂ€ftigt sich im Anschluss mit den Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts des ‚Burden of Normality‘ im Feld der Neurochirurgie. Am Beispiel operativer Eingriffe bei ParkinsonpatientInnen gelingt es ihm zu zeigen, inwieweit NeurochirurgInnen auch sozialanalytisch tĂ€tig werden können, um die mit der Krankheit verbundenen Leiden zu vermindern. Laura Hoffmann, Nadine Schumann und Matthias Richter stellen in ihrem Beitrag eine qualitative Studie vor, in der der Umgang mit Methamphetamin-KonsumentInnen im Versorgungssektor der ambulanten Suchtberatung untersucht wurde. Anhand von Experteninterviews zeigen sie u.a., dass der Zugang und die Inanspruchnahme der Suchtberatung erschwert sei und dass die Versorgung kĂŒnftig inhaltlich und strukturell stĂ€rker den BedĂŒrfnissen und Suchtkranker angepasst werden mĂŒsse. Im Anschluss richtet Heike Ohlbrecht eine gesundheitssoziologische Perspektive auf die spĂ€tmoderne Arbeitswelt, die u.a. durch Flexibilisierung und Digitalisierung geprĂ€gt ist. Die gesundheitlichen Folgen dieser neuen Bedingungen des spĂ€tmodernen In-die-Welt-gestellt-Seins schaffen neuartige Belastungen, mit denen sich die Med. Soz. tiefergehend, und dabei aber auch sachlicher als bislang auseinandersetzen sollte. Arbeit enthalte „salutogene Faktoren, kann aber auch pathogene Dimensionen entfalten“ (134), die zu klĂ€ren seien. Thematisch nah an Ohlbrechts Beitrag liegt der darauffolgende von Susanne Bartel, die sich mit gesundheitsbedingten BrĂŒchen in der Berufsbiographie auseinandersetzt. Anhand einer qualitativen Verlaufsstudie zu Ausstiegs- und Neuorientierungsprozessen im Erwerbsleben und mittels eines Fallbeispiels exploriert sie das BedingungsgefĂŒge der genannten Prozesse sowie Formen der KrankheitsbewĂ€ltigung und der beruflichen Neuorientierung. Ebenfalls im Bereich der Biografieforschung bewegt sich der Beitrag von Carsten Detka, der untersucht, wie Menschen mit Diabetes mellitus umgehen und die Krankheit dabei sprachlich zu deuten versuchen. Detka plĂ€diert u.a. dafĂŒr, diesen Deutungen auch im Umgang mit Patientinnen und Patienten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Den Abschluss des ersten Buchteils bildet ein erweiterter Blick auf Strategien im Umgang mit Krankheit, bei dem Josephine Jellen, Heike Ohlbrecht und Torsten Winkler herausarbeiten, wie sich Patientenrollen und Gesundheitskulturen in spĂ€tmodernen Gesellschaften wandelten. Auf dieser Basis entwerfen sie eine Typologie, mittels derer sich Krankheit als Berechtigungsstrategie, als Streik bzw. Protest, als Exit-Strategie und Flucht aus belastenden Arbeitsbedingungen und/oder als Möglichkeit des beruflichen Neuanfangs deuten lĂ€sst.

Teil II: Astrid Seltrecht gibt in ihrem Beitrag zunĂ€chst einen Überblick ĂŒber die verschiedenen Forschungsdimensionen, die unter der Formel Med. PĂ€d. versammelt sind. Medical Education, MedizinpĂ€dagogik, Medizindidaktik, aber auch PflegepĂ€dagogik und Pflegedidaktik sind nur einige der Begriffe, die auf unterschiedliche Paradigmen hindeuten. Sie zeigen, dass es sich um eine heterogene Disziplin handelt und dass die Grenzen zur Med. Soz. sowie zur Medizinischen Psychologie an mancher Stelle ineinanderfließen. DarĂŒber hinaus stellt Seltrecht eine in der Erziehungswissenschaft verortete Forschungsperspektive vor, die auf dem (biografischen) Lernen im Umgang mit Krankheit fußt. Die sachliche Diffusion, die Seltrecht skizziert, wird im Anschluss von Roswitha Ertl-Schmuck noch einmal begriffshistorisch unterlegt. Sie arbeitet heraus, wie der Begriff ‚MedizinpĂ€dagogik‘ in den 1960er Jahren entstand, sich langsam zu einem eigenen Lehr- und Forschungsgebiet entwickelte und gegenwĂ€rtig vor allem in der Pflegedidaktik von Relevanz ist. Ausgehend von den spezifischen Charakteristika des Pflegerischen – vor allem im Umgang mit Ă€lteren Menschen – arbeitet Jonas HĂ€nel im Anschluss die Bedeutung hermeneutischer Einzelfallkompetenzen heraus, die neben dem Regel- bzw. evidenzbasierten expliziten Wissen auch implizites Wissen umfassen. Möglicherweise stelle die Hermeneutik sogar eine zentrale Verbindung zwischen Pflegedidaktik, Med. PĂ€d. und Med. Soz. her, um „einer disziplinĂ€ren Fragmentierung von Gesundheits- und KrankheitsphĂ€nomenen entgegenzuwirken“ (246). Im Anschluss zeigen Anke Spura und Bernt-Peter Robra am Beispiel des Fall- und Systembezugs, wie das eher systembezogene berufsvorbereitende Medizinstudium und die eher fallbezogene praxisnahe Ă€rztliche Ausbildung didaktisch durch die Med. Soz. bereichert werden können, um die segmentierten Teile der Ausbildung von ÄrztInnen stĂ€rker aufeinander zu beziehen. Im letzten Beitrag des Bandes setzt sich Astrid Seltrecht schließlich mit dem Nichtlernen auseinander. Ausgehend von ihren frĂŒher bereits abgeschlossenen Forschungsprojekten zum Lernen im Umgang mit Brustkrebs und nach Herzinfarkt [2; 3] re-analysiert sie die Projektergebnisse mit Blick auf einen heuristischen Analyserahmen fĂŒr Lernmodi.

Die AutorInnen wĂ€hlten auffĂ€llig hĂ€ufig einen methodisch der Biografieforschung nahestehenden Zugang und weisen damit auch auf ein zentrales Paradigma in der gegenwĂ€rtigen Med. Soz. und Med. PĂ€d. hin. Der teilweise nicht sichtbare ‚rote Faden‘ des Bandes verweist auf ein Desiderat, diese jungen Disziplinen systematisch, methodisch und inhaltlich in ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen weiter aufeinander zu beziehen. Wer das arrangierte Treffen zwischen Med. Soz. und Med. PĂ€d. mit einem Interesse an solchen z.T. noch unabgeschlossenen Fragen liest, gewinnt zahlreiche Einsichten, die neue Forschungsaufgaben und eine erweiterte disziplinĂ€re Forschungssystematik anzuregen vermögen. In der GesamteinschĂ€tzung handelt es sich um ein unverzichtbares Werk fĂŒr das kĂŒnftig weiter zu entwickelnde SelbstverstĂ€ndnis von Med. Soz. und Med. PĂ€d.

[1] Gerlinger, T.: Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit, in: Hurrelmann, K. / Richter, M. (Hg.): Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 89-103, hier S. 89.
[2] Nittel, D. / Seltrecht, A. (Hg.): Krankheit: Lernen im Ausnahmezustand? Brustkrebs und Herzinfarkt aus interdisziplinÀrer Perspektive. Berlin, Heidelberg: Springer 2013.
[3] Seltrecht, A.: Lehrmeister Krankheit? Eine biographieanalytische Studie ĂŒber Lernprozesse von Frauen mit Brustkrebs. Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich 2006.
Ulf Sauerbrey (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulf Sauerbrey: Rezension von: Ohlbrecht, Heike / Seltrecht, Astridt (Hg.): Medizinische Soziologie trifft Medizinische PĂ€dagogik. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365818815.html