Die Forschung zur Entwicklung von Professionalität im Lehrberuf erfuhr in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme an kontextualisierter Kompetenzmessungen anhand von Unterrichtsvideos. Als Vorteil wird dabei vor allem die Anforderungsnähe der Messung angeführt, da authentischer, videographierter Unterricht beispielsweise in der Lage ist, die Komplexität von Unterricht annäherungsweise abzubilden [1].
Das Forschungsfeld steht allerdings auch vor einigen Herausforderungen, was die Vergleichbarkeit und Einordnung der Erhebungsinstrumente angeht. So unterscheiden sich die zur Messung herangezogenen Videofälle erheblich in Form und Inhalt und nicht immer geht aus den Publikationen hervor, auf welchen Stimulus die Getesteten treffen. Weiterhin wird oftmals unterschiedliches Wissen als Grundlage der Professionalität definiert, auf das in der Auseinandersetzung mit dem Fall rekurriert werden soll (zweifelsohne ergibt sich dieser Umstand aus den unterschiedlichen Professionalisierungstheorien des Lehrberufs und ist somit kaum auflösbar). Zuletzt werden unterschiedliche Herangehensweisen für den Umgang mit Videofällen vorgeschlagen. Die auf kognitiver Ebene konzeptualisierten Reflexions-, Analyse- oder Wahrnehmungsprozesse konvergieren und divergieren in kleinerem und größerem Ausmaß.
An diesem letzten Punkt setzt die Dissertationsschrift von Victoria Barth an. Darin wird der Frage nachgegangen, wie eine Kompetenz der professionellen Wahrnehmung modelliert und erfasst werden kann. Für einen Teil der so definierten Kompetenz, sollen anschließend die Scores von Studierenden berichtet werden.
Um diese Anliegen zu bearbeiten, werden in der Publikation zunächst mehrere bereits bestehende Modellierungsansätze der professionellen Wahrnehmung beschrieben. Hierbei handelt es sich sowohl um generelle (kategoriale Wahrnehmung nach Bromme, situation awareness nach Endsley) als auch speziell den Lehrberuf betreffende Ansätze (professional vision nach Sherin und van Es, professionelle Wahrnehmung von Unterricht nach Seidel et al., ability to analyze nach Santagata). Barth legt die Modelle nebeneinander und zeigt damit Leerstellen, Konvergenzen und Divergenzen auf. Diese Analyse kann durchaus als ein interessanter Beitrag im Forschungsfeld betrachtet werden. Unklar bleibt dabei jedoch, welche Passung die Modellansätze zur (in der Einleitung kurz angerissenen) kompetenztheoretischen Perspektive aufweisen, wo und warum Stärken und Schwächen ausgemacht werden können und ob und warum ein Desiderat für eine Neukonzeptualisierung von professioneller Wahrnehmung jenseits der existierenden Ansätze besteht.
Die erstellte Übersicht nutzt Barth im darauffolgenden Kapitel, um ihre erste Forschungsfrage zu bearbeiten, indem sie „durch eine Synthese der bisherigen Modellierungsansätze die Stärken dieser integriert“ (287). Daraus entsteht ein Kompetenzmodell mit den Komponenten des (professionellen) Wissens, des Erkennens (typischer, bedeutsamer Merkmale), des (theoretisch-einordnenden) Beurteilens, des Generierens (von Handlungsoptionen), des Entscheidens (für eine Handlungsstrategie) und des Implementierens (der Handlungsstrategie). Anhand einer Lernzieltaxonomie werden die Komponenten gefüllt und sowohl generische Kompetenzen als auch spezifische Kompetenzbereiche für Störungen im Unterricht ausdifferenziert. Um die Komponenten genauer zu bestimmen, wird dabei teilweise der entsprechende Forschungsstand konsultiert.
Bezüglich der zweiten Forschungsfrage zur Erhebung der professionellen Wahrnehmung von Störungen im Unterricht analysiert Barth wiederum mehrere bestehende videobasierte Ansätze. Die Betrachtungen schließen qualitative (noticing interviews nach Sherin und van Es, lesson analysis framework nach Santagata) sowie quantitative Erhebungsmethoden (Observer nach Seidel et al., professionelle Wahrnehmung der Klassenführung nach Gold et al., noticing nach Star und Strickland) mit ein. Die anschließende Analyse und der Vergleich der Erhebungsansätze ermöglicht es Forschenden im Feld der kontextualisierten Kompetenzerhebung, die betrachteten Erhebungsansätze einordnen und strukturieren zu können. Schlussfolgerungen für die Erstellung eines Erhebungsinstruments, wie die Argumentation für ein offenes Antwortformat, lassen sich nur indirekt aus dem Vergleich ableiten - andere Standpunkte, wie der Einsatz eines längeren Videostimulus und sogenannte Staged Videos werden im Anschluss daran argumentiert.
Für das Erhebungsinstrument wurden mit großem Aufwand Staged Videos erstellt. Diese ermöglichen es, eine Art Musterlösung der professionellen Wahrnehmung bereits in das Skript des Videos einzubetten. Dies kann besonders für Erhebungsinstrumente im Bereich der professionellen Wahrnehmung einen Mehrwert bedeuten. Zwei offene Items, die im Anschluss an das Video gezeigt werden, prüfen vier der oben genannten Komponenten (erkennen, beurteilen, generieren, entscheiden) des Kompetenzmodells ab. Die anschließende Einführung in und Umsetzung der skalierend-strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse ist außerordentlich detailliert und ein gutes Beispiel für einen intersubjektiv nachvollziehbaren Umgang mit qualitativen Daten.
Der Methodenteil führt den Lesenden schließlich in die drei Teilstudien ein, die jeweils als Interventionsstudien konzipiert sind. Im Anschluss an die Trainings absolvieren die Studierenden das Erhebungsinstrument zur professionellen Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Zwei der Teilstudien bestanden aus einer Befragung von Masterstudierenden des Lehramts, die innerhalb eines Pflichtseminars stattfand. Eine Teilstudie richtete sich an entsprechende Bachelorstudierende während eines Praktikum-begleitenden Seminars.
Im Ergebnisteil wird der Frage nachgegangen, wie Lehramtsstudierende störungsanfälligen Unterricht wahrnehmen (Teilkompetenz erkennen), diesen beurteilen (Teilkompetenz beurteilen) und welche Zusammenhänge zwischen den beiden Teilkompetenzen bestehen. Es zeigt sich, dass Lehramtsstudierende im Durchschnitt etwa 11 von 185 pädagogische Aspekte (z.B. „Lehrkraft lässt öffentliche Diskussion/ Abschweifungen zu“, „Lehrkraft wendet sich beim Anschreiben an Tafel von Schülerinnen und Schülerin ab) des Videofalls erkennen. Es ist jedoch nur sehr schwer einzustufen, ob dies nun als hoch oder gering kompetent eingestuft werden kann. Die Zeit der Testung war begrenzt und es ist leider nicht transparent, wann eine Teilkompetenz als „vorhanden“ operationalisiert ist. Interessant ist jedoch, dass Bachelor und Masterstudierende zu ihrem Zeitpunkt im Studium (und nach den jeweiligen Interventionen) unterschiedliche pädagogische Aspekte erkennen. Während Bachelorstudierende tendenziell häufiger auf direkte Störungen von Schülerinnen und Schülern fokussieren, erkennen Masterstudierende häufiger Aspekte der Tiefenstruktur (z.B. Unterrichtsfluss, Etablierung von Verhaltenserwartungen).
Die Teilkompetenz der Beurteilung von störungsanfälligem Unterricht wird als das Herstellen von Theoriebezügen operationalisiert. An einer Musterlösung an potentiell erkennbaren Theorieaspekten des Umgangs mit Störungen wird eingestuft, ob die Lehramtsstudierenden entsprechende Merkmale direkt benennen oder umschreiben. Es zeigt sich, dass Masterstudierende mehr Theoriebezüge herstellen als Bachelorstudierende. Wie im letzten Abschnitt gilt auch hier die Interpretation der Ergebnisse als herausfordernd. Bei einer weiteren Untersuchung der Niveaus der Theoriebezüge lassen sich kaum Unterschiede zwischen den beiden Gruppen ausmachen, erfreulicherweise befinden sie sich jedoch zumeist auf hohem Niveau.
Im letzten Teil der Ergebnisse werden Hypothesen zu den Zusammenhängen der Teilkompetenzen des Wissens, Erkennens und Beurteilens aufgestellt. Für die Wissenskomponente wird ein in den Teilstudien miterhobener Wissenstest herangezogen. Auf welche der verschiedenen Operationalisierungen bei den Teilkompetenzen des Erkennens und Beurteilens zurückgegriffen wird, ist nicht deutlich. Entsprechend ist nur schwer zu beurteilen, ob die Hypothesen auch so aus dem Modell ableitbar sind. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilkompetenzen, wie angenommen, mittlere Zusammenhänge aufweisen.
Die Dissertationsschrift von Victoria Barth bietet dem Forschungsfeld durchaus einige interessante Impulse. So seien die Analysen der bestehenden Modellierungs- und Erhebungsansätze der professionellen Wahrnehmung von Unterricht und die intersubjektiv nachvollziehbare Erstellung der Auswertung qualitativer Daten genannt. Um die im Ergebnisteil berichteten Daten zu interpretieren, benötigen die Lesenden jedoch noch weiterführende Informationen.
[1] Neuweg, G. H.: Kontextualisierte Kompetenzmessung. Eine Bilanz zu aktuellen Konzeptionen und forschungsmethodischen Zugängen. Zeitschrift für Pädagogik, 61(3), 2017, 377-383.
EWR 17 (2018), Nr. 2 (März/April)
Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht
Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017
(340 S.; ISBN 978-3-658-16370-9; 49,99 EUR)
Jürgen Schneider (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Schneider: Rezension von: Barth, Victoria L.: Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365816370.html
Jürgen Schneider: Rezension von: Barth, Victoria L.: Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 2 (Veröffentlicht am 09.05.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365816370.html