EWR 17 (2018), Nr. 1 (Januar/Februar)

Ingrid Miethel / Anja Tervooren / Norbert Ricken (Hrsg.)
Bildung und Teilhabe
Zwischen Inklusionsanforderung und Exklusionsdrohung
Wiesbaden: Springer Verlag
(324 Seiten; ISBN 978-3-658-13770-0; 39,99 EUR)
Bildung und Teilhabe Bildung gilt als die zentrale Ressource fĂŒr bessere Lebenschancen. Der Bildungsbericht 2016 konstatiert fĂŒr Deutschland aber immer noch deutliche Unterschiede bei der Bildungsbeteiligung in AbhĂ€ngigkeit von der sozialen Herkunft. Fragen der Teilhabe an und durch Bildung werden daher viel diskutiert. Ingrid Miethe, Anja Tervooren und Norbert Ricken halten als Herausgebende des hier vorgestellten Sammelbands Bildung und Teilhabe fest: „die Legitimationskrise der Bildung ist daher insbesondere eine Krise ihrer Teilhabemöglichkeiten“ (3). Der Sammelband, der im Nachgang der DGfE-Tagung der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ vom MĂ€rz 2016 erschienen ist, setzt sich mit dem VerhĂ€ltnis von Bildung und Teilhabe theoriebasiert auseinander. Die Idee des Herausgeberwerkes ist es, sich Fragen der Bildungsgerechtigkeit grundlagentheoretisch anzunĂ€hern. Der Band umfasst 15 EinzelbeitrĂ€ge und gliedert sich in drei Teile.

Im ersten Teil widmen sich die BeitrĂ€ge dem VerhĂ€ltnis von Bildung und Teilhabe sowie der Rezeption und den VerstĂ€ndnissen des Teilhabebegriffs. So zeichnet Anja Tervooren Rezeptionslinien der Erziehungswissenschaft nach und nimmt eine historische, anthropologische und empirische Bestimmung des VerhĂ€ltnisses von Allgemeinem und Besonderen vor. Ralf Mayer setzt sich unter RĂŒckgriff auf die Theorie RanciĂšres mit den Begriffen Teilung und Teilhabe auseinander. Die Theorie ermöglicht einen kritischen Blick und ein Infragestellen des „normalen Ganges der Dinge“ (79). Bettina Dausien entfaltet die These, dass der Zusammenhang von Bildung und Teilhabe ohne den Einbezug der Zeitdimension, insbesondere der Biographie, nicht hinreichend erfasst werden könne. Sie stellt zum Ende ihres Beitrags die Frage, inwieweit die Norm bzw. Anforderung eines „individuell zu verantwortenden lebenslangen ‚Bildungssinns‘“ (107) als Ausschlusskriterium fungiert. Martin Harant skizziert und kontrastiert in seinem Beitrag verschiedene postmoderne VerstĂ€ndnisse von Inklusion und plĂ€diert dafĂŒr, solche VorverstĂ€ndnisse offenzulegen. Ausgehend von theoretischen Überlegungen werden auch Schlussfolgerungen fĂŒr Interaktionen in pĂ€dagogischen Kontexten formuliert. So fasst Cornelie Dietrich Teilhabe als Akt der (kulturellen) Kooperation und gemeinsamen Sinngebung und fordert eine differenziertere Betrachtung der Prozesse und Praktiken des Teilseins oder Nicht-Teilseins. Sie fragt: „Welche SpielrĂ€ume des Antwortens, welche Optionen der Wahl, welche Möglichkeiten der Artikulation, welche Weisen der Kommunikation werden gewĂ€hrt oder können entstehen?“ (44). Carsten Heinze verweist auf die Interdependenz von Anerkennung und Verletzlichkeit, welche die SozialitĂ€t des Menschen prĂ€ge und dadurch „eine Voraussetzung fĂŒr die Entwicklung der FĂ€higkeit zur Teilhabe“ (53) darstelle. Heinze problematisiert bevormundendes Verhalten im Erziehungsprozess ebenso wie AnsĂ€tze, die einseitig die HandlungsfĂ€higkeit des Kindes fokussieren. Stattdessen fordert Heinze eine entwicklungsgemĂ€ĂŸe Beteiligung der Kinder an ihren Erziehungs- und Bildungszielen (59).

Im zweiten Teil des Sammelbands finden sich BeitrĂ€ge, die eine gesellschaftstheoretische Perspektive einnehmen. Edgar Forster widmet sich der Bildungspolitik der EU und arbeitet heraus, wie Bildung und Erziehung durch wissenspolitische Entscheidungen beeinflusst werden. In diesem Zusammenhang wird Teilhabe als hegemoniale politische Strategie kritisch betrachtet. Einem bestimmten DiversitĂ€tsaspekt widmet sich Ken Horvarth. Der Autor zeichnet nach, wie sich der Begriff und die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ herausgebildet hat und hinterfragt zugleich diese Differenzkategorie.

Die weiteren BeitrĂ€ge in diesem Teil stellen einen Philosophen bzw. PĂ€dagogen als theoretischen Bezugspunkt ins Zentrum ihrer Betrachtungen. So verweist Christian Grabau auf das Höhlen-Gleichnis von Platon und entwickelt die Frage, ob nicht Bildung erst ermögliche, sich fĂŒr die Nicht-Teilhabe bzw. -nahme zu entscheiden. Der Autor formuliert: „Die Lehre ist einfach wie bestechend: Wer an der Möglichkeit eines Anders- oder Besserwerdens festhalten will, muss ein Problem haben mit der Welt, wie sie ist, und mit dem Teil seines Selbst, das immer und unhintergehbar an dieser Teil hat“ (162). Im Mittelpunkt der Analysen von Daniel Burghardt steht die Theorie Heinz-Joachim Heydorns, vor deren Hintergrund der Autor das VerhĂ€ltnis von Ungleichheit, Bildung und Teilhabe analysiert. Michael Sertl und Hauke Straehler-Pohl fĂŒhren die ‚pĂ€dagogischen Rechte‘ nach Basil Bernstein aus und explizieren Bernsteins Theorie anhand empirischen Materials. Es wird dargestellt, wie Bildung und Teilhabe im Kontext der ‚pĂ€dagogischen Rechte‘ verwirklicht oder behindert werden.

Den Abschluss des Herausgeberwerkes bilden vier BeitrĂ€ge aus einer empirischen Perspektive. Mit Hilfe des Ansatzes der Biographieforschung fokussieren die Autorinnen Christine Demmer und Dorle Klika Bildungsprozesse und Prozesse der sozialen Teilhabe von Frauen mit Behinderung. Auch Merle Hummrich, Astrid Hebenstreit und Merle Hinrichsen widmen sich Teilhabechancen in Bildungsprozessen. Sie wĂ€hlen einen mehrebenenanalytischen Zugang zur Untersuchung von zwei Fallstudien, anhand derer sie institutionelle und biographische „MöglichkeitsrĂ€ume“ (297) aufzeigen. Andrea Liesner und Anke Wischmann erörtern die Potenziale des erziehungswissenschaftlichen Fallverstehens am Beispiel der Lernerfahrungen eines MĂ€dchens, die von sozialer Ungleichheit gerahmt sind. Christine Thon und Miriam Mai beleuchten das Feld der FrĂŒhkindlichen Bildung. Auf der Grundlage einer Untersuchung einer KindertagesstĂ€tte machen die Autorinnen auf eine PĂ€dagogisierung von Ungleichheit aufmerksam, die durch das politische Anliegen der ‚Teilhabe an und durch Bildung‘ befördert werde.

Es liegt eine vielschichtige Publikation vor, die mit ihren BeitrĂ€gen ein breites Themenfeld abdeckt. Die BeitrĂ€ge beleuchten das VerhĂ€ltnis von Bildung und Teilhabe unter Bezugnahme auf verschiedene Theorien (aus Philosophie, PĂ€dagogik, Soziologie). Dabei werden auch kritische Stimmen an den bestehenden bildungspolitischen und gesellschaftlichen VerhĂ€ltnissen laut. Die Fragestellungen, die im Zusammenhang mit den Begriffen Bildung und Teilhabe aufgeworfen werden, lassen eine immense Breite zu, die in dem Band auch abgebildet wird. Dies kann als eine StĂ€rke des Werkes gewertet werden, das sich dadurch von anderen Publikationen abgrenzt, die eine Fokussierung auf ein Handlungsfeld oder einen DiversitĂ€tsaspekt (wie beispielsweise Behinderung oder Migration) vornehmen. Das Anliegen des Bands, orientiert an verschiedenen Theorien, Fragen nach Bildungsgerechtigkeit zu beleuchten, wird eingelöst. So bietet der Band eine vielseitige Auseinandersetzung pĂ€dagogisch relevanten und anspruchsvollen Theorien und adressiert Leserinnen und Leser der Erziehungswissenschaft sowie benachbarter geisteswissenschaftlicher oder humanwissenschaftlicher Disziplinen. Konkrete Antworten fĂŒr Praktikerinnen und Praktiker in pĂ€dagogischen Handlungsfeldern liefert der Band indes nicht, jedoch lassen sich bei der LektĂŒre
durchaus Ansatzpunkte finden, die eigene Praxis zu reflektieren.
Teresa Sansour (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Teresa Sansour: Rezension von: Miethel, Ingrid / Tervooren, Anja / Ricken, Norbert (Hg.): Bildung und Teilhabe. Zwischen Inklusionsanforderung und Exklusionsdrohung. Wiesbaden: Springer Verlag . In: EWR 17 (2018), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.02.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365813770.html