Swantje Hadelers Dissertation beschäftigt sich mit dem schulischen Anspruchsniveau sowie der Differenzierung im Unterricht an zwei privaten Schulen, deren Profile sich durch eine Kombination aus Kreativitätspädagogik und hohen Leistungserwartungen auszeichnen und die sich in ihrem Selbstverständnis der Förderung von Begabung, Intelligenz und Persönlichkeit verschreiben (sog. BIP-Schulen).
Nach einer kurzen Einleitung zeigt die Autorin die Wichtigkeit der Institution Schule als Einflussfaktor für schulisches Lernen auf, wobei sie auf das Angebot-Nutzungsmodell von Helmke zurückgreift und dabei die Komplexität und den nötigen Einbezug des Kontexts betont – auf welche im späteren Verlauf der Arbeit aber kaum ein Rückbezug erfolgt. In Kapitel 2 wird ausführlich auf die Charakteristika einer wirksamen Schule eingegangen, wobei der Fokus auf Schülerleistungen und dem Einfluss von Anspruchsniveau und Differenzierung liegt. Der Forschungsstand hierzu wird sowohl national als auch international recht breit rezipiert, jedoch nicht kritisch eingeordnet. So fehlen etwa Anmerkungen zu Stichprobengrößen, zu Durchführung und Umfang der Studien und oftmals dazu, in welchem Land die Untersuchung durchgeführt wurde, sodass für Lesende, welche diese Studien nicht kennen, kaum eine Einschätzung der Qualität oder des Kontexts möglich ist. Darüber hinaus sind kaum Studien zu finden, die nach 2009 veröffentlicht wurden, was einige aktuelle Entwicklungen und Ergebnisse vermissen lässt.
Kapitel 3 gibt eine Einführung zum Thema Privatschulen in Deutschland und einen aufschlussreichen, wenngleich ebenfalls nicht immer ganz aktuellen Überblick über rechtliche Grundlagen, Entwicklungen und die Leistungsvergleiche zwischen öffentlichen und privaten Schulen. Darauffolgend beschreibt Hadeler in Kapitel 4 sehr ausführlich die Geschichte und Konzeption der BIP-Schulen. Auffällig ist dabei, dass – aufgrund des in der Tat mageren Forschungsstandes – stark auf Veröffentlichungen rekurriert wird, die auf die Schulgründer Gerlinde und Hans-Georg Mehlhorn oder auf Forschung der BIP-Einrichtungen (z.B: Bildungsagentur der Mehlhornschulen) zurückgehen. Gegen Ende des Kapitels baut Hadeler eine Brücke zwischen Theorieteil, BIP-Konzeption und ihren im anschließenden Kapitel 5 ausführlicher beschrieben Forschungsfragen. Hadeler geht es weniger um tatsächliche Leistungsentwicklungen der Schülerinnen und Schüler, als vielmehr erstens um die Umsetzung eines hohen Anspruchsniveaus an die Schülerinnen und Schüler (z.B: strenge Bewertungsmaßstäbe) und Differenzierungsmaßnahmen im Unterricht (z.B: Unterricht im Team, Aufgabendifferenzierung) sowie zweitens um die Wahrnehmung dieser Apekte durch die Schülerinnen und Schüler im Vergleich beider BIP-Schulen.
Um die Fragen zu beantworten, greift Hadeler auf die fokussierte Ethnografie zurück (Kapitel 7). Für ihre Studie (Kapitel 8 und 9) wurde pro Schule eine dritte Klasse ausgewählt und über zwei Jahre insgesamt dreimal in einem jeweils einwöchigen Feldaufenthalt beobachtet. Zusätzlich wurde an beiden Schulen eine Gruppendiskussion mit Schülerinnen und Schülern und ein Interview mit der Schulleitung durchgeführt. Für die Auswahl von je zwei leistungsstarken und -schwachen Schülerinnen und Schülern der beiden Klassen, die dann im Fokus der Unterrichtsbeobachtungen standen, wurden die Testergebnisse der PERLE-Studie herangezogen. Insgesamt konnten 50 Unterrichtsprotokolle erstellt und mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet werden. Zudem erfolgt eine Verknüpfung der Protokolle mit den Ergebnissen aus den Interviews und den Gruppendiskussionen.
In Kapitel 10 werden die Ergebnisse zur Umsetzung von Leistungsanforderungen und Differenzierung an den beiden Schulen dargestellt. Während für den Bereich Leistungsanforderungen insgesamt und den Teilbereich Umsetzung der Differenzierungsmaßnahmen auf schulischer Ebene alle Protokolle herangezogen werden, wird für die Umsetzung der Differenzierung auf unterrichtlicher Ebene der Fokus lediglich auf vier leistungsschwache Schülerinnen und Schüler gelegt. Dies ist aus platz- und ressourcenbedingten Gründen durchaus verständlich, zumal Lesende sich zu diesem Zeitpunkt bereits etwa auf Seite 300 befinden, jedoch wäre ein Vergleich zu den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern durchaus interessant gewesen. Zusätzlich zu den Protokollen werden für die vier leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern jeweils die quantitativen Testscores und Ergebnisse der PERLE-Studie berichtet. Leider werden die Hintergrundinformationen zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern im Anschluss nicht mit den qualitativen Beobachtungssequenzen verknüpft – eine Triangulation der Daten wird hier also nur begrenzt eingesetzt. Beispielsweise wird nicht versucht, das ausführlich berichtete Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler mit den beobachteten Häufigkeiten der Lehrer-Schüler-Interaktion in Verbindung zu bringen. Als Ergebnis der ersten Fragestellung kann eine Umsetzung der beiden ausgewählten Aspekte auf verschiedenen Ebenen beider Schulen berichtet werden. So finden sich sowohl in den Rahmenbedingungen der Schulen als auch auf unterrichtlicher Ebene mehrere Bewertungsmaßstäbe, Aussagen zu Notengebung und Leistungskontrollen sowie Wettbewerbsaspekte, die auf ein hohes Anspruchsniveau der BIP-Schulen hindeuten. Ebenso konnten in Bezug auf die Differenzierungsmaßnahmen Aspekte wie Klassenteilung, Aufgabendifferenzierung oder Unterrichten im Team aufgezeigt werden. Wie diese Aspekte das Lehren und Lernen beeinflussen, wird weniger detailliert dargelegt.
Das folgende Kapitel 11 beschäftigt sich mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden BIP-Schulen. Dabei können für die beiden untersuchten Aspekte viele gemeinsame Kernmerkmale herausgearbeitet werden, die vor allem auf schulischer Ebene des Anspruchsniveaus (z.B: gleiche Bewertungsmaßstäbe, vergleichbarer Standpunkt zu Noten) und auf unterrichtlicher Ebene der Differenzierungsmaßnahmen (z.B: Aufgabendifferenzierung, Betonung der Heterogenität der Schülerschaft) zu finden sind. Hingegen gibt es vergleichsweise große Unterschiede beim Anspruchsniveau auf unterrichtlicher Ebene und für Differenzierung auf schulischer Ebene: Die Schulen unterscheiden sich beispielsweise bezüglich ihrer Personalstrukturen und der Häufigkeit des Team-Unterrichts, wenn man sich die Differenzierungsmaßnahmen aus schulorganisatorischer Perspektive ansieht. Bezüglich der unterrichtlichen Umsetzung des Anspruchsniveaus lässt sich feststellen, dass die eine Schule eher Belohnungsanreize setzt, während die andere die Anstrengungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt.
In Kapitel 12 analysiert Hadeler die beiden Gruppeninterviews hinsichtlich der Wahrnehmung von Leistungsanforderungen und Differenzierung durch die Schülerinnen und Schüler. Insgesamt zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler beider Schulen die unterschiedlichen Bedingungen und Merkmale der Lern- und Förderumwelt sehr reflektiert und konkret wahrnehmen. Inwiefern sich daraus Förderwirkungen der ausgewählten Aspekte und der BIP-Konzeption ableiten lassen, bleibt jedoch unklar.
Auch wenn Hadeler in ihrem abschließenden Kapitel versucht, neben Forschungsdesideraten die Grenzen der Studie aufzuzeigen, wäre ein noch kritischeres Hinterfragen und ein koherenterer Aufbau einiger Abschnitte wünschenswert gewesen. Zudem würde ein Vergleich mit weiteren privaten wie öffentlichen Schulen die Aussagekraft der Arbeit deutlich erhöhen. So kann die Autorin den Untertitel ihrer Arbeit „Leistungsanforderungen und Differenzierung in der Lern- und Förderumwelt privater Grundschulen“ nur bedingt einlösen: Sie untersucht nicht das breite Feld verschiedener privater Grundschulen, sondern vergleicht lediglich die beiden BIP-Schulen. Insgesamt kann dieses Buch für Personen empfohlen werden, die sich mit den Teilaspekten schulische Leistungsanforderungen und Differenzierung im Detail beschäftigen wollen oder die Interesse am pädagogischen Konzept der BIP-Schulen und dessen praktischer Umsetzung haben.
EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)
Fordern und Fördern
Leistungsanforderungen und Differenzierung in der Lern- und Förderumwelt privater Grundschulen
Wiesbaden: Springer VS 2015
(386 S.; ISBN 978-3-658-09875-9; 49,99 EUR)
Tanja Mayer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tanja Mayer: Rezension von: Hadeler, Swantje: Fordern und Fördern, Leistungsanforderungen und Differenzierung in der Lern- und Förderumwelt privater Grundschulen. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365809875.html
Tanja Mayer: Rezension von: Hadeler, Swantje: Fordern und Fördern, Leistungsanforderungen und Differenzierung in der Lern- und Förderumwelt privater Grundschulen. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365809875.html