In der Forschung zu beruflichen Belastungen und Beanspruchungen im Lehrerberuf dominieren derzeit zwei Perspektiven. Das sind zum einen die Studien aus der Gesundheitspsychologie, Gesundheitswissenschaft und Arbeitsmedizin, die den Arbeitsplatz Schule mit Blick auf arbeitsbezogene Einflussfaktoren auf die Lehrkräfte und das System Schule untersuchen, ihn mit anderen Berufen vergleichen, Wissen über Gesundheitsprobleme sowie kurz- und langfristige Stressfolgen generieren und daraus Maßnahmen für die Verhaltens- und Verhältnisprävention ableiten. Zum anderen mehren sich Studien aus der empirischen Bildungsforschung sowie der Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Für diese steht der Zusammenhang von Unterrichts- bzw. Schulqualität und Lehrergesundheit im Fokus. Es geht um die gesundheitlichen Bedingungen für die Erfüllung der Arbeitsaufgaben von Lehrerinnen und Lehrern.
Christine Oesterreich berichtet in ihrer Einleitung, dass der Zusammenhang von Arbeitsqualität und Lehrergesundheit bisher überwiegend unter der Wirkungsrichtung betrachtet wurde, unterrichtliche Aspekte wie Klassengröße oder Zusammensetzung der Schülerschaft als Auslöser von Belastung und Beanspruchung von Lehrkräften zu untersuchen. Noch zu selten wird untersucht, ob sich in den Unterrichtsfächern wie z.B. im Sport spezifische Anforderungen finden lassen, die zu einem erhöhten Belastungserleben und zu vermehrten Stressfolgen bei Lehrkräften mit diesen Fächern führen können. Solche fachspezifischen Erkenntnisse sind auch von praktischer Bedeutung, z.B:in der Diskussion um personale (z.B: Stimmbildung) und organisationale (z.B: Lärmreduktion) Ressourcen, für die Lehreraus- und Weiterbildung und die Anpassung von Lehrer-Arbeitszeit-Modellen. Nur wenige Studien liefern Ergebnisse zur anderen Wirkrichtung, etwa zur Auswirkung der persönlichen Gesundheit von Lehrkräften auf deren Unterrichtshandeln. Die Reziprozität des Beanspruchungserlebens der Lehrkräfte und der Schülerwahrnehmung, dem Schülerverhalten und der Schülerleistung stellt angesichts der Diskussion um guten Unterricht ein wichtiges Forschungsfeld dar. Ein Grund für die fehlende Datenlage ist sicherlich, dass die meisten Studien auf der Befragung von Lehrkräften basieren, die eine Sicht der Schülerinnen und Schüler auf deren Handeln aber nicht einbeziehen.
Diesem Forschungsdesiderat möchte sich Christine Oesterreich sowohl inhaltlich als auch methodisch annehmen. Sie nimmt das Beanspruchungserleben von Sportlehrkräften in den Blick und untersucht dabei fachspezifische Einflussfaktoren. In einem zweiten Schritt prüft sie die unterrichtliche Relevanz des Beanspruchungserlebens von Sportlehrkräften sowohl aus Sicht der Lehrkräfte als auch der Schülerinnen und Schüler mit einem Datensatz aus der DSB-SPRINT-Studie (Sportunterricht in Deutschland des Deutschen Sportbundes aus dem Jahr 2006). Als Matrix für ihre Hypothesenbildung dienen ihr das Rahmenmodell von Rudow (1994), eines der ältesten Modelle der Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf, das verschiedene andere Ansätze integriert, explizit für den Lehrerberuf entwickelt wurde und bis heute Relevanz hat, z.B: bei der Entwicklung von Gefährdungsanalysen für den Lehrerberuf, und das Angebots-Nutzungs-Modell der Unterrichtswirksamkeit von Helmke (2010). Sie verknüpft damit bildungswissenschaftliche Erkenntnisse mit stresstheoretischen Überlegungen.
Obwohl das Fach Sport spezifische Arbeitsbedingungen (z.B: körperbezogene Bildungsprozesse) und damit besondere Anforderungen an Lehrkräfte aufweist, zeigt Oesterreich, dass die Studienlage sehr dürftig ist. Umso bedeutsamer sind hier die Befunde zu den Beanspruchungsmustern der Sportlehrkräfte, die in der DSB-SPRINT-Studie mit einer gekürzten Version des persönlichkeitsdiagnostischen Instruments AVEM (Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster nach Schaarschmidt / Kieschke 2008) erfasst wurden. Entgegen allen Erwartungen zeigen sich keine Hinweise für ein fachspezifisch abweichendes, besonders positiv oder negativ ausgeprägtes Beanspruchungserleben der befragten 1158 Sportlehrkräfte. Dieses Ergebnis ist insofern mit Skepsis zu betrachten, als die empirische Basis nur mithilfe eines Instrumentariums gebildet wurde. Der AVEM erfasst gemäß seinem persönlichkeitsdiagnostischen Ansatz die drei Sekundärfaktoren persönliches Arbeitsengagement, Widerstandsfähigkeit und berufsbegleitende Emotionen. Die Konzentration der Lehrerbelastungsforschung auf personenbezogene Einflussfaktoren wird von einigen Autoren kritisch gesehen (z.B: Rothland 2009). Den Aspekten der Persönlichkeit werde ein Primat bei der Verursachung von Beanspruchungsfolgen zugeordnet, berufsspezifische Anforderungen oder Arbeits- und Handlungsbedingungen (z.B: Lärm im Sportunterricht) werden hingegen nicht als Verursacher hoher Belastung in den Blick genommen, so die Argumente der Kritiker. Neuere Instrumente (z.B: COPSOQ) nehmen deshalb den Lehrerberuf auf Basis eines arbeitswissenschaftlichen Modells einer Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen der Arbeitssituation (Belastungen) und dem Zustand des arbeitenden Menschen (Belastungsfolgen bzw. Beanspruchungen) in den Blick. Oesterreich diskutiert darüber hinaus eine Einschränkung der Aussagekraft der AVEM-Ergebnisse durch Probleme der Normierung bei der Erfassung beruflicher Beanspruchung.
Aufbauend auf den Ergebnissen der Beanspruchungsmuster von Sportlehrkräften prüft Oesterreich die Relevanz der erlebten Beanspruchung für den Sportunterricht. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Beanspruchungserleben aus Sicht der Sportlehrkräfte mindernd auf die Unterrichtsqualität auswirkt. Dieser Befund lässt sich in der mit einem Fragebogen für die Stufen 4, 7 und 9 erfassten Schülerperspektive jedoch nicht eindeutig belegen. Vor allem Lehrkräfte mit dem gesunden Beanspruchungsmuster Engagement weisen im Selbstbericht signifikant positivere Ausprägungen in Bezug auf Leistungserwartungen, Persönlichkeitsentwicklung der Schüler, Differenzierung und Vermittlung neuer Inhalte auf als Personen mit einem gesundheitlich eingeschränkten Muster. Für andere Muster ließen sich erwartete Befunde nicht bestätigen. Oesterreich interpretiert die Studienlage und ihre Ergebnisse zur unterrichtlichen Relevanz der erlebten Beanspruchung von Lehrkräften dahingehend, dass die Gesundheit der Lehrkräfte zukünftig als ein Merkmal schulischer Qualität verstanden werden sollte.
Die Studie von Oesterreich ist aufgrund des umfangreichen und aktuellen Literaturüberblicks und der Spezifizierung auf den Sportunterricht eine wertvolle Quelle für Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner an Hochschulen und Studienseminaren und eröffnet zahlreiche Anregungen für nachfolgende Forschungen. Sie rückt damit ein in der Lehrerbelastungsforschung nur wenig beachtetes Fach in den Mittelpunkt und setzt mit dem Fokus auf das durch die Gesundheit beeinflusste Unterrichtshandeln neue Akzente. Ihre empirische Untersuchung zur Auswirkung der persönlichen Gesundheit von Sportlehrkräften auf deren Unterrichtshandeln bieten für Schulbehörden und Schulleitungen sowie Lehrkräfte zahlreiche Anregungen für die Schul- und Unterrichtsentwicklung.
Auch Stefanie Morgenroth thematisiert in ihrem Buch den Zusammenhang von Lehrerverhalten und Unterrichtsentwicklung, allerdings nicht unter der Perspektive von Beanspruchungsmustern, sondern unter der der Lehrerkooperation. Wie Oesterreich verbindet Morgenroth Ergebnisse aus der Bildungsforschung (Lehrerkooperation) gewinnbringend mit Theorien der Stressforschung. Sie verfolgt dabei einen ressourcentheoretischen Ansatz, bei dem sowohl individuumsbezogene als auch organisationsstrukturelle Bedingungen von Lehrerkooperation analysiert werden können. Morgenroth betont den explorativen Charakter ihrer Arbeit, in der erstmalig Zusammenhänge und Wirkungen von Ressourcenveränderungen, Copingstrategien und unterschiedlichen Formen von Lehrerkooperation untersucht werden. Lehrerkooperation wird unter Bezug auf die aktuelle Forschung als zentrale Anforderung für Schulentwicklung verstanden und in Anlehnung an Gräsel et al. (2006) in drei Formen differenziert: Austausch (wechselseitige Versorgung mit Material und Informationen), Synchronisation (Arbeitsteilung und koordinierte Abstimmung der Arbeitsschritte) und Kokonstruktion (gemeinsame Aufgaben- und Problemlösung, um im gemeinsamen Arbeitsprozess qualitativ hochwertigere Ergebnisse zu erzielen als alleine). Diese Formen unterscheiden sich nach Intensität und Ressourceneinsatz sowie Funktion. Morgenroth interessiert sich besonders für den Einfluss von Autonomieerleben auf Lehrerkooperation. Wird pädagogische Autonomie in der Forschung als Schlüsselressource für Gesundheit verstanden, wird sie im Zusammenhang mit intensiver Lehrerkooperation bislang eher als hemmende Variable diskutiert (Lehrkraft als Einzelkämpfer).
Die Studie folgt der Hauptfragestellung, welche Ressourcen und Copingstrategien notwendig sind, um Lehrerkooperation im Kontext eines größeren schulischen Veränderungsprozesses im Sinne der Kokonstruktion als intensivster und effektivster Kooperationsform zur Unterstützung von Schulentwicklung erfolgreich umzusetzen. Morgenroth nennt als ein Forschungsdesiderat, dass in den meisten Studien Lehrerkooperation positive Effekte in Bezug auf Professionsentwicklungund Umgang mit Stress zugeschrieben werden, der stressreiche Kontext (z.B: eine Innovation mit erhöhtem Arbeitsaufwand und innerschulischen Divergenzen umsetzen), in dem Kooperation stattfinden kann, aber selten untersucht wird. Morgenroth nimmt für ihre Untersuchung deshalb als Beispiel für eine stressreiche Situation die Innovation Einführung eines Mathematiklehrplans für Grundschulen (NRW 2008 / 2009) und betrachtet die Zusammenhänge zwischen verfügbaren Ressourcen und Stressbewältigungsstrategien mit der Ausübung verschiedener Kooperationsformen der Lehrkräfte. Sie greift dabei auf quantitative längsschnittliche Daten eines an der Universität Wuppertal durchgeführten BMBF-Projektes (Lehrerfortbildungen zur Innovationsunterstützung im Mathematikunterricht LIMa) mit 118 Lehrkräften aus 29 Grundschulen zurück. Im Gesamtfragebogen des LIMa-Projektes wurden die Ressourcen, Copingstrategien und die Lehrerkooperation miterfasst. Der Schwerpunkt der Arbeit von Morgenroth liegt allerdings im qualitativen Teil, nämlich in 14 zusätzlich zum LIMa-Projekt mit Teilnehmern durchgeführten problemzentrierten Interviews. Ziel der qualitativen Analyse war es, unterschiedliche Autonomiemuster für die Erklärung komplexer Wirkungszusammenhänge zwischen der Autonomie von Lehrkräften und der Ausübung intensiver Lehrerkooperation zu gewinnen.
Morgenroth kann vier Autonomiemuster identifizieren. Hierbei wird deutlich, dass ein passendes Ausmaß an (pädagogischer) Autonomie eine Bedingungsressource von Lehrerkooperation ist. Morgenroth spricht vom Autonomie-Interdependenz-Prinzip: Die Ausübung der Kokonstruktion als effektivster Kooperationsform wird von den Lehrkräften selber initiiert, weil sie erkennen, dass sie gemeinsam mehr erreichen können als alleine und sie auch persönlich und fachlich profitieren (Ressourcengewinn). Fehler werden als ein Teil von persönlichen Lern- und Entwicklungszielen verstanden und es ist davon auszugehen, dass es auf der Basis gemeinsamer produktiver Entwicklungsmöglichkeiten zu einer langfristigen Kokonstruktion kommt.
Als Gelingensbedingung für intensive Lehrerkooperation nennt Morgenroth, dass Innovationen in der Schule nicht als individuelles, sondern als gemeinsames Handlungsziel verstanden werden müssen. Die von ihr beschriebenen „Ressourcengewinnspiralen“ können sich nur dann etablieren, wenn der Austausch auf Augenhöhe stattfindet und der Mehrgewinn für alle deutlich wird. Morgenroth kann damit zeigen, dass organisationsstrukturelle Gegebenheiten die Entscheidung von Lehrkräften für Kokonstruktion beeinflussen. Für zukünftige Studien sollten deshalb weniger subjektive Einschätzungen von Lehrkräften zur Lehrerkooperation Berücksichtigung finden, sondern das Verhältnis zwischen Individuum und sozialer Umwelt.
Morgenroths Verdienst ist es, in einem innovativen und anspruchsvollen Forschungsdesign neue Erkenntnisse zu den Gelingensbedingungen von Lehrerkooperation zu gewinnen. Dies ist von besonderer Bedeutung, da Mitarbeit an Schulentwicklung inzwischen zu den Aufgaben von Lehrkräften gehört. Umso wichtiger ist es, bereits in der Ausbildung Studierende auf diese Aufgaben vorzubereiten und ihnen Wege zum Gelingen aufzuzeigen. Das Buch von Morgenroth liefert zudem wertvolle Impulse für die Personengruppen, die sich beruflich mit Schulentwicklungsprozessen beschäftigen.
EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)
Sammelrezension zum Thema Lehrergesundheit
Gesunde Lehrkräfte – guter Unterricht?
Ausprägung und unterrichtliche Relevanz des beruflichen Beanspruchungserlebens von Sportlehrkräften
Wiesbaden: Springer VS 2015
(247 S.; ISBN 978-3-658-08139-3; 39,99 EUR)
Lehrerkooperation unter Innovationsstress
Soziale Stressbewältigung als wertvoller Wegweiser
Wiesbaden: Springer VS 2015
(312 S.; ISBN 978-3-658-10009-4; 39,99 EUR)
Birgit Nieskens (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Birgit Nieskens: Rezension von: Oesterreich, Christine: Gesunde Lehrkräfte – guter Unterricht?, Ausprägung und unterrichtliche Relevanz des beruflichen Beanspruchungserlebens von Sportlehrkräften. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365808139.html
Birgit Nieskens: Rezension von: Oesterreich, Christine: Gesunde Lehrkräfte – guter Unterricht?, Ausprägung und unterrichtliche Relevanz des beruflichen Beanspruchungserlebens von Sportlehrkräften. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365808139.html