EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Sammelrezension zum Thema „Reformpädagogik“

Heiner Barz (Hrsg.)
Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik
Wiesbaden: Springer VS 2017
(623 S.; ISBN 978-3-658-07490-6; 119,99 EUR)
Till-Sebastian Idel / Heiner Ullrich (Hrsg.)
Handbuch Reformpädagogik
Weinheim: Beltz 2017
(375 S.; ISBN 978-3-407-83190-3; 44,95 EUR)
Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik Handbuch Reformpädagogik Die Reformpädagogik – darin stimmen auch die Einschätzungen der beiden vorliegenden Handbücher überein – gilt nach wie vor als bedeutsamer Gegenstand der pädagogischen Theoriebildung und Praxis. Kontinuierlich scheinen zwischen affirmierender Zustimmung und grundsätzlicher Kritik widerstreitende Positionen eingenommen zu werden. Dieses Spannungsfeld trägt nicht zuletzt dazu bei, dass die Theorie und Forschung zur Reformpädagogik stetig neue Ansätze zur Klärung von deren Stellung und Valenz hervorbringt [1], wie auch zugleich die Auseinandersetzungen mit der Geschichte und gegenwärtigen Praxis der Reformpädagogik fortwähren. Obwohl – wie mehrfach in beiden Handbüchern hervorgehoben wird – nicht gerade wenige Überblicks- und Einführungsbände in die Reformpädagogik vorliegen [2], verschreiben sich die vorliegenden Publikationen dem Anspruch, die gegenwärtigen Entwicklungen in Theorie und Praxis der Reformpädagogik zu sichten und der pädagogischen Diskussion zugänglich zu machen.

Die „Existenzberechtigung“ (5) des von Heiner Barz herausgegebenen „Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik“ sieht dieser im Anliegen der „Aktualisierung“ (ebd.) in Form eines prüfenden Blicks auf „Anregungsgehalte“ (ebd.) wie auch Umsetzungsbedingungen reformpädagogischer Konzepte gegeben. Verspricht die im Titel angesprochene Verbindung von „Bildungsreform und Reformpädagogik“ zunächst eine neue Sichtweise, wird diese Erwartung weder systematisch im Aufbau des Bandes noch inhaltlich in den Zugangsweisen der Beiträge eingelöst. Recht unverbunden bleiben stärker historiographisch oder praxisorientiert ausgerichtete Beiträge mit dem Fokus auf Reformpädagogik neben einigen wenigen Beiträgen mit dem Fokus auf Bildungsreform stehen, sodass die erwartete Neuperspektivierung auf das Verhältnis von Bildungspolitik, erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und pädagogischer Praxis im Bereich der Reformpädagogik kaum hinlänglich ausgeleuchtet wird. Beispielhaft mag hier der von Tippelt (113ff) vorgelegte Beitrag genannt werden, der die strukturellen Entwicklungen der Bildungsbeteiligung und -organisation in den letzten 50 Jahren der westdeutschen Bildungslandschaft nachzeichnet, ohne je auf Positionen und Effekte der Reformpädagogik Bezug nehmen zu müssen. Insgesamt überwiegt in diesem Handbuch ein stärker bildungssoziologisch-bildungsökonomisch geprägter Blickwinkel, der sich bereits eingangs im Vorwort des OECD-Forschers Schleicher zeigt, dass um die Stichworte „Erfolg“ und „Innovation“ kreist. Dieser Fokus findet im letzten Beitrag des Handbuchs (Rolff, 595ff) eine Fortsetzung, der die Reformpädagogik nahtlos als Teil von Schulentwicklungsprogrammen mit der Kennzeichnung als Bildungsreform verbindet. Zwar kann damit einerseits der Diskurs um Reformpädagogik eingebettet werden in aktuellere schultheoretische Perspektiven, indem auf den Wandel zwischen öffentlicher und privater Bildungsverantwortung etwa im Ausgreifen kompetitiver Logiken wie Best-Practice-Modellen, Leistungsvermessung, Stiftungsfinanzierungen (Höhne) etc. eingegangen wird. Es verbleiben andererseits diese Darstellungen jedoch vornehmlich auf der Ebene deskriptiver Benennungen, ohne den Entwicklungen die nötige bildungstheoretische und erziehungswissenschaftliche Reflexivität zukommen zu lassen, die zu einer argumentativ und kritisch unterlegten Einschätzung führen könnte. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass für dieses Handbuch insbesondere für die Ausführungen zu den gegenwärtigen Entwicklungen im reformpädagogischen Bildungsbereich Autorinnen und Autoren gewonnen wurden, die größtenteils in der aktuellen reformpädagogischen Praxis engagiert sind.

Nicht notwendig muss dies mit einem Mangel an Reflexivität gegenüber den praktischen Vollzügen einhergehen, in den vorliegenden Beiträgen jedoch dominiert nicht selten ein Modus der Darstellung, der – nicht nur bei den klassischerweise stark zwischen Affirmation und Verteidigung gelagerten Selbstpositionierungen wie etwa zur Waldorfpädagogik – eher pejorativ-werbend bis missionarisch in der Tonlage gehalten ist, als es eine übersichtliche und erschließende Rekonstruktion im Handbuch-Charakter erforderlich machen würde. So geraten die Darstellungen der heutigen Reformpädagogik zu deskriptiven Anzeigen, die in Teilen ohne Bezüge auf bildungstheoretische, historiographische oder schultheoretische Diskussionen auskommen. Aus der Gesamtanlage dieses zwar insgesamt sehr umfangreichen Bandes resultiert in Konsequenz eine verkürzende Behandlung reformpädagogischer Motive, Praktiken und Anliegen, die – entgegen des Anspruchs des Handbuchs auf Aktualisierung – kaum anders denn als entweder historisch abgeschlossen oder als stichwortartig benannte methodisch-didaktische Repertoires wie ‚Individualisierung‘, ‚Anschaulichkeit‘ oder ‚Projektarbeit‘ behandelt werden.

Dennoch werden einige wichtige und auch neue Perspektiven dem Diskurs um Reformpädagogik hinzugefügt, etwa die Bezüge zu kolonialisierenden Denkmustern in der romantisierenden Orientalismus-Rezeption (Horn) oder die Fokussierung des spannungsreichen Verhältnisses der Reformpädagogik zu Technologien und Medien (Wolf) wie auch die Berücksichtigung von Homeschooling (Ladenthin - wenn auch ohne jeglichen Rückbezug auf die Diskussionen um Entschulung). Auch die instruktive Beleuchtung der Nachkriegs-Rezeption der Reformpädagogik in der ehemaligen DDR (Pehnke) stellt eine wichtige Ergänzung der westeuropäisch orientierten Historiographie zur Reformpädagogik dar. Überdies finden sich differenziert und ausgewogen argumentierende Beiträge, wie etwa Knolls Darstellung zu Dewey (203ff) oder Idels Sichtung zur Forschungslage im Feld der Waldorfpädagogik (327ff). Zugleich zeigt sich an diesem Beispiel eine der Schwächen im Aufbau des Bandes: Neben dem eben genannten Beitrag wird die Waldorfpädagogik – und gleiches gilt für die Montessori-Pädagogik – in zwei weiteren Beiträgen zum Gegenstand gemacht, da in der Logik dieses Handbuchs zwischen „Gründergeneration“ (Abschnitt 2), „Reformpädagogischen Schulen heute“ (Abschnitt 3) und „Empirischen Forschungen zur Reformpädagogik“ (Abschnitt 4) unterschieden wird. Diese Unterteilung hat zur Folge, dass nicht nur stets ausschnitthaft Aspekte thematisiert werden, sondern zugleich Redundanzen in der Darstellung entstehen, ohne dass diese Beiträge aufeinander Bezug nähmen. So hinterlässt dieses Handbuch insgesamt den Eindruck einer Beitragssammlung, deren Zusammenhang sich nicht entlang einer ausgewiesenen Systematik ergibt und die möglicherweise – darauf lassen zahlreiche Lektoratsfehler schließen – unter äußerem Zeitdruck entstand.

Weitaus stringenter im äußeren Aufbau und inneren Zusammenhang ist das von Till-Sebastian Idel und Heiner Ullrich herausgegebene „Handbuch Reformpädagogik“ angelegt. Zwar wird ähnlich wie im Handbuch von Barz ein Bogen von historischen bis zu aktuellen Themenstellungen der Reformpädagogik gespannt, hier jedoch werden systematisch einleuchtende Punkte in der Abfolge der Beiträge und deren Zusammenstellung ersichtlich. Wenn auch die Einschätzung Tenorths (22ff), die Reformpädagogik sei vor allem als Modernisierungsphänomen des Erziehungs- und Bildungssystems zu lesen, ein durchaus bekannter Teil des historiographischen Diskurses ist, folgen doch nicht nur hier, sondern auch im historischen Teil insgesamt ausgewogene Beiträge zu Geschichte, Rezeption und Strömungen der Reformpädagogik. Dies entspricht dem Anliegen dieses Handbuchs, einen „Perspektivwechsel von der monumentalen Tradierung zur empirischen Evaluation reformpädagogischer Praxen beschreiten“ (16) zu ermöglichen. Auch wenn an dieser Stelle die Engführung auf „Evaluation“ eine unkritische Nähe zu neuen Steuerungslogiken im Bildungswesen anzeigt, wird diese in der Anlage des Handbuchs und insbesondere in jenen Beiträgen überschritten, die weiterführende und systematisch-reflexive Perspektiven zu gewinnen vermögen. Hierzu zählt etwa der Beitrag von Horn (76ff), der ähnlich und doch mit einem anderen Akzent als im Handbuch von Barz die internationale Verflechtung der Reformpädagogik im Horizont kolonialer Perspektiven aufarbeitet. Auch der Beitrag von Rabenstein (292ff) eröffnet eine problematisierende Diskussion auf das reformpädagogische Motiv der Individualisierung, die sich mit neoliberalen Regierungsweisen der Responsibilisierung und Selbstführung zu verschwistern vermag. Der übergreifende Zusammenhang zwischen Bildungspolitik und Reformpädagogik – insbesondere in Formen neuerer Governancen des Bildungsbereichs [3] - wird jedoch auch in diesem Handbuch vernachlässigt. Ferner fehlt eine Darstellung der Nähen und Bezüge zwischen Reformpädagogik und völkischer Ideologie der NS-Zeit, die auch den Blick für heutige Bezüge zu rechtskonservativen Bewegungen im Alternativschul- und in schulkritischen Bereichen zu öffnen erlaubte.

Beide Handbücher beinhalten somit zwar in unterschiedlichen Gewichtungen einige neue Perspektiven auf die Reformpädagogik, zugleich lassen sie eine Reihe zentraler Punkte vermissen: Neben den bereits erwähnten Lücken werden wichtige Bereiche reformpädagogischer Theorie und Praxis in beiden Handbüchern gänzlich außer Acht gelassen, wozu vor allem die Erwachsenenbildung und die Jugend- bzw. Sozialarbeit, aber ebenso die Frühpädagogik zu zählen wären. Zwar wird in beiden Handbüchern diese Eingrenzung zumindest benannt; für eine umfassende Darstellung, die vom Handbuch-Format durchaus erwartet werden kann, scheint diese Verkürzung auf den Bereich Schule jedoch kaum angemessen. Zudem bleiben im gewählten Fokus auf den Schulbereich einige Aspekte unerwähnt: Ebenso wenig wie die Arbeitsschulbewegung finden die vielfältigen, sozialistisch-libertär orientierten Reformpädagogiken Berücksichtigung, wie auch auf die Kinderladenbewegung sowie die Vorfälle sexualisierter Gewalt in reformpädagogischen Einrichtungen nur marginal eingegangen wird. Diese Auslassungen mögen dem Umstand geschuldet sein, dass beide Handbücher gänzlich auf eine gesellschaftspolitische und sozialtheoretische Einbettung verzichten, obwohl immerhin die Bezüge zur Lebensreform (Skiera im Handbuch von Idel/Ullrich) und zum Wandel der Geschlechterverhältnisse (Kleinau in Barz bzw. Hansen-Schaberg in Idel/Ullrich) hergestellt werden. Der weitere demokratie- und gesellschaftspolitische Umkreis reformpädagogischer Strömungen bleibt jedoch sowohl in Geschichte als auch Gegenwart der Reformpädagogik ausgespart. Dem Charakter eines Handbuches werden beide Publikationen somit nur wenig gerecht, da die genannten Mängel systematische Fehlstellen implizieren und ein Überblick wie differenzierter Zugang zur Theorie, Praxis und Forschung der Reformpädagogik ohne den kontextualisierenden Rückgriff auf vorliegende Handbücher und Überblicksdarstellungen allenfalls kursorisch ermöglicht wird.

[1] Vgl. hierzu etwa die Publikation von Keim, W. / Schwerdt, U. / Reh, S. (2016): Reformpädagogik und Reformpädagogik-Rezeption in neuer Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[2] Insbesondere wird in den Beiträgen beider Handbücher – zu Recht – durchgehend auf das Handbuch von Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt verwiesen: vgl. Keim, W. / Schwerdt, U. (Hrsg.) (2013): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890-1933), Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Kontexte, Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen. Frankfurt/M.: Peter Lang.
[3] Vgl. Bellmann, J. / Waldow, F. (2007): Die merkwürdige Ehe zwischen technokratischer Bildungsreform und empathischer Reformpädagogik. In: Bildung und Erziehung 60/4, S. 481-503.
Kerstin Jergus (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kerstin Jergus: Rezension von: Barz, Heiner (Hg.): Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik, Springer VS. Wiesbaden: Wiesbaden 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365807490.html