Der Titel des von Benjamin Jörissen und Torsten Meyer editierten Sammelbandes spielt auf ein weites, aber inhaltlich unbestimmtes Feld an. Im Vorwort wird dem Leser / der Leserin sodann klar, worum es im Eigentlichen gehen wird. Der Band beschäftigt sich unter Einnahme mannigfaltiger Perspektiven mit gewandelten mediatisierten und technologisierten Umwelten und Strukturen im Zusammenhang mit Bildungs- und Subjektivierungsprozessen. Damit ist bereits eine der Hauptthesen des Bandes angesprochen, nämlich, dass „veränderte Medialität [...] zu veränderter Subjektivität [führt]“ (7). Die Herausgeber konstatieren im Vorwort weiter, dass sich Vorstellungen, in welchen Bildung ausschließlich als an ein Einzelsubjekt gebunden verstanden wird, in der Gegenwart nicht länger haltbar sind. Stattdessen muss Bildung infolge massiv gewandelter Medialität als prozesshaftes Phänomen gedacht werden, das auf globalen Netzwerken und Kollaboration beruht. Bildung im Zeitalter des Web 2.0 ist also nicht mehr so sehr an einzelne Subjekte geknüpft, sondern spielt sich viel eher zwischen unzähligen Subjekten in komplexen Vernetzungsprozessen ab (ebd.). In diesem Zusammenhang ist die Rede vom „lernende[n] Netz und [den] sich darin bildenden Communities“ (8), die den traditionellen Vorstellungen von Bildung – wie sie mehrere Jahrhunderte überdauert haben – nicht mehr vollumfänglich gerecht werden. An dieser Feststellung setzten zahlreiche Beiträge an.
Der Band wendet sich einer hochaktuellen und in der Erziehungswissenschaft kontrovers verhandelten Thematik zu. Die im Vorwort geweckten Erwartungen, dass Konzepte wie ‚Subjektivität’, ‚Medialität’ und ‚Netzwerk’ einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden, erfüllen sich im Verlaufe der Lektüre weitgehend. Die einzelnen Beiträge ordnen die Herausgeber entlang von vier Themenschwerpunkten an: „Bildung und Übertragung“ – „Subjekt, Sinne und Welt“ – „Akteure und Netzwerke“ – „Kunst“.
Es ist hervorzuheben, dass ästhetische bzw. kunsttheoretische / -pädagogische Fragestellungen viele Beiträge durchziehen, was auf die Relevanz der Kunst aufmerksam macht, wenn es um „Denkmöglichkeiten neben, unterhalb und jenseits unserer gängigen und pädagogisch etablierten und praktizierten Vorstellungen von Subjektivität“ (17) geht. Bemerkenswert ist hierbei außerdem, dass einer der Herausgeber (Meyer) sowie zahlreiche Autor_innen des Bandes (z. B. Grand; Hedinger; Krebber; Pazzini) einen dezidiert künstlerischen oder kunstpädagogischen Hintergrund aufweisen.
Eine Besonderheit fällt rasch ins Auge: Der letzte Beitrag des Sammelbandes – dem vierten Themenschwerpunkt „Kunst“ zugeordnet – erscheint nicht als schriftliche Abhandlung in wissenschaftlich weitverbreiteter Manier, sondern in der Form eines äußerst lesenswerten Interviews zwischen dem Managementforscher, Wissensunternehmer und Strategiedesigner Simon Grand und dem Künstler und Kunsthistoriker Johannes M. Hedinger. Das Interview wurde auf einem Flug von Zürich nach Berlin geführt. In diesem Beitrag mit dem Titel „Flug LX974: Zum gewandelten Künstlerverständnis im globalen Kunstkontext“ setzt sich Hedinger mit seinem künstlerischen Schaffen sowie mit dem eigenen Selbstverständnis als Künstler ebenso auseinander wie mit Aspekten der Lokalität und Globalität, der Wissensökonomie und der Massenkultur, Transdisziplinarität und allgemein mit dem Erschaffen von Neuem. Der Text des Interviews wird unterbrochen durch zahlreiche QR-Codes, die unter Verwendung eines Smart Device direkt zu Webseiten der besprochenen Kunstprojekte und zu weiteren Informationen führen. Ebenfalls werden zahlreiche Durchsagen, wie sie an Bord eines Flugzeugs üblich sind, zwischen die Interviewpassagen eingestreut, was die Lektüre dieses Beitrags zusätzlich zu etwas reizvollem Neuem macht. Dem Leser / der Leserin eröffnen sich durch dieses kunstvolle Arrangement zudem immer wieder implizite Bezüge auf die übergeordnete Thematik des Sammelbandes sowie auf dessen andere Beiträge.
Im ersten Themenschwerpunkt „Bildung und Übertragung“ werden Beiträge versammelt, die sich unter Bezugnahme auf psychoanalytische Ansätze in vielfältiger Weise dem Konzept der Übertragung zuwenden. Betont werden hierbei die Möglichkeiten zur Erzeugung von Räumen zwischen Subjekten und damit einhergehenden Bildungsprozessen, die infolge gewandelter Subjektivität angestoßen werden können.
Unter kritischer Bezugnahme auf die medienwissenschaftlichen Arbeiten Erich Hörls richtet Manuel Zahn den Blick auf die veränderten technologischen Voraussetzungen im Zusammenhang mit Subjektivität. Er tut dies auf eindrückliche Weise, indem er das Werden des Subjekts des Kinos – einerseits mit Jacques Lacan sowie andererseits mit Gilles Deleuze und Félix Guattari argumentierend – in der Art einer „Montage aus Bewegungsbildern“ (86) zeichnet. Das Subjekt müsse „als Montage von Abweichungen, Veränderungen gedacht werden – als ein Anders-Werden. Das kinematographische Subjekt wird als ein Gefüge von Bewegungen und Bildern in der Zeit“ (87f).
Ebenfalls auf Lacan – und mit ihm auf die strukturale Psychoanalyse – rekurrierend, denkt Torsten Meyer in seinem Beitrag „Ein neues Sujet“ über das Verhältnis von Subjektivität und Medialität nach. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere, dass Meyer auf zahlreiche Arbeiten von anderen Autor_innen des Bandes verweist. Dadurch gelingt es ihm, die im Band verhandelte Vielfalt an Perspektiven vor dem Hintergrund der Hauptthese des Bandes – nämlich, dass veränderte Medialität zu veränderter Subjektivität führt – zusammenzubringen.
Am Konzept des „medialen Selbst“ anknüpfend, bietet Manfred Faßler in seinem Beitrag eine anthropologische Perspektive auf Denken, Lernen und Wissen an. Als Ausgangslage seiner Überlegungen konstatiert der Autor, dass wir seit rund 30 Jahren in einer beginnenden Ära einer Digitalen Klassik leben (20), was er an der Intensivierung und den stetigen Veränderungen des Medialen und damit an einem „Umbauen der technischen Wahrnehmungsprogramme und ihrer Plausibilitätsgerüste“ (21) festmacht. Dies führe dazu, dass sich das Denken, das Erinnern sowie auch Körperhaltungen und Verhaltensmuster massiv wandeln. Nicht zuletzt ist die Rede davon, dass sich infolgedessen Verschiebungen von Selbst- und Weltverhältnissen ergeben. Diese Aspekte legt der Autor detailliert dar. Wie Faßler unter diesen Vorzeichen nun aber Bildung – bzw. Bildung fürs Ungewisse, wie es im Titel des Beitrags heißt – denkt, bleibt weitaus unklarer. Wenn Faßler in diesem Zusammenhang postuliert, dass Bildung nicht mehr „als kultureller Lektürekurs oder kanonisierte Bücher-Wurfsendung“ (33) verstanden werden kann, ist dies noch nachvollziehbar. Es bleiben aber an der Stelle Fragen offen, wo festgehalten wird, dass Bildung dazu befähigen soll, „ein unterscheidungs- und anpassungsfähiges mediales Selbst entwickeln und nutzen zu können“ (ebd.).
Im einzigen englischsprachigen Beitrag geht es Norm Friesen um „Bildende Selbstpraktiken“. Der Autor eröffnet Einsichten in die Genealogie des inneren Dialogs im Zusammenhang mit pädagogischen (Selbst-)Praktiken. Am Schluss seiner Ausführungen weist Friesen kurz auf die neuen Möglichkeiten der „many-to-many“-Kommunikation des Internets hin. Hierbei wäre es aufschlussreich gewesen noch detaillierter herauszuarbeiten, welche Implikationen die „many-to-many“-Kommunikation für Bildungsprozesse haben könnte. Dies hätte möglicherweise auch zu einer gewissen Schärfung von Faßlers Überlegungen zu Bildung im Zusammenhang mit dem Konzept des „medialen Selbst“ beitragen können.
Der zweite Themenschwerpunkt „Subjekt, Sinne und Welt“ kreist im Wesentlichen um die Frage, wie sich „Sinnlichkeit und das sinnliche Bildungssubjekt“ (11) unter den gegenwärtigen Bedingungen globaler technologischer Netzwerkentwicklungen sowie der Entstehung von „‚Mensch-Gadget-Web’-Einheiten“ (ebd.) – im Sinne von Donna Haraways Cyborg-These – denken lässt. Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich alle drei Beiträge, die diesem Themenschwerpunkt zugeordnet sind, in spezifischer Weise mit dem Vorschlag einer Auflösung von Dichotomien (oder auch Asymmetrien) wie nah vs. fern, online vs. offline oder symbolisch vs. körperlich (ebd.).
Norbert Meders Beitrag ist nicht nur anspruchsvoll betitelt – „Das Medium als materia quantitate designata“ –, sondern ist auch aufgrund der Tatsache, dass er „im Modus des Räsonierens“ (131) verfasst ist, keinesfalls leicht erschließbar. Ähnliches lässt sich für den Beitrag von Olaf Sanders konstatieren. Dessen Ausführungen tragen den eindrücklichen Titel „Ganz Altes denken. Auf der Suche nach verschütteten Grundlagen einer bewegungsbildbasierten Bildungstheorie, in der das Subjekt nur noch larvenhaft erscheint“. Was Sanders den Lesenden zumutet, lässt sich anhand seiner eigenen Worte am ehesten als Experiment der Vermengung von Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen beschreiben (vgl. 150). Dabei gelingt es Sanders in seinem Beitrag durchaus – mitunter in humorvoller Manier sowie anhand der Besprechung einiger Filmsequenzen –, neue Perspektiven „im Hinblick auf das Denken in Bewegungsbildern und seinen Stellenwert für Lebens- und Bildungsprozesse“ (160) zu eröffnen.
Auf eingängige Weise vermag Kristin Westphal mit ihrem Beitrag zu medialen Erfahrungen zur übergeordneten Thematik des Bandes beizutragen. Die Autorin setzt sich zum einen differenziert mit medialen Wirklichkeiten im Zusammenhang mit Fragen der Bildung und Leiblichkeit sowie mit Möglichkeiten der medialen Welt- und Selbsterschließung auseinander. Zum anderen gibt Westphal Hinweise, in welche Richtung zukünftige Forschungen gehen könnten, wenn es darum gehen soll, „das Medium selbst als Medium an der Schnittstelle Mensch und Medium [zu] artikulieren“ (146).
Dem dritten Themenschwerpunkt „Akteure und Netzwerke“ werden fünf Beiträge zugeordnet, die sich – häufig bezugnehmend auf die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours (z. B. Sørensen; Brauckmann; Carstensen) – mit der Problematik beschäftigen, wie „die Subjekt-Objekt-Dichotomie zu umgehen“ (13) wäre. Dies erinnert an Diskussionen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten zur Auflösung von Dichotomien, wie sie im zweiten Themenschwerpunkt im Fokus standen. Im dritten Schwerpunkt wird nun jedoch weiterhin gefragt, ob und wie das internetbasierte Wissenssystem und dessen Implikationen mit dem „Subjekt des Wissens“ zusammengebracht und -gedacht werden könnte und ob in ähnlich elementarer Weise von „Bildung der Community“ wie von „Bildung des Menschen“ die Rede sein kann (ebd.).
Der Sammelband ist nicht nur für (Medien- oder Kunst-)Pädagog_innen empfehlenswert, sondern generell für Lesende, die sich auf vielfältige und kreative Beiträge zu Fragen „im Schnittfeld von Medien- und Bildungsgeschichte(n)“ (7) einzulassen bereit sind. Insbesondere bereichernd wird die Lektüre des Bandes für jene Personen sein, die sich einerseits für psychoanalytische sowie filmtheoretische Ansätze interessieren. Anderseits ist der Band ersprießlich, wenn man sich eingehend mit bildungstheoretischen Lesarten der Latourschen Akteur-Netzwerk-Theorie beschäftigen möchte.
EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)
Subjekt Medium Bildung
Medienbildung und Gesellschaft
Band 28
Band 28
Wiesbaden: Springer VS 2015
(287 S.; ISBN 978-3-6580-6170-8; 39,99 EUR)
Madeleine Scherrer (Fribourg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Madeleine Scherrer: Rezension von: Jörissen, Benjamin / Meyer, Torsten (Hg.): Subjekt Medium Bildung, Medienbildung und Gesellschaft Band 28. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365806170.html
Madeleine Scherrer: Rezension von: Jörissen, Benjamin / Meyer, Torsten (Hg.): Subjekt Medium Bildung, Medienbildung und Gesellschaft Band 28. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365806170.html