Seit gut einem Jahrhundert gibt es wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Hochbegabung. In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich Pädagogen und Psychologen verstärkt mit dieser Thematik beschäftigt. Dabei sind u.a. Beratungsstellen entstanden, die sich auf den Umgang mit Hochbegabten spezialiert haben. Einige dieser Beratungsstellen stellen sich im hier zu besprechenden Band vor.
Im einleitenden ersten Kapitel skizziert Bettina Harder zunächst den Beratungsbedarf, der zur Zeit im Zusammenhang mit Hochbegabung besteht. Sie macht hierbei deutlich, dass die Beratungsanlässe in Abhängigkeit von der Klientel sowie deren Intentionen bei der Ratsuche variieren: von der Suche nach Fördermöglichkeiten für einzelne Schüler bis hin zur Identifikationshilfe zur Auswahl geeigneter Teilnehmer für spezielle Förderprogramme etc. Im Weiteren legt sie dar, wie Hochbegabtenberatung traditionell durchgeführt wurde. Vier Aspekte bestimmen dabei das Vorgehen. Harder illustriert sie unter Vorgriff auf die anschließend ausgeführten Beratungsstellen: Grundlage des gesamten Beratungsprozesses ist das Begabungskonzept. Dieser Aspekt beschreibt, was unter dem Begriff „Begabung“ verstanden wird. Mit dieser Definition wird zugleich angegeben, welche Personen Rat bei einer bestimmten Beratungsstelle suchen können. Minderleister kommen als Klienten einer bestimmten Beratungsstelle beispielsweise nur dann in Betracht, wenn diese die Begabung über das Potential – unabhängig von dessen Umsetzung in adäquate Leistung – definiert. Da Begabung üblicherweise als Teil der Persönlichkeit betrachtet wird, wird im Folgenden das Persönlichkeitskonzept beschrieben. Hier wird geklärt, welche weiteren Persönlichkeitsaspekte mit Blick auf die Entfaltung der Begabung (im Sinne des Umsetzens in entsprechende Leistung) und daher auch bei der Hochbegabtenberatung eine wichtige Rolle spielen. Aus diesen Konzepten ergibt sich, welche Aspekte im Identifikationsprozess beachtet werden müssen (z.B. ob und welche Persönlichkeitsmerkmale neben den intellektuellen Fähigkeiten ermittelt werden müssen). Auf dieser Grundlage werden den Ratsuchenden traditionellerweise geeignete Fördermöglichkeiten vorgeschlagen, die im Weiteren umgesetzt werden (Beratungskonzept).
In den folgenden zwölf Kapiteln stellen sich verschiedene Beratungstellen vor. Diese Beratungsstellen haben sich auf Beratungsanlässe spezialisiert, die mit besonderen Begabungen in Zusammenhang stehen. Die Autoren dieser Kapitel verfügen durchweg über langjährige praktische Erfahrung mit Hochbegabten sowie vielfach über wissenschaftliche Expertise mit dieser Thematik. Die Darstellung der einzelnen Beratungsstellen folgt dabei der im ersten Kapitel skizzierten Struktur von Begabungskonzept, Persönlichkeitskonzept, Identifikationskonzept und Beratungskonzept. Illustriert wird diese Vorstellung der Beratungsstellen durch zahlreiche Fallbeispiele, die einen Einblick in den typischen Beratungsprozess ermöglichen. Mitunter wird zudem die historische Entwicklung der jeweiligen Beratungsstelle skizziert.
Im letzten Kapitel fasst Robert Grassinger die „Entwicklungslinien in der Hochbegabtenberatung“ zusammen, die sich aus den vorgestellten Beratungsstellen ergeben. Auch er orientiert sich an der im ersten Kapitel beschriebenen Struktur der vier Konzepte, die für die Hochbegabtenberatung für relevant erachteten werden. Grassinger zeigt für jedes der Konzepte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Auf dieser Basis gibt er – jeweils unter dem Stichwort „Impuls“ – Anregungen zur Weiterentwicklung der Konzepte in der Hochbegabtenberatung, die er als Fachberatung verstanden wissen will. Die formulierten Impulse orientieren sich dabei an dem Verständnis und dem Vorgehen der Beratungsstelle (Landesweite Beratungs- und Forschungsstelle für Hochbegabung, LBFH), an der auch der Autor selbst tätig ist.
Das Buch ist u.a. durch die klare Gliederung gut lesbar: Die im ersten Kapitel aufgezeigte Struktur durchzieht den gesamten Band. Hilfreich und deshalb besonders hervorzuheben sind ebenfalls die bereits erwähnten zahlreichen Fallbeispiele aus der Beratungspraxis.
Durch das Vorstellen der zwölf Beratungsstellen kann der Leser – wie von den Herausgebern beabsichtigt – einen Überblick für die vielfältige Beratungslandschaft gewinnen. Von den Ausführungen scheint aus meiner Sicht jedoch eher eine der beiden intendierten Zielgruppen profitieren zu können. Personen, die sich beruflich mit Hochbegabtenberatung beschäftigen, erhalten hier z.B. die Gelegenheit, die eigene Beratungspraxis mit den aktuellen Konzepten zu vergleichen und vor diesem Hintergrund ggf. zu hinterfragen. Auch für Personen, die sich wissenschaftlich mit dem Thema Hochbegabung auseinandersetzen oder sich konzeptionell mit der Förderung besonders Begabter befassen (z.B. im Rahmen der Schulentwicklung), ist die Lektüre sicherlich interessant. Für Hochbegabte selbst, deren Eltern und einzelne Lehrkräfte scheint mir die Lektüre des vorliegenden Bandes nur dann hilfreich, wenn sie sich vorab schon intensiver (wissenschaftlich) mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Zur Einführung in das Thema „Hochbegabung“ ist der Band weniger geeignet, da z.B. Hochbegabungsmodelle – (auch) aufgrund des verfügbaren Platzes – nur skizziert werden. Ohne Vorkenntnisse dürften diese Ausführungen nur begrenzt verständlich sein. Zwar könnten persönlich Betroffene die hiesigen Informationen zur Auswahl einer geeigneten Beratungsstelle nutzen. In der Praxis dürfte aber bei der Suche einer Beratungsstelle z.B. zwecks einer möglichen Diagnose oder Hilfestellung bei der Förderung wohl eher die Nähe zum Wohnort die wesentliche Rolle spielen.
Unklar bleibt, nach welchen Kriterien die vorgestellten Beratungsstellen ausgewählt wurden. Ein entsprechender Hinweis wäre wünschenswert. Hilfreich wäre es für den interessierten Leser auch, wenn die (Email-)Adressen der einzelnen Beratungsstellen enthalten wären. So könnte man bei Bedarf direkt Kontakt mit den Beratungsstellen aufnehmen. Eine schöne Ergänzung wäre es, wenn die einzelnen Beratungsstellen Statistiken über die bei ihnen nachgefragten Beratungsanlässe – möglichst differenziert nach Hoch- vs. Normalbegabung und ggf. Geschlecht – bereitstellen würden. Dies würde einen noch differenzierteren Einblick in die jeweilige Beratungsarbeit erlauben. Möglicherweise hätte dies aber den Rahmen des Buches gesprengt.
EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)
Konzepte der Hochbegabtenberatung in der Praxis
Berlin: LIT Verlag 2012
(296 S.; ISBN 978-3-643-11704-5; 29,90 EUR)
Kathrin Ahlbrecht (Bilbao)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin Ahlbrecht: Rezension von: Ziegler, Albert / Grassinger, Robert / Harder, Bettina (Hg.): Konzepte der Hochbegabtenberatung in der Praxis. Berlin: LIT Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364311704.html
Kathrin Ahlbrecht: Rezension von: Ziegler, Albert / Grassinger, Robert / Harder, Bettina (Hg.): Konzepte der Hochbegabtenberatung in der Praxis. Berlin: LIT Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364311704.html