Mit dem Titel „Verantwortung und Anerkennung“ legt Anne Wihstutz als überarbeitete Fassung ihrer Dissertation eine qualitative Studie zur Bedeutung von Arbeit für Kinder vor, die im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts „Die Bedeutung von Arbeit für Kinder unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Partizipation und ihres Kompetenzerwerbs“ an der TU Berlin (2002-2004) erarbeitet wurde. Die Autorin hat Teilergebnisse dieser Gesamtuntersuchung für die Dissertationsschrift verwendet und für die vorliegende Veröffentlichung mit neuen Forschungsergebnissen unterlegt.
Anne Wihstutz erforscht mithilfe der vorliegenden Studie die Alltagserfahrungen von in Deutschland lebenden Kindern und untersucht die subjektiven Bedeutungen von Arbeit für Kinder. Die Besonderheit ihrer Herangehensweise liegt darin, dass hierbei die Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder aufgenommen werden, indem sie Kinder zu Subjekten von Wissenschaft macht, während in der Fachliteratur vorwiegend über die Arbeit von Kindern berichtet wird und Kinder dabei lediglich als zu beforschende Objekte betrachtet werden. Wihstutz verfolgt die Frage nach möglichen Auswirkungen der Arbeitstätigkeiten von Kindern auf ihre individuelle Handlungsfähigkeit im Sinne ihrer gesellschaftlichen Partizipation. Sie fragt zudem „nach den Mechanismen, die gesellschaftlich geleistete Arbeit zu Nicht-Arbeit werden lassen und dadurch die Betroffenen in rechtlicher und materieller Abhängigkeit halten“ (10); Arbeit wird dabei als soziologische Schlüsselkategorie in heutigen (westlichen) Gesellschaften gesehen, über die Status und gesellschaftliche Stellung, d. h. Macht und Herrschaftspositionen verteilt werden und gesellschaftliche Teilhabe erst ermöglicht wird.
Im Allgemeinen fokussieren die Diskussionen um Kinderarbeit die Einhaltung des Arbeitsschutzes und die Frage, welche Maßnahmen erfolgreich sind, Ausbeutung von arbeitenden Kindern einzudämmen bzw. ganz abzuschaffen. Die Notwendigkeit und Brisanz dieser anhaltenden Debatte zeigt sich nicht zuletzt in den bis heute andauernden Bemühungen zur Umsetzung der 1989 ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention – worauf die Autorin auch eingeht. Wihstutz ergänzt ihre Ausführungen mit einem Überblick über rechtliche Regelungen von Kinderarbeit im nationalen und internationalen Kontext. Darüber hinaus nimmt sie in den Blick, dass Kinder Arbeiten aufnehmen, die über den ausbeuterischen Charakter des klassischen ökonomischen Arbeitsbegriffes hinausgehen. In Deutschland nehmen Kinder Arbeiten nicht auf, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften, sondern vorrangig um sich materielle wie immaterielle Wünsche zu erfüllen. Hierbei reiche es aber nicht aus von der Erfüllung von Konsumwünschen zu sprechen, sondern es gehe dabei auch um Motive wie soziale Anerkennung, Unterstützung für die Familie, Kompetenzentwicklung und Autonomiebestrebungen (45).
Der Band gliedert sich in acht Kapitel und wird durch einen Anhang ergänzt, der Einblick in den Leitfaden zur Interviewführung mit Kindern zu ihren Arbeiten gewährt und mit einer Übersicht über Alter, Geschlecht, Wohnbezirk und Tätigkeit(en) der interviewten Kinder informiert. Die Verwendung einer ausgewogenen Mischung älterer und neuer Fachliteratur gibt jeder Leserin und jedem Leser die Möglichkeit, sich in frühere Kindheits- und Arbeitsdebatten einzulesen. Zugleich ermöglicht Anne Wihstutz den Blickwechsel auf neue Entwicklungen in der Kindheitsforschung.
In Kapitel 1 erläutert die Autorin ausgewählte sozioökonomische Entwicklungen, die als ursächlich für Kinderarbeit in Deutschland angenommen werden können. Der Wandel der Arbeitsgesellschaft wird als eine Ursache für Veränderungen im Geschlechterverhältnis und in den Familienbeziehungen beschrieben. Mit dem Verfall des Ein-Verdiener-Modells und den neuen Anforderungen der modernen Erwerbsarbeit steige der Bedarf an alternativen Betreuungsangeboten für Kinder, der zudem dazu führen kann, dass Eltern zunehmend auf die Unterstützung der Kinder in der Bewältigung des Alltags angewiesen sind (14). Beispielhaft wäre hier die Betreuung jüngerer Geschwisterkinder durch die älteren oder die aktive Mithilfe im Haushalt (Abwaschen, Sauberhalten der Wohnung) zu nennen.
Weiterhin ist Kinderarbeit in Armutskontexten beobachtbar, wenn Kinder beim Empfinden von Armutslagen versuchen, Bewältigungsstrategien aufzubauen, um das Erleben von Armut besser zu bewältigen. Unter anderem sei Arbeit dann für Kinder eine Strategie, finanziell einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten, indem sie versuchen, durch eigenes Einkommen die Haushaltskasse zu entlasten, um sich etwas leisten zu können, das ihnen die Eltern nicht ermöglichen können oder wollen, z. B. Markenkleidung und andere Statussymbole, Urlaubsreisen sowie die Erfüllung heimlicher Wünsche. Hinzu komme, so Wihstutz, dass für die Kinder Arbeit auch als ein Versuch zu werten sei, sich Freiheit und Unabhängigkeit zu verschaffen und damit Selbstachtung und Gestaltungskompetenz zu gewinnen.
In den Kapiteln 2 und 3 greift Wihstutz die elementaren Grundbegriffe der Themenfelder – Arbeit und Kinder / Kindheit – auf. Sie geht auf die begriffliche und inhaltliche Ausdifferenzierung des Begriffs Arbeit ein und setzt diesen ins Verhältnis zur Kindheit (Kap. 2). Mithilfe von Aussagen zum Verhältnis von Erwerbsarbeit und Hausarbeit wird man auf Überlegungen vorbereitet, dass Anerkennung als soziologischer Schlüssel dienen kann, über den Arbeit als Arbeit bzw. als Nicht-Arbeit (an-)erkannt werden kann. Hier stellt Wihstutz die Ansätze der neuen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung dar und führt erstmals die Perspektive Manfred Liebels ein, dass arbeitende Kinder als „soziale Akteure“ wahrzunehmen seien, die mit Hilfe ihrer Tätigkeit zum Erhalt und zur Weiterentwicklung des menschlichen Lebens und der Gesellschaft beitragen [1].
Die Autorin thematisiert Kinder als Aktive, als Hausarbeitende und den Beitrag der Kinder an der Haushaltsökonomie. Zudem nimmt sie die Diskussion um das Geschlechterverhältnis auf und verfolgt die These, dass Arbeit zur sozialen Konstruktion von Geschlecht beitrage, ganz im Sinne des feministischen Arbeitsdiskurses. Insbesondere Haus- und Sorgearbeiten werden in die Überlegungen mit einbezogen. Die Autorin moniert, dass aufgrund des Charakters von Hausarbeit (fehlende Standards zur Messung vollzogener Hausarbeit, zeitlich fließende Übergänge zwischen Hausarbeiten und anderen Tätigkeiten) die Arbeit von Kindern im Haushalt häufig nicht als Arbeit eingeschätzt und damit der eigentliche Beitrag von Kindern zur Familienökonomie verschleiert werde.
Das dritte Kapitel gewährt einen breiten Blick auf die Begriffe Kinder und Kindheit. Die Autorin positioniert die Studie zwischen einem lebensweltorientierten (kindheitssoziologischen) Ansatz und einem Generationenansatz: Kindheit wird als historisch und kulturell variable Einheit der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Kräfte konzeptualisiert, die auch die Gesellschaft(en) als Ganzes charakterisieren (63). Damit ermöglicht sie den Blick auf Kinder als Akteure, die kompetent einen gesellschaftlichen Gestaltungsspielraum nutzen und über ihr Handeln zu sozialen Veränderungen beitragen. Durch die Einbeziehung des Generationsverhältnisses als Einflussgröße schärft sie den Blick, dass sich Kindheit inmitten von Macht- und Interessenverhältnissen zwischen den Generationen befindet. Systematisch stellt die Autorin Widersprüche zwischen einem Akteursbegriff auf der einen und einem Abhängigkeitsverhältnis der Kinder von Erwachsenen auf der anderen Seite heraus. Es gelingt ihr eine kontrastreiche Darstellung von unterschiedlichen – innerfamiliären und gesellschaftlichen – Positionszuweisungen von Kindern.
Die theoretische und methodische Herangehensweise der Studie wird in Kapitel 4 erläutert. Um die subjektiven Sichtweisen der Kinder zu erheben, wurden als Erhebungsinstrumente die Gruppendiskussion und das leitfadengestützte Interview genutzt. Erhoben wurden die Daten in den Ost- und Westbezirken Berlins. Basierend auf der grounded theory, wurden 38 Interviews mit Kindern im Alter zwischen neun und 15 Jahren ausgewertet, mehrheitlich mit bildungsbürgerlichem Hintergrund. Die Erläuterungen zur Beachtung von Besonderheiten im Vorfeld der Erhebung zeugen von der Sensibilität der Forscherin in einem Forschungsfeld, das die Perspektive der Kinder zum Ausdruck bringen will.
Auf der Basis der Daten werden in Kapitel 5 vier zentrale Bedeutungen herausgearbeitet, die Arbeit für Kinder haben kann: den Familienzusammenhalt stärken, ein zweites Zuhause schaffen, eine Arbeit gut erfüllen und die Möglichkeit, eigenes Geld zu erwirtschaften. Es wurden Tätigkeiten von Kindern thematisiert, die einerseits zum Gelingen des Alltags in familiären Haushalten beitragen und andererseits den Neigungen und Interessenslagen der Kinder entsprechen. Die Kinder übernehmen Aufgaben, unbezahlt wie bezahlt, in denen sie Sorge für sich und / oder andere tragen.
Mithilfe von Interviewpassagen werden diese Bedeutungen gut nachvollziehbar aus dem Material gewonnen und die unterschiedlichen Motive der Kinder nachgezeichnet. Die Autorin vertieft sehr facettenreich die einzelnen Bedeutungsebenen, so beispielsweise was „eine Aufgabe gut erfüllen“ für Kinder bedeuten kann: Eine Gruppe von Kindern engagiert sich z. B. durch auf Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalt ausgerichtete Aktivitäten und fungiert ehrenamtlich als Schiedsrichter von Fußballspielen. Wihstutz weist nach, dass Haus- und Sorgearbeit zwar zu den Alltagserfahrungen der Kinder gehören, allerdings selbst von den Kindern nicht als Arbeit bezeichnet / erkannt wurden. Nachträglich wurde darum die Haus- und Sorgearbeit als eigenständige Tätigkeitsgruppe gefasst und in die Diskussion einbezogen.
Wihstutz abstrahiert in Kapitel 6 die Bedeutungsebenen der Kinderarbeit und arbeitet vier Gemeinsamkeiten heraus: (1) Autonomie, (2) wechselseitige Bezogenheit innerhalb von Gemeinschaften, (3) Verantwortung und (4) Macht. Einerseits sei die Arbeit von Kindern eine Sozialisationsinstanz, über die sie Anerkennung und soziale Teilhabe erlangen und damit Selbstverwirklichung und menschliche Freiheit erfahren könnten. Andererseits wirke diese Arbeit aber auch als Medium von Machtausübung und sozialer Exklusion, in der Kinder Fremdbestimmung, Entfremdung und Zwang erleben könnten. Sie schlussfolgert, dass Kinder mittels ihrer Arbeit den Wunsch ausdrücken zu einer Gemeinschaft zu gehören und sich dann in die Gemeinschaft einbezogen fühlen, wenn sie mit der von ihnen geleisteten Arbeit als aktiv Handelnde für die Gemeinschaft durch das Gegenüber anerkannt werden.
Abschließend diskutiert die Autorin die Ergebnisse ihrer Untersuchung (Kap. 7) und liefert in Kapitel 8 einen Ausblick auf zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen.
Ausgehend von der Annahme, dass in unseren heutigen Gesellschaften über Arbeit gesellschaftliche Teilhabe generiert wird, verfolgt die Autorin konsequent die Frage nach den Mechanismen von Machtausübung, wobei sie v. a. auf das Generations- und Geschlechterverhältnis eingeht. Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen Kinder, die arbeiten und damit aktiv an der (Re-)Produktion von Gesellschaft beteiligt sind, ihnen allerdings aufgrund ihres Status als Kind eine andere gesellschaftliche Position zugewiesen wird als Erwachsenen und ihrer Erwerbsarbeit.
Wihstutz weist aber darauf hin, dass die Zugänge der Kinder zu ihren Arbeitstätigkeiten auf der Grundlage der hierarchischen generationalen Ordnung maßgeblich durch die sozialen und ökonomischen Möglichkeiten sowie durch die normativen Orientierungen ihrer Eltern beeinflusst sind (200). Sie fordert eine neue Sicht auf Kinder und ihre Arbeit, die deren gesellschaftlicher Bedeutung gerecht werde. Am Ende bezieht sie sich explizit auf Axel Honneths Theorie der Anerkennung, was bedauerlicherweise zu spät erfolgt, um noch auf die Relevanz dieses Theorems für die Studie eingehen zu können.
Aus ihren Forschungsergebnissen leitet Wihstutz ab, dass arbeitende Kinder die Rolle sozialer Akteure einnehmen, die nicht (nur) ichbezogen, sondern als aktive Mitgestalter mit sozialer Verantwortung agieren. Sie untersucht damit nicht nur die ökonomische Relevanz der Arbeit von Kindern, sondern fokussiert zudem die gesellschaftliche Einbettung und Partizipation von Kindern. Mit diesem Blick plädiert sie für einen erweiterten Arbeitsbegriff und fordert die gebührende Anerkennung des durch Kinderarbeit geschaffenen Mehrwertes. Damit richtet sich das Buch vorrangig an all diejenigen, die sich mit der gesellschaftlichen Situation arbeitender Kinder (vor allem wissenschaftlich) befassen und an diejenigen, die sich für die Stärkung der Rechte von Kindern einsetzen (wollen).
Das Anliegen der Autorin begeistert bei der Lektüre und motiviert in eine Diskussion über Partizipation einzutreten, denn „über die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung für die Gemeinschaft müssten Kinder Ansprüche ableiten können, mehr bzw. gleichberechtigt an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt zu werden und Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu erhalten“ (210).
[1] Liebel, Manfred (2001): Kindheit und Arbeit. Wege zum besseren Verständnis arbeitender Kinder in verschiedenen Kulturen und Kontinenten. Frankfurt am Main und London: IKO Verlag
EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)
Verantwortung und Anerkennung
Qualitative Studie zur Bedeutung von Arbeit für Kinder
Berlin: Lit Verlag 2009
(240 S.; ISBN 978-3-6431-0129-7; 24,90 EUR)
Bianca Thiel (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bianca Thiel: Rezension von: Wihstutz, Anne: Verantwortung und Anerkennung, Qualitative Studie zur Bedeutung von Arbeit für Kinder. Berlin: Lit Verlag 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364310129.html
Bianca Thiel: Rezension von: Wihstutz, Anne: Verantwortung und Anerkennung, Qualitative Studie zur Bedeutung von Arbeit für Kinder. Berlin: Lit Verlag 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364310129.html