Die Berliner „Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung (BBF)“ bietet mit etwa 770.000 Medieneinheiten als wohl größte bildungsgeschichtliche Bibliothek in Deutschland nicht nur zahlreiche attraktive Möglichkeiten – ausdrücklich auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs – zur Unterstützung bildungshistorischer Forschungen, sondern betreibt als eine von fünf Abteilungen des in Frankfurt am Main und in Berlin angesiedelten „DIPF I Leibniz Institut(s) für Bildungsforschung und Bildungsinformation“ mit ihrem wissenschaftlichen und bibliothekarischen Personal auch selbst intensiv eigene historische Forschung und fördert zudem – jüngst zunehmend – die Entwicklung von Forschungsinfrastrukturen. Geißlers im Forschungsfeld „Pädagogisches Wissen – Institutionen, Praktiken und Akteure“ der BBF angesiedelte „Schulgeschichte in Deutschland“ ist aus seinen langjährigen Arbeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter der BBF und zugleich Professor an der Abteilung für Historische Erziehungswissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin hervorgegangen. Weitere Projekte des Forschungsfeldes der BBF widmen sich wissenschaftsgeschichtlich der „Problemgeschichte von Bildungsungleichheit“ oder auch der „Pädagogische(n) Beobachtung – zur historischen Etablierung einer Reflexionskategorie pädagogischer Praxis“.
Geißler, dessen akademische Karriere noch in die Schlussphase der DDR fiel, darf als einer der besten Kenner:innen der Schulgeschichte der DDR gelten, ausgewiesen v.a. durch Standardwerke über Schule und Erziehung in der SBZ und DDR. Mit der vorliegenden Darstellung geht er weit über den zeitgeschichtlichen Horizont der Nachkriegszeit hinaus und wendet sich der Schulgeschichte von ihren Anfängen im Mittelalter (13 – 48) bis zu den „Bildungsverhältnissen im 21. Jahrhundert“ (1242 - 1289) zu. Nachdem die erste, 2011 erschienene einbändige Auflage bereits 2014 aktualisiert und leicht erweitert worden war, liegt nach fast zehnjähriger Projektlaufzeit eine durch fortlaufende Einarbeitung neuerer Literatur erneut aktualisierte und um das knapp siebzigseitige Schlusskapitel zu den „Herausforderungen und Entwicklungen im vereinten Deutschland“ (1221-1289) erweiterte, nunmehr zweibändige dritte Auflage im Umfang von 1.500 Seiten vor.
Bereits ein erster Blick in die beiden voluminösen Bände zeugt durch die beeindruckende Fülle verarbeiteter Quellen von den Forschungspotenzialen der Bestände der BBF, in diesem Fall besonders zur deutschen Schulgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ohne ihren enormen Reichtum an regionalen, lokalen und einzelschulischen zeitgenössischen Darstellungen sowie einer Vielzahl historischer Periodika und ohne die Bereitschaft zu stupender Quellenarbeit wäre die „Schulgeschichte in Deutschland“ in der vorliegenden Breite wie auch in ihrer immer wieder erhellenden Detailliertheit nicht möglich gewesen.
Der erste bis 1939 reichende Teilband setzt ein mit der „Ablösung der spätantiken Kulturwelt und Schule im Mittelalter“ (13 - 48) und den seit dem 16. und 17. Jahrhundert in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten gegründeten ersten Schulen, schon hier fokussiert auf die „Stadt als Bildungszentrum“ (72 - 80) und fortan treibende Kraft der Schulentwicklung. „Brüche in der Ständeordnung“ (81 - 124) markieren sodann den politischen und gesellschaftlichen Umbruch des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit seinen starken Reformimpulsen für das höhere wie auch für das mehr und mehr an Bedeutung gewinnende niedere Schulwesen, gefolgt von einer langen Periode des konservativen staatsgetriebenen Schulausbaus bis zur Reichsgründung 1871.
Erst hier, auch damit konform mit dem schulhistorischen Forschungsstand, kommt es zu der finalen, historisch weit in das 20. Jahrhundert ausstrahlenden „Institutionellen Ordnung“ (262 - 344) des gegliederten deutschen Schulwesens, die nun alle Elemente des Systems umfasst und in Beziehung zueinander setzt, von den „‘Hilfsschulen‘“ (298 - 302) über die sich ausdifferenzierenden niederen und mittleren Schulen bis hin zur hochkomplizierten, schichtspezifisch kanalisierenden Binnenstruktur des höheren („Knaben“-)Schulwesens (315 - 332) mit den prestigereichen altsprachlichen Gymnasien für das Bildungsbürgertum an seiner Spitze. Dass die Nutzung des um die Jahrhundertwende komplettierten „sozialen Klassenschulsystems“ [1] durch die „Lebenslagen“ beispielsweise der Arbeiterjugend am anderen Ende der sozialen Hierarchie systematisch begrenzt und die „Bildungsbeteiligung“ (369 - 419) entsprechend elitär profiliert war, verweist auf die selektiven und dadurch sozial reproduktiven Funktionen des im internationalen Vergleich in Deutschland bereits um 1900 weit ausgebauten Schul- und vor allem auch Hochschulsystems. Zeigten sich schon in der Schulpolitik im Kaiserreich etwa mit der Reform des Mädchenschulwesens in Preußen (393 - 407) und der Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium zögerliche Modernisierungstendenzen, kamen in der Weimarer Republik schulpolitische Reformprogramme der Sozialdemokratie und der Lehrerschaft aus der Vorkriegszeit auf breiter Front zur Geltung.
Angesichts aber der noch vor dem Ersten Weltkrieg fest etablierten und hernach ohne Einbuße ihrer sozial höchst selektiven Funktionen flexibel an politische Systemwechsel anpassbaren Strukturen des „höheren Schulwesens“ ist es wenig verwunderlich, dass sich die „Einheitsschule“ nicht durchzusetzen vermochte und Geißler insoweit neben den „Reformen“ (u.a. Mitbestimmungsrechte in der Schule [548-564]) auch die institutionellen „Kontinuitäten in der Weimarer Republik“ (459 - 640) hervorhebt, bevor der historische Bruch der „Schule unter nationalsozialistischer Herrschaft“ (641 - 749) den ersten Teilband abschließt. Hier geht es dann nicht nur generell um die „Schulerziehung“ im NS, sondern ebenso um Sonderformen wie die „NS-Internatsschule“ (725 -729) und um Folgen für das jüdische Schulwesen (740 - 749).
Beginnend mit der Lage der „Schule im Krieg“ (751 - 810) wird im zweiten Teilband die Schulgeschichte bis in die unmittelbare Gegenwart der Schulschließungen während der Pandemie (1285f.) abgehandelt. Die Schwerpunkte liegen zunächst auf der schrittweisen und durch interessante Umwege und Differenzen geprägten Reorganisation des Schulwesens in den Westzonen bzw. der Sowjetischen Zone bis 1949 (811 - 918) und auf der Konsolidierungsphase in beiden deutschen Staaten in den 1950er Jahren (919 - 1058). Bundesrepublik und DDR folgten dann seit den 1960er Jahren im Rahmen ihrer je spezifischen Entwicklungspfade Modernisierungsstrategien, die in beiden Systemen bald an Grenzen stießen und in der Bundesrepublik bekanntlich nicht den flächendeckenden Durchbruch eines horizontal gestuften (Gesamtschul-)Systems erreichten (1054 - 1220). In der DDR habe die „Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS)“ mit einer Abschlussquote von 85% des Einschulungsjahrgangs schlussendlich „trotz ihrer Schwächen in der Individualisierung des Unterrichts und unausgeschöpfter Möglichkeiten pädagogischer Förderung ihre Leistungsfähigkeit in den Bereichen formaler Bildung“ (1214) gezeigt, ohne jedoch die beabsichtigten politisch-ideologischen Effekte als allgemeine Akzeptanz des Gesellschaftsmodells der DDR in den nachwachsenden Generationen zu erreichen. Geht das abschließende neue Kapitel zu den „Herausforderungen und Entwicklungen im vereinten Deutschland“ zunächst detailliert auf die Transformationsprozesse nach der „Wendezeit“ ein (Unterschiede zwischen den neuen Ländern, Personal, „Befindlichkeiten“ 1235f.) und umreißt unter Stichworten wie „systemische und institutionelle Deregulierung“ (1253 - 1255) aktuelle Tendenzen der Schulentwicklung, geben für Geißler die ernüchternden Befunde der Schulleistungsvergleiche nach 2000 „bei ruhiger Betrachtung keinen Anlass für ökonomische und kulturelle Untergangsphantasien. Nicht unbedingt ist die Schule eng mit der ökonomischen Leistungsfähigkeit von Staaten, Nationen oder Gesellschaften verbunden, eher schon mit Kultur- und Gedankenwelten.“ (1288) Dem würden Bildungsökonomen, die zuletzt die Effekte von Schulschließungen in der Pandemie für individuelle Einkommen und die Volkswirtschaft als Ganze wiederholt dramatisiert haben, unterstützt von der empirischen Bildungsforschung, sicher vehement widersprechen.
Das an „alle, denen Geschichtsbewusstsein eine Dimension ihrer Existenz ist“, adressierte Werk versteht sich als „Überblicksdarstellung“ (7f.), die diesem Anspruch in ihrem klaren äußeren Aufbau und der sprachlich auch bei komplexen Sachverhalten stets gut nachvollziehbaren (und mit hunderten historischen Fotos dicht illustrierten) Darstellung voll gerecht wird. 130 Seiten Literaturverzeichnis bieten vielfältige Möglichkeiten der Vertiefung in die reiche Sekundärliteratur zur modernen Schulgeschichte, Orts- und Sachregister erleichtern ebenso wie die zahlreichen Marginalien am Seitenrand die Orientierung. So eignet sich Geißlers Schulgeschichte ganz hervorragend als Einführungs- bzw. Begleitlektüre für bildungsgeschichtliche Lehrveranstaltungen und kann problemlos auch nur kapitelweise genutzt werden.
Die „Schulgeschichte in Deutschland“ unterscheidet sich von ihren prominenten sozialgeschichtlichen Vorgängern durch den ausdrücklichen Fokus auf „Einzelschulen (…) in der Vielfalt ihrer Verhältnisse“ (7). Demgegenüber stehen in der mehrfach aufgelegten „Deutschen Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart“ von Hans-Georg Herrlitz et al. [2] ebenso wie in der „Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick“ von Peter Lundgreen [3] die Schulsystemgeschichte im Sinne der historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Sektoren des Schulwesens (Volksschulen, mittlere, höhere Schulen, Mädchenschulen etc.) und langfristige Entwicklungstrends im Vordergrund.
Zeigt Geißler, befördert durch das umfangreiche und stets präzise kommentierte Bildmaterial, die konkrete Einbettung der Schule in und damit zwangsläufig zugleich ihre Abhängigkeit von den sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen der jeweiligen Zeit, werden perspektivenbedingt vorrangig die Sozialisations- und Qualifikationsfunktion der Schule und ihre sozio-kulturellen Milieus illustriert.
In Form ihres in Deutschland auf bestimmte Weise gegliederten Gefüges ist die Schule aber weit mehr als eine Instanz unmittelbarer Sozialisation und Qualifikation in je konkreten Einzelschulen. Historisch zeichnet sich das deutsche Schulsystem dadurch aus, dass vom 19. Jahrhundert an schulische Qualifikationen durch Schulabschlüsse und -zertifikate mit staatlich normierten Berechtigungen eng verzahnt worden sind, die exklusiv zum Zugang zu mittleren und höheren Berufspositionen im öffentlichen Dienst, später auch der Privatwirtschaft, bzw. zum Universitätsstudium berechtigten. Über Sozialisationsprozesse hinaus war und ist die Schule vor allem durch ihre Position im Schulsystem insoweit ein Ort, der Berufsposition, Einkommen und Lebensqualität über die gesamte Erwerbsspanne hinweg nachhaltig beeinflusst. Aus den damit angesprochenen allokativen Funktionen der Schule heraus erklärt sich zu großen Teilen die von ihrer allgemeinen Abhängigkeit von Geschichte und Gesellschaft relativ unabhängige „Eigendynamik“ des Bildungssystems und die daraus erwachsende Bildungsexpansion seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, wie sie sich in kontinuierlich steigenden Bildungsaspirationen bzw. Übergängen in attraktive, formal höher qualifizierende Bildungsgänge darstellt.
Anders als bei einer allgemeinen Einbettung der Schule in ihre Zeit und ihre jeweiligen Milieus wird auf diese Weise eine aus dem Schulsystem selbst heraus erwachsende Dynamik ersichtlich, die der historischen Determiniertheit der Schule, immer wieder auch bildungspolitischen Strategien der Bildungsbegrenzung, entgegensteht. Geißler, der die sozialgeschichtliche Literatur natürlich kennt, blendet Expansion und Eigendynamik des Schulsystems als zentrale historische Treiber der Schulentwicklung zwar nicht vollständig aus, bleibt aber durch den Einzelschulfokus systematisch hinter der sozialgeschichtlichen Forschung und deren trendbezogenen Thesen der säkularen „Verschulung“ von (auch beruflichen) Qualifikationsprozessen [4], der langfristigen Zyklen der Bildungsbeteiligung [5] sowie jüngst beispielsweise zu den historischen Wechselwirkungen zwischen Demographie und Schulentwicklung [6] zurück. So treten hinter der großen Nähe der zahllosen präsentierten Quellen und Illustrationen historische Trends und damit Anschlüsse bildungshistorischer Forschung an Gegenwartsprobleme des Bildungssystems und die auf sie bezogene Bildungsforschung in den Hintergrund.
[1] Müller, D.K. (1977). Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert (S. 287–297). Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Herrlitz, H.-G., Hopf, W., Hartmut Titze, H., Cloer, E. (2008). Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung (5.überarbeitete Aufl.) Juventa.
[3] Lundgreen, P. (1980/1981). Sozialgeschichte der deutschen Schule im Ãœberblick. 2 Bde. Teil I: 1770-1918. Teil II: 1918-1980. Vandenhoeck & Ruprecht.
[4] Lundgreen, P. (2000). Schule im 20. Jahrhundert. Institutionelle Differenzierung und expansive Bildungsbeteiligung. In: Benner, D., Tenorth, H.-E. (Hrsg.). Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. (Zeitschrift für Pädagogik, 42. Beiheft.) (S. 140–165). Juventa.
[5] Titze, H. (1990). Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren. Vandenhoeck & Ruprecht.
[6] Zymek, B. (2022). Demografie, Schulentwicklung, Schulreform. Was wir dazu aus der deutschen Bildungsgeschichte wissen können. Die Deutsche Schule 114, S. 135–148.
EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)
Sammelrezension
Schulgeschichte in Deutschland
3., erneut aktualisierte und erweiterte Auflage
Teilband I: Von den Anfängen bis 1939
Teilband I: Von den Anfängen bis 1939
Lausanne: Peter Lang Group 2023
(754 S.; ISBN 978-3-631-90156-4; 59,95 EUR)
Schulgeschichte in Deutschland
Teilband II: Von 1939 bis 2021
Lausanne: Peter Lang Group 2023
(746 S.; ISBN 978-3-631-90157-1; 59,95 EUR)
Peter Drewek (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Drewek: Rezension von: Geißler, Gert: Schulgeschichte in Deutschland, 3., erneut aktualisierte und erweiterte Auflage Teilband I: Von den Anfängen bis 1939. Lausanne: Peter Lang Group 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363190156.html
Peter Drewek: Rezension von: Geißler, Gert: Schulgeschichte in Deutschland, 3., erneut aktualisierte und erweiterte Auflage Teilband I: Von den Anfängen bis 1939. Lausanne: Peter Lang Group 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363190156.html