Auf den ersten Blick lässt die Untersuchung von Thomas Mikhail nichts Neues vermuten. Die wissenschaftstheoretische Untersuchung und der disziplingeschichtliche Klärungsbedarf über den Zusammenhang von Bildung und Religion reihen sich in eine lange Tradition pädagogischen Denkens ein. Die religiöse Grundstruktur pädagogischen Handelns – so der Untertitel der zu besprechenden Arbeit – wurde und wird, obgleich dies in Zeiten von Säkularisierung und Wertepluralismus stets fragwürdiger zu werden scheint, auch im Zusammenhang mit spezielleren Fragen wie der der religiösen Erziehung oder einem Versuch von Religionspädagogik oft thematisiert. In all den Unternehmungen wird die prinzipielle Verbundenheit von Bildung und Religion herausgestellt.
Auf einen zweiten Blick geht genau an dieser Stelle Mikhails Untersuchung über solche Anwendungsfragen hinaus. Von der Absicht getragen, die allem pädagogischen Handeln zugrunde liegende religiöse Grundstruktur nachzuweisen – dies zeigt er v.a. im historisch-systematischen Teil seiner Arbeit mit Hilfe der „vergessenen“ (109) Neukantianer Paul Natorp, Richard Hönigswald und Alfred Petzelt auf (Kap. 2) – versucht er, Bildung und Religion nicht nur als „dependente Prozesse“ (Kap. 1; vgl. 106), sondern auch als „identische Prozesse“ (214) vorzustellen (Kap. 3).
Ausgehend davon, dass Pädagogik als theoretische Disziplin und Bildung als praktisches Handlungsfeld ihren Sinn und Zweck nicht in sich selbst tragen und ihnen somit keine aus sich selbst heraus legitimierbare Autonomie zukommen kann, versucht er die Gebundenheit des Pädagogischen an das Religiöse (hier nicht in einem konfessionellen Sinn gemeint) anhand einer begriffsanalytischen Gegenüberstellung zu zeigen. Methodisch tut er dies in gut transzendentalkritischer Manier, indem er nach den „Denkvoraussetzungen“ pädagogischer Praxis und deren „Rechtfertigung“ fragt (13ff).
Mit dem problemgeschichtlichen Rückgriff auf Natorp, Hönigswald und Petzelt und deren kritischer Interpretation des Zusammenhangs von Religion und Pädagogik legt der Autor (exemplarisch) das interdependente Verhältnis und dessen Sinnperspektive dar. Bei Natorp könne jene im Verhältnis von Ich und Gemeinschaft (112ff) gesehen werden, bei Hönigswald schwinge der „Aspekt der unbedingten Letztheit, d.h. als letztdefiniertes Moment der Erkenntnis überhaupt“ (169) als Voraussetzung mit, und bei Petzelt findet Mikhail die im Gewissen liegende Bedingung für Bildung (212). Das Denknotwendige von Ich-Du, Glaube und Gewissen führen Mikhail zur Parallelisierung von Bildsamkeit, Unterricht und Erziehung im Sinne von Religiosität („intrapersonales Verhältnis“), Glaube („Fürgewisshalten“, i.S. von „Fürwahrhalten“) und Gewissensbindung („Fürgewisshalten“, i.S. von „Fürguthalten“) (215).
Die begrifflich-theoretische Analogisierung von „Bildung“ und „Religion“, im derem Rahmen die denknotwendige Bindung an das Religiöse gesehen wird, ergibt sich – aus der Perspektive Mikhails betrachtet – aus der begrifflich-praktischen Identität von „Bildsamkeit“ und „Religiosität“, von „Unterricht“ und „Glaube“ sowie von „Erziehung“ und „Gewissensbindung“. Hier erhält der Titel der Arbeit „Bilden und Binden“ seine eigentliche Bedeutungszuschreibung.
Indem Mikhail sowohl Bildung als auch Religion nicht als unhinterfragbar anzuerkennende und ideologisch zu übernehmende geschlossene Ordnungen sieht, sondern diese als Prozesse begreift, die von den jeweiligen Subjekten selbst zu vollziehen sind, gelangt er auf der Ebene von Bildsamkeit und Religiosität zu einem aktiv zu vollziehenden inter- und intrasubjektiven Verhältnis zwischen Ich und Du bzw. zwischen Ich und Ich [1]. Die darin implizierte Selbsttätigkeit des sich bildenden Subjekts spiegelt sich – der Analogisierung Mikhails weiter folgend – hier in „Unterricht“ und die Sinnstiftung des sich religiös-konfrontierenden Subjekts dort in „Glaube“. Sowohl Unterricht als auch Glaube fußen nicht auf passiver Wissensabfüllung und blinder Gefolgschaft, sondern auf einem aktiven „Fürwahrhalten“ und einem aus der eigenen Vernunft resultierenden „Fürgewisshalten“ (215).
Erziehung hat es somit – nach Mikhail – notwendig mit einer „Führung zum Begründenkönnen des eigenen Werturteils“ (109) und dem darin implizierten „Wertenlernen“ zu tun. Gewissensbildung auf der Seite der Religion steht mit der Überprüfung des eigenen Handelns gemäß seiner Gültigkeit im engen Zusammenhang. Diese Identifizierung von Religion und Bildung sowie die vorausgehende Untersuchung anhand Natorp, Hönigswald und Petzelt, welche die Verhältnisbestimmung der Religion in pädagogischen Konzeptionen nachweisen konnten, macht die der Arbeit von Beginn an zugrundeliegende normative
(Er-)Kenntnis stark deutlich: Die religiösen Implikationen sind für Pädagogik und Bildung nicht nur von Gewicht, sondern für einen Begriff von Pädagogik begründend und sinngebend: „Religion sichert der Bildung ihren Anspruch auf Gültigkeit, auf unbedingte Sinnhaftigkeit“ (217).
Diese prinzipiell „bildende“ und „bindende“ Sinnhaftigkeit der religiösen Grundstruktur pädagogischen Handelns ergibt sich nach Auffassung des Autors nicht daraus, dass sich – etwa wie oben angedeutet – dieses Verhältnis durch einen Rückblick auf die Disziplingeschichte zeigen ließe, sondern „weil sie gilt“: „Bei allen je und je anstehenden Herausforderungen und Zweckmäßigkeiten in pädagogischen Handlungsfeldern sollte die überzeitliche religiöse Grundlage der Bildung nicht missachtet werden, wenn pädagogisches Handeln zukünftig seinen Sinn behalten soll“ (271).
Dieser Ausspruch steht – und eine solche kritische Sensibilität ist bei der Thematik Bildung und Religion stets geboten – immer in der Gefahr einer ideologisch-normativen Verengung [2]. Kann Bildung ihren „Sinn“ und letztendlich ihre Legitimierung einzig und allein aus der Perspektive von Religion gewinnen? Gerade die von Mikhail entfalteten (Bildungs-)Prinzipien wie „Liebe“, „Wahrheit“ und „Gutheit“ könnten zeigen – doch dies würde freilich eine weitere Arbeit erfordern –, dass hinter dem hier beanspruchten objektiv-transzendentalen Gültigkeitsanspruch der subjektiv-konkrete Träger von Bildung und Religion als Voraussetzung und Legitimierung von Unterricht und Erziehung einerseits sowie Glaube und Gewissensbildung andererseits noch stärker in den Blick zu nehmen und die Begründung eines jeden Bildungs- und Bindungsverhältnisses auf den Begründenden (also auf den Fürwahrhaltenden, Fürguthaltenden und Fürgewisshaltenden, 215) zurückzubeziehen wäre.
Das Buch kann sich also – entgegen dem alltäglichen Verständnis von „Glauben“ als unhinterfragtem Hinnehmen und dogmatischem Akzeptieren – nur jene Leser wünschen, die vom „Richterstuhl“ (Kant) ihrer eigenen Vernunft und ihrem kritischen Urteilen den Zusammenhang von „Bilden und Binden“ und mit ihm das Verhältnis von Pädagogik und Religion hinterfragen wollen. Sowohl Mikhails systematisch-tranzdentalphilosophische Vorgehensweise, die weit mehr ist als bloße Methodik zur Erlangung eines Ziels, sondern bereits der Weg zu einem möglichen (Erkenntnis-)
Ziel ist, als auch das heikle – weil ideologisch beladene – (hier: pädagogische) Thema der Religiosität, des Glaubens und der Gewissensbindung, sind allein Grund genug, dem kritischen Leser eine nacherzählende Wiedergabe des Inhalts zu ersparen. Geht es Mikhail zwar darum, eine (scil. mögliche) „Sinnperspektive“ pädagogischen Handelns zu analysieren und diese auch a priori zu bekunden, so kann letztendlich der Sinn pädagogischer Praxis nur reflexiv selbst erkannt und nicht von außen aufgezwungen werden. Sinnfindung schließt das eigene Konfrontieren mit einem möglichen Finden nicht aus, sondern sinn-notwendig ein. Das Finden wiederum ist abhängig vom Suchenden selbst; dieser kann – sowohl zum Suchen als auch zum Finden – nur begleitet oder angeregt werden. Mit anderen Worten: die Grundstruktur pädagogischen Handelns erschließt sich nur aufgrund eigenen Nachdenkens und Abwägens.
Ein Verdienst von Mikhail liegt sicher darin, den pädagogischen Blick (wieder) auf eine Begründungsebene gelenkt zu haben, die heute gegenüber Gesellschaft und Ökonomie stark zurückgetreten ist. Ein zweites Verdienst kann darin gesehen werden, dass Mikhail die Frage erneut aufgeworfen hat, ob sich Pädagogik und Bildung aus ihren eigenen Prinzipien heraus – also iuxta propria principia – begründen lassen oder ob sie dafür einer religiösen Sinnstiftung bedürfen.
[1] Vgl. Thomas Mikhail (Hrsg.): Ich und Du. Der vergessene Dialog. Frankfurt a.M. 2008
[2] Giuseppe Catalfamo: Ideologie und Erziehung. dt. WĂĽrzburg 1984
EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)
Bilden und Binden
Zur religiösen Grundstruktur pädagogischen Handelns
Frankfurt am Main: Lang 2009
(287 S.; ISBN 978-3-631-59763-7; 44,80 EUR)
Sabine Seichter (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Seichter: Rezension von: Mikhail, Thomas: Bilden und Binden, Zur religiösen Grundstruktur pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main: Lang 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363159763.html
Sabine Seichter: Rezension von: Mikhail, Thomas: Bilden und Binden, Zur religiösen Grundstruktur pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main: Lang 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363159763.html