Das Handbuch ist eine weitere von vielen seit Jahrzehnten für einzelne Wissenschaftsbereiche von der (christlich und „humanitär-gesellschaftlich“ orientierten, XI) Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften initiierte Publikation. Es ist angelegt auf drei Gesamtbände mit sechs Teilbänden: I: Grundlagen; Allgemeine Erziehungswissenschaft, 1118 Seiten; II: Schule; Erwachsenenbildung / Weiterbildung, 1283 Seiten; III: Familie, Kindheit, Jugend, Gender; Sozial- und Medienpädagogik, Interkulturelle und Vergleichende Erziehungswissenschaft; Umweltpädagogik, 1208 Seiten. Die Herausgeber gehören der Bildungs- und Erziehungsphilosophie an und gestalten federführend sowohl die entsprechende Kommission der Görres-Gesellschaft als auch die „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik“.
(1) Generelle Absicht: Ebenso wie das 2009 von Andresen / Casale et al. herausgegebene „Handwörterbuch der Erziehungswissenschaft“ [1] ist das Handbuch eine Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft seit den 1970er Jahren in eine Vielzahl von Teildisziplinen, Fachrichtungen etc. mit der Folge, dass sich das Themenspektrum der Erziehungswissenschaft erweitert hat und das jeweilige Forschungswissen stark umstrukturiert worden ist (XI f). Dabei setzen die Herausgeber an der (bekannten) Frage an, ob angesichts dessen „die Einheit des Pädagogischen noch zu wahren sei“ (XII). Ihre Antwort ist nicht, einen einheitsstiftenden Gesamtentwurf vorzulegen; statt dessen wird (unter Ausblendung von „Modeerscheinungen“) ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Erziehungswissenschaft gegeben, der explizit die Pluralität, die Breite, die Komplexität und das Korrespondenzgefüge spiegelt, das die Erziehungswissenschaft ausmacht (XII). Insofern scheint es konsequent, den ersten Band den „Grundlagen“ der Disziplin und die beiden anderen Bände (s.o.) zentralen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen vorzubehalten.
(2) Konzeption: Dem Handbuch als Ganzem und jedem Teilband liegen fünf Prämissen zugrunde: Der Gegenstand der Erziehungswissenschaft (a) reicht angesichts der Entgrenzung des Lebenslaufs von der frühesten Kindheit bis zum hohen Alter mit je spezifischen und spezifisch zu begleitenden Bildungs- und Lernprozessen. – Die „praxisbezogene Disziplin“ (XIII) Erziehungswissenschaft (b) stellt ihr Wissen bzw. ihre bildungs- und erziehungstheoretischen Reflexionen in den Dienst der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen und grenzt sich von jeder Instrumentalisierung ab. – Die Erziehungswissenschaft steht (c) interdisziplinär in Korrelation zu Philosophie und den „Human- und Sozialwissenschaften“ (XIII). – Angesichts ihrer Ausdifferenzierung hat die Erziehungswissenschaft (d) intradisziplinär die Kommunikation zwischen „Grundlagendiskurs und Spezialdisziplinen“ (XIII) zu organisieren. – Schließlich (e) soll jede Theorie in ihrem „Modellcharakter“ und der von ihr eingenommenen Perspektive erkennbar gemacht werden; das Herausgeberteam nennt das eine einer möglichen ideologischen Verengung vorbeugende „Offenheit für Pluralität und diverstheoretische Positionen“ (XIII).
In diesem Sinn verpflichtet das Herausgeberteam das Handbuch vor der Folie von Pluralität und Ausdifferenzierung auf „einen diverstheoretischen angelegten, weiten Theorierahmen [...], innerhalb dessen unverzichtbare Systemteile wissenschaftlich reflektierter Handlungsfelder eine flexible Zuordnung finden“ (XIII). Auch wenn diese als Zusammenfassung gemeinte Partie der skizzierten Konzeption nur halb gerecht wird, ist beabsichtigt, mit dem Buch disziplinverbindend zu sein, wenn es ihm gelingt, „von pädagogischen Grundfragen“ die „pädagogischen Teilbereiche“ mit „relevanten Problemstellungen, Standpunkten und Tendenzen in integrativer Sicht auf Lösungsansätze und zukunftsweisende Perspektiven hin zu befragen“ (XIII). Mit diesem Gedanken wird klarer, dass das Handbuch die verlorene „Einheit des Pädagogischen“ (XII) nicht wiederherstellen kann/will, aber der Auffassung ist, die entstandene Lücke mit einem Übersichtswerk für eine praxisbezogene Disziplin angemessen ersetzen zu können.
(3) Zur Konzeption von Band I: Die von Mertens verfasste Einführung (XVf) bietet weitestgehend, nur in andere Worte gekleidet, dieselbe Absicht, die auch dem Gesamtwerk zugrunde liegt: Die mit der verlorenen Einheit des Pädagogischen entstandene Lücke kann mit einem strukturierten „Grundlagendiskurs“ (XV), der von vornherein „differenztheoretisch“ (ebd.) angelegt ist, überbrückt werden und soll „in produktiver gegenseitiger Ergänzung die unterschiedlichen Akzentuierungen [...] stets mit Blick auf das Allgemeine des Pädagogischen“ (ebd.) herausstellen. Es wird also beabsichtigt, einen teildisziplinär übergreifenden Grundlagendiskurs in Gang zu bringen. Die von Mertens erhoffte „Einheit des Faches“ lässt sich damit – kritisch gesagt – nicht wieder herstellen, aber an die Leerstelle tritt ein Diskurs über die Einheit.
Um zu verhindern, dass die Konzeption nicht sammelsurisch zu einem „pädagogischen ‚Supermarkt’“ (ebd.) umschlägt, hat sich das Herausgeberteam für eine fünfteilige Gliederung entschieden, die als „Aufgliederungsschema“ (XVI) auch graphisch dargestellt ist. Teil I „Metatheorie“ ist wissenschaftstheoretisch ausgerichtet: Anstatt Theorie- und Forschungsansätze lang und breit nacheinander vorzustellen, wird im Sinne der multiperspektivischen und differenztheoretischen Intention systematisch vorgegangen: Die Theorieansätze werden nach „Orientierungen“ (empirisch, philosophisch, praktisch und diversitär, Kap. 2-5) behandelt, danach werden Forschungstypen kombinatorisch behandelt (Kap. 6) und schließlich die zentralen Forschungsmethoden vorgestellt (Kap. 7). Nach dieser zentralen Grundlegung folgen vier Teile, die in strukturierter Form den Grundlagendiskurs abbilden, nämlich die „Gegenstandsbestimmung der Disziplin“ (Teil II), die „Voraussetzungen“ (Teil III), die „Zweck- und Zieldimension“ (Teil IV) und „die Formen pädagogischen Handelns“ (Teil V).
Jeder Teil ist in sich – wie der metatheoretische Teil – mehrfach untergliedert: Die „Gegenstandsbestimmung“ (Teil II) stellt die „gesellschaftliche Verankerung“ von „Erziehungs- und Bildungsprozessen“ vor, indem in einem ersten Abschnitt zentrale Begriffe (Erziehung; Bildung; Sozialisation; Lernen) und in einem zweiten Abschnitt die Relation zwischen sozialer Wirklichkeit und Grundverhältnissen (pädagogischer Bezug; Gruppenpädagogik; Institutionen und Organisationen; Gesellschaft) behandelt werden. – In Teil III geht es um anthropologische Voraussetzungen des Gegenstandsbereichs: Es werden (in sich weiter ausdifferenziert) grundsätzliche Natur- sowie kulturanthropologische Perspektiven skizziert. – Teil IV bietet (wiederum unterdifferenziert) fünf Zieldimensionen (theoretisch; ethisch-politisch; ästhetisch; religiös; technisch-ökonomisch). – Teil V schließlich stellt im ersten Abschnitt Grundlagen der Formen pädagogischen Handelns vor (Erziehen in Geschichte und Gegenwart; berufliches Erziehen; erzieherische Groß- sowie Fehlformen); der zweite Abschnitt informiert topisch über sinnlich-leibnahe, semiotische, personale und vermittelnde Formen pädagogischen Handelns.
(4) Gesamtcharakterisierung: Im vorliegenden ersten Band wird die Allgemeine Erziehungswissenschaft vorgestellt. Die Verfasser sind in der Mehrheit der bildungsphilosophischen Linie der Allgemeinen Erziehungswissenschaft zuzurechnen (z.B. Benner, Böhm, Frost, Koch, Ladenthin, Mertens, Meyer-Drawe, Prange, Ruhloff). Demgegenüber kommt die sozialwissenschaftliche Linie, die z.B. das fast zeitgleich erschienene „Handwörterbuch Erziehungswissenschaft“ (hrsg. u.a. v. Andresen, Casale, Oelkers) dominiert, etwas zu kurz. Diese Differenz wird u.a. deutlich im Beitrag von Böhm „Erziehung zur Theorie“, der in dem „Handwörterbuch“ unter dem Lemma „Theorie“ keinen Eingang gefunden hätte; die Differenz wird auch deutlich im Beitrag zur „pädagogisch-anthropologischen Relevanz der Neurowissenschaften“ (499 ff), der hinsichtlich der Leitfrage primär normativ-problematisierende Überlegungen statt sozialwissenschaftlich gestützte Forschung bietet; und schließlich wird die Differenz auch ersichtlich in zwei Beiträgen, die sich explizit grundsätzlich mit der bildungsökonomischen Dimension auseinandersetzen (909 ff; 919 ff) und klar Position beziehen.
(5) Einwände: Der erste Einwand betrifft drei formale Elemente: Zum ersten fehlt ein Register (auch ein Autorenverzeichnis), zum zweiten ist die terminologische Feinabstimmung zwischen Mertens’ Einführung und dem Inhaltsverzeichnis verlorengegangen, abgesehen davon, dass nicht deutlich wird, ob der Band nun „Grundlagendiskurs ‚Allgemeine Erziehungswissenschaft’“ heißt (XV) oder „Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft“ (Titel); zum dritten sind die neun Einführungen innerhalb der jeweiligen Teile in erster Linie aufzählend, aber fast nie sacherschließend.
Der zweite Einwand betrifft den komplexen, über mehrere Ebenen sich erstreckenden Aufbau des Bandes: Die Begriffe „Erziehung“, „Bildung“, „Sozialisation“ und „Lernen“ werden z.B. so dargeboten, dass jeder Begriff mindestens auf vier Teilperspektiven (manchmal sogar sechs oder sieben) verteilt ist. Für die Adressaten, nämlich „Studierende und interessierte Laien“ (Umschlagtext) ist das, auch noch als „Erstinformation“ (ebd.), erschlagend komplex, wobei positiv einzuräumen ist, dass jeweils auch ein Artikel im Stile „ ... als pädagogischer Grundbegriff“ zu finden ist.
Ein dritter Einwand betrifft den Umstand, dass zum einen manche (wechselseitig redundanten) Artikel zu einem zusammengefügt hätten werden können (etwa die zur neurophysiologischen Dimension); zum anderen kann man den Eindruck haben, als hätte das Herausgeberteam Probleme bei der Feinabstimmung mancher Artikel zueinander gehabt. Gleiches mag auch für die „Topik pädagogischer Handlungsformen“ (Teil V 2. Abschnitt) gelten, deren Beiträge tendenziell ins Spezialistische gehen, anstatt entsprechende Verweise in den vorherigen Grundlagenabschnitt einzuflechten. Insgesamt ist das abgegriffene Wort „weniger wäre mehr gewesen“ angebracht.
Bei aller Kritik sind viele Beiträge entweder thematisch und/oder von der Expertise der Verfasserin oder des Verfassers ausgezeichnet, z.B. Strobel-Eisele über Fehlformen des Erziehens (989 ff) oder Meyer-Drawe zum Lernen (391 ff).
Einerseits bietet der Band viel, ja – zuviel, was man leider nicht hinreichend erschließen kann, weil ein Sachregister fehlt; andererseits geht der Band sowohl in die Breite als auch in die Tiefe, so dass man sich bei fast jedem Thema die Lektüre zahlreicher einschlägiger Zeitschriftenartikel schenken kann. Allerdings möchte ich hinzufügen, dass man nicht fehl geht, wenn man sich in anderen Handbüchern oder Lexika eine knappe Vorinformation zu einem Thema verschaffen sollte, um angesichts der oft genug ausufernden Genauigkeit der Beiträge insgesamt den Überblick nicht zu verlieren.
Das Herausgeberteam hätte sich angesichts dessen für eine andere Komposition entscheiden können, nämlich zwei (unterschiedlich umfangreiche) Großblöcke A und B, von denen der erste Basisinformationen zu einem Thema liefert, die dann im anderen Großblock beliebig fein ausdifferenziert hätten werden können, ohne dass der diverstheoretische Charakter (der durchweg gewahrt wird) darunter hätte leiden müssen (was mit entsprechenden redaktionellen Hinweisen leicht einzurichten gewesen wäre).
So aber scheint man an den Adressaten vorbeigeschrieben, aber die Fachvertreter (die nicht das Zielpublikum gewesen sind) erreicht zu haben, denen ein hohes Maß an Komplexität auch ohne Reduktion zuzumuten ist.
[1] Vgl. : Andresen, Sabine u.a. (Hrsg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim 2009, sowie die Rezension in der EWR: Peter Kauder: Rezension von: Andresen, Sabine / Casale, Rita / Gabriel, Thomas / Horlacher, Rebekka / Klee, Sabina Larcher / Oelkers, Jürgen (Hg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim / Basel: Beltz 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340783159.html
EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)
Handbuch der Erziehungswissenschaft
Bd. I: Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft
Paderborn: Schöningh 2007
(1118 S.; ISBN 978-3-606-76350-1; 108,00 EUR)
Peter Kauder (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Kauder: Rezension von: Frost, Ursula / Böhm, Winfried / Koch, Lutz / Ladenthin, Volker / Mertens, Gerhard (Hg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. I: Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn: Schöningh 2007. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978360676350.html
Peter Kauder: Rezension von: Frost, Ursula / Böhm, Winfried / Koch, Lutz / Ladenthin, Volker / Mertens, Gerhard (Hg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. I: Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn: Schöningh 2007. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978360676350.html