Der „Konsens, Antisemitismus aus der Öffentlichkeit auszuschließen, ist fragil“ (13), so die Herausgeber*innen in ihrer Einleitung. Diese Aussage reagiert auf die Tatsache, dass die Latenzphase des Antisemitismus in Deutschland offensichtlich vorbei ist. Allzu sehr häufen sich Berichte über antisemitische Vorfälle auf der Straße, in der Schule, in der Politik. Der Antisemitismus zeigt sich als Verharmlosung und Leugnung der Verbrechen in Auschwitz, als Beleidigung und Verletzung von Passant*innen, als Diskriminierung von Schüler*innen oder als Infragestellung des Existenzrechts Israels.
Mit Zunahme antisemitischer Sag- und Machbarkeiten hat sich auch eine antisemitismuskritische Bildung entwickelt, die diesen Tendenzen entgegentritt. Eine Wende der kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus stellt der Blickwechsel von der Vergangenheit auf die Gegenwart unter Einbeziehung der Migrationstatsache dar. Bis in die 1990er Jahre war die Auseinandersetzung mit Antisemitismus wesentlich an den Geschichtsunterricht, die Erinnerungsarbeit an den Holocaust und die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ gebunden. Mit Beginn dieses Millenniums stellt sich die kritische Pädagogik vermehrt die Frage nach der Aktualität von Antisemitismus in Deutschland. Dies führt zu einer Erweiterung und Veränderung der pädagogischen Bildungsansätze. Zum einen wird die historisch-politische Bildung neu evaluiert und ausgerichtet [1], zum anderen werden aktuelle antisemitische Erscheinungsformen der Gegenwart analysiert und pädagogische Gegenstrategien entworfen.
Exemplarisch für diese Entwicklung steht der im Jahr 2006 bei Campus erschienene Sammelband „Neue Judenfeindschaft?“ [2]. Dieser Band enthielt vorrangig theoretische Analysen zum Antisemitismus und Berichte aus der pädagogischen Praxis im Umgang mit Antisemitismus. Ergebnisse qualitativ-empirischer Studien lagen zu diesem Zeitpunkt nur vereinzelt vor. Streitpunkt war die Frage, ob sich – bspw. in Form der Kritik am Staat Israel – neue antisemitische Artikulationen abzeichneten. Zudem wurden Beispiele nichtmoralisierender antisemitismuskritischer Pädagogik vorgestellt.
Heute lässt sich die Frage mit dem 2017 ebenfalls bei Campus publizierten Sammelband „Fragiler Konsens“ folgendermaßen beantworten: Ja, es gibt neue Formen des Antisemitismus, die vielleicht mit Rekurs auf die Rassismuskritik im Plural als Antisemitismen zu bezeichnen wären. Nein, diese neuen Formen sind nicht einzelnen Bevölkerungsgruppen schuldhaft zuzuweisen (z.B. als migrantischer oder muslimischer Antisemitismus) und damit gesellschaftlich wie ein Giftstoff abzukapseln. Sie sind unterschiedlich ausgeprägt in Kultur und Gesellschaft der gesamten Bevölkerung eingeschrieben. Zudem tragen die neuen Antisemitismen die alten Formen transformiert und verschoben in sich.
Die vierzehn im Sammelband publizierten Aufsätze gehen auf die Tagungsreihe „Blickwinkel. Antisemitismuskritisches Forum für Bildung und Wissenschaft“ zwischen den Jahren 2014 bis 2016 zurück und werden von den Herausgeber*innen den Themenfeldern Kommunikation, Rassismus und Antisemitismus, Erinnerung und Religion sowie Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie zugeordnet. Die Autor*innen vertreten vor allem den sozialwissenschaftlichen Bereich (Erziehungswissenschaften, Politologie, Soziologie, Sozial-/Psychologie), aber auch die Geschichtswissenschaft und Theologie sind vertreten. Die Aufsätze sind vor allem sozialpsychologischen, psychoanalytischen oder postkolonialen Ansätzen sowie der Kritischen Theorie verpflichtet.
In diesem Band gibt es viele Bezüge insbesondere zu qualitativ-empirischen Studien. Einige dieser Studien sind in den vergangenen Jahren als Dissertationen publiziert worden. Das weist auf eine zunehmende empirische Verankerung des Themas vor allem im erziehungswissenschaftlichen Kontext hin und lässt sich als Zeichen einer zunehmenden wissenschaftlichen Verankerung lesen.
In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber*innen, dass die Vergangenheit und Gegenwart des Antisemitismus in Deutschland als „Migrationsgesellschaft“, d.h. in einer durch die Normalität der Migration geprägten Gesellschaft, zu thematisieren sei. Damit pluralisierten sich Bezüge der in Deutschland lebenden Menschen auf die deutsche Vergangenheit. Auch sei darauf zu achten, „aus der Tatsache der Migration keine Zielgruppenstruktur abzuleiten, sondern darin eine Gesellschaftsstruktur zu sehen, die alle angeht.“ (15)
Dies berücksichtigend, beschäftigen sich die Aufsätze von Saba-Nur Cheema, Anke Schu und Jihan Jasmin Dean mit der Verschränkung von Antisemitismus und (antimuslimischem) Rassismus. Sie rekonstruieren Verortungen junger Muslim*innen, die von Rassismuserfahrungen und antisemitischen Bildern geprägt sind, oder untersuchen die Schwierigkeit von Bündnissen, „die gleichzeitig und gleichermaßen antisemitismus- und rassismuskritisch sein können“ (105). Daran lässt sich die Kritik von Meron Mendel / Tom David Uhlig anschließen, dass die postkolonialen rassismuskritischen Analysen ein mangelndes Verständnis des Antisemitismus aufwiesen. Trotz dieser Kritik betonen die Autoren die postkoloniale Insistenz auf der Erfahrungsdifferenz als Korrektiv gegenüber dem wissenschaftsobjektivistischen Ansatz der quantitativ-empirisch ausgerichteten Vorurteilsforschung.
Einen weiteren Themenstrang bilden die Erörterungen zur Gedenkstättenpädagogik von Matthias Heyl, Verena Haug und Elke Gryglewski. In deren Zentrum stehe weniger die Antisemitismuskritik als die teils vielschichtige Geschichte des jeweiligen Gedenkortes. Hier gelte es insbesondere dialogische Lehr- und Lernformen zu entwickeln, um biografische Zugänge zu ermöglichen.
Die Aufsätze von Sebastian Winter, Olaf Kirstenmacher, Eva Berendsen / János Erkens / Tom David Uhlig, Marina Chernivsky und Jan Lohl fußen alle auf psychologischen bzw. psychoanalytischen Zugängen zum Thema. Hierbei werden aktuelle Erscheinungsformen des sekundären Antisemitismus sowie die Rolle des antisemitischen Ressentiments analysiert, Verschränkungen von Antisemitismus und Sexismus thematisiert und rechtspopulistische Aussagen tiefenhermeneutisch interpretiert.
Die explizit pädagogische Abhandlung von Heike Radvan über Typen des pädagogischen Handelns in der Jugendarbeit in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und die religionswissenschaftliche und kirchengeschichtliche Abhandlung von Christian Staffa über die religiösen Stränge des modernen Antisemitismus sowie die insbesondere protestantische Verstrickung in den modernen Antisemitismus lassen sich nicht umstandslos der Gliederung des Sammelbands zuordnen. Insofern überzeugt die von den Herausgeber*innen vorgenommene Zuordnung der Aufsätze zu den anfangs oben genannten Themenfeldern nicht wirklich, zu heterogen sind die grundsätzlich solide bis spannend geschriebenen Aufsätze. Die Schwierigkeit der Systematisierung der Beiträge ist jedoch nicht einfach einem Zufall der Auswahl geschuldet, sondern zeigt die Suchbewegungen und Ungewissheiten, die in der Analyse von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft mit Orientierung auf Bildungsaspekte nach wie vor zu finden sind. Da es sich um ein immer noch neues Forschungs- und Arbeitsfeld handelt, sind Forschungsstand und Praxiserprobung keineswegs abgeschlossen.
[1] Siehe hier bspw. den Sammelband von Broden, A. / Hößl, Stefan E. / Meier, M. (Hrsg.): Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n). Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2017.
[2] Fritz Bauer Institut / Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Frankfurt am Main/New York: Campus 2006.
EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)
Fragiler Konsens
Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft
Frankfurt am Main: Campus 2017
(309 S.; ISBN 978-3-593-50781-1; 19,95 EUR)
Stephan Bundschuh (DĂĽsseldorf)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stephan Bundschuh: Rezension von: Mendel, Meron / Messerschmidt, Astrid (Hg.): Fragiler Konsens, Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main: Campus 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359350781.html
Stephan Bundschuh: Rezension von: Mendel, Meron / Messerschmidt, Astrid (Hg.): Fragiler Konsens, Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt am Main: Campus 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359350781.html