Die empirische Untersuchung und theoretische Dimensionierung von Raumpraktiken und damit auch die gezielte Betrachtung der Akteure und deren Beziehungen zu schulischen Architekturen sind im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bisher im Wesentlichen noch diffus.
Ina Herrmann tritt mit ihrer Dissertation an, um zu rekonstruieren, welche Spuren „schulischer Lebenspraxen“ (2) in Räumlichkeit(en) eingelagert sind und zuweilen aus institutioneller Sicht – teils allzu vorschnell – als unangemessen und „illegitim“ (57) klassifiziert werden. In einer vergleichenden Fallstudie legt sie den Fokus nicht auf eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Akteuren, sondern stellt den Raum, dessen Beschaffenheit und Zustand ins Zentrum. Die Autorin will mit ihrem forschungspraktischen Zugang, bezugnehmend auf Oevermann, durch die Veranschaulichung von „Ausdrucksgestalten“ (2) zeigen, „auf welche verschiedenen Arten und Weisen Räume ge- und benutzt werden“ (1) und welche Umgestaltung(en) diese im Kontext der Ordnungsstrukturen von Schule erfahren. Die dargestellte Arbeit skizziert somit nicht nur einen forschungspraktischen Zugang zum Schulraum, sondern diskutiert zugleich die Bedeutung von Raumpraktiken.
Das in 2014 erschienene Buch ist ein Anschluss an ihre bisherigen Forschungsschwerpunkte. Bisher hat sich Ina Herrmann der Raumthematik „von oben“ genähert und die Auseinandersetzung mit der Disposition von Macht im Schulraum gesucht [1]. Im vorliegenden Buch widmet sie sich nun „Spuren“ und den damit eingelagerten Praktiken im schulischen Raum, die aus einem inneren Akteurskreis heraus erwachsen. Zugleich wird die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Bildungsprozessen in formalisierten Räumen immer deutlicher, hier am Beispiel des Phänomens „Vandalismus“.
Dass das Buch im hermeneutischen Sinn in seiner Konzeption nicht einer beliebigen Lesart überlassen ist, wird in der Gliederungsstruktur sichtbar. So arbeitet sich die Autorin als „Ermittlerin“ am Muster der „Spur“ zur Lösung ihres Problemfalls „Vandalismus“ ab und setzt die einzelnen Kapitel als aufeinanderfolgende Wegmarkierungen, angefangen vom Aufspüren dieses Phänomens bis hin zur Aufklärung. Die reichlich bebilderte Monografie ist konzeptuell, angefangen von der Theorielegung bis hin zum Fallvergleich spezifischer Merkmale und einer Konklusion, in sechs Kapitel untergliedert: Zuerst gibt Herrmann eine Anleitung zum „Spurenlesen“, in der sie Forschungsgegenstand, Begrifflichkeiten und Ziele der Arbeit definiert. Daran anschließend beginnt die „Spurensuche“, die sich mit der Ergründung des Vandalismusbegriffs als Strafdelikt in juristischer, als Kunstform in ästhetischer und als Protest in politischer Sinnlogik beschäftigt und die schließlich überleitet zur Fragestellung: „Auf welche Weise nehmen schulische Akteure den materialen Schulraum modifizierend in Besitz und inwiefern kann infolgedessen von einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive auf Vandalismus gesprochen werden?“ (45). Nachfolgend beschreibt Herrmann ihren theoretischen Bezugsrahmen zwischen Raumordnung und Raumpraktiken im Kapitel „Spurenkunde“ und modelliert die Leitstrukturen der Untersuchung. Mithilfe der „Spurensicherung“ wird die Bild- und Protokollebene als Untersuchungsmedium zur Rekonstruktion festgelegt und methodisch eingeordnet sowie die Auswahl der untersuchten und im Folgenden dargestellten Fälle begründet: Es handelt sich um zwei in ihrer Erscheinungsform (und in sich selbst) maximalkontrastive Schulen, die durch sichtbare „Resultate vandalistischer Praktiken“ (63) ausgewählt wurden und in ihren Strukturen hermeneutisch arrondiert werden sollten. Im mit ca. 130 Seiten umfangreichsten Kapitel „Spurenanalyse“ berichtet sie unter Hinzuziehung beider Fälle ausführlich mithilfe von Fotografien und Grafiken über die Herangehensweise der qualitativen Mehrebenenanalyse und deren Ergebnisse, d.h. sie arbeitet anhand der schrittweisen Untersuchung vom äußeren Erscheinungsbild der Schule bis hin zu tieferliegenden Spuren in schulischen Architekturen differenzierte Interpretationshorizonte heraus und macht Zusammenhänge deutlich. Herrmann begründet in einem „Spurenvergleich“ durch eine Fallportraitierung das Titelmotiv der Maskierung und plädiert abschließend für einen erziehungswissenschaftlichen Vandalismusbegriff. Ganz am Ende des Buches erhält der Leser auf ca. 30 Seiten Einblick in das Forschungsmaterial, beispielsweise in Rekonstruktionsprotokolle.
Die Leitstruktur der Arbeit, die sie im definitorischen Teil entwickelt, legt die Untersuchungsgrundlage sowie die einzelnen Beobachtungsschwerpunkte fest. So geht es ihr in ihrem „Leitfaden“ zur Erschließung der Teilsysteme schulischer Architekturen nicht nur um die offensichtliche Ergründung der Strukturen zweier unterschiedlicher Schulen – als einmal eher geschlossenes System mit panoptischem Hauptgebäude und verschachtelter Sporthalle sowie im zweiten Fall als eher offenen, fraktalen Corpus oder „Rhizom“ (77). Vielmehr arrondiert sie den schulischen Interaktionsspielraum der Akteure nach topographischem und entworfenem Ursprung und differenziert darin spezifische, an beiden Schulen vorzufindende Objekte wie etwa das zugehörige Schullogo, das Schulgebäude selbst sowie die Siedlungsstruktur der Schulumgebung und setzt diese ins Verhältnis zu jeweils auffindbaren Spuren von Vandalismus. Dabei ergründet sie im Sinne der „objektiv-hermeneutischen Bildanalyse unter Erweiterung der Ikonik“ (76) einen eng miteinander verwobenen Bezugsrahmen der Erschließung von äußeren und inneren sowie sichtbaren und unsichtbaren Ordnungsgefügen, die auf die Interaktionen der schulischen Akteure einwirken und sich darin verstetigen. In den analysierten Ausdrucksgestalten finden sich Gegensätze von (Ver-)Öffnung und (Ver-)Schließung durch die Institution nicht nur zwischen den beiden analysierten Fällen aufgrund der auf den ersten Blick vorgegebenen Gebäude- oder Emblemstrukturen bzw. ihrer Position im Quartier, sondern in den Teilsystemen der jeweiligen Einzelschule selbst. So rekonstruiert Herrmann beispielsweise den Bruch zwischen einem (für die schulischen Akteure) überall einsehbaren Schulgebäude und der benachbarten Turnhalle, welche sich ganz im Gegensatz durch ihre Verschachtelung eher verschließt und „unsichtbar“ macht – und damit gleichzeitig neue Rückzugs- und Kommunikationsräume für Schülerinnen und Schüler eröffnet.
Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Rekonstruktion der Raumpraktiken – hier also von Vandalismus – im erziehungswissenschaftlichen Verständnis die mündige Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler als autonome Subjekte mit ihrer Umwelt widerspiegelt, doch gleichzeitig immer auch den institutionellen Rahmen. Im Alltagsgebrauch als „vandalisch“ anmutende Brüche des Raumes geben „als wichtiger Bestandteil differenter Lern- und Bildungsprozesse“ (224) schließlich einen Hinweis auf das akteursseitige Autonomieverständnis schulischer Lebenspraxis (223). Formuliert wird hypothetisch, dass man in diesem Kontext nicht mehr vom „Raum als Erzieher“ sprechen kann, sondern vom Raum als „Reflexionsfolie“, an der sich die Akteure abarbeiten, um „handlungsfähig bleiben zu können“ (205).
Es gelingt Herrmann, sich im Verlauf der Auseinandersetzung von der Vorstellung blinder Zerstörungswut oder auch Rowdytum zu distanzieren. Offen bleibt jedoch, warum das im Alltagsgebrauch als „Vandalismus“ beschriebene Phänomen im Titel so präsent gemacht und beibehalten wird, sie dann aber in ihrer Argumentation – durchaus nachvollziehbar – über die Realitäten von Kindern und Jugendlichen zu ernstzunehmenden Wirklichkeitskonstruktionen führt und den Begriff selbst für die Erziehungswissenschaft modifizieren möchte. Ungeachtet der Tatsache, dass die Forschungslogik die „Spuren“ ins Zentrum der Analyse setzt, wäre zudem mit dem Bezug zu „Raumpraktiken“ ein Perspektivwechsel zu den „praktizierenden“ Akteuren denkbar gewesen.
Insgesamt gelingt es Ina Herrmann bei ihrer empirischer Spurensuche das „paradoxe Verhältnis von Innen und Außen“ (183) von Schule zu zeigen, da sie in schulischen Räumlichkeiten anordnende „Körperpraktiken der Kollektivierung" (193) als Ein- und Ausschlusskriterien, als Aneignung und Abstoßung sowie De- und Reterritorialisierung von Gemeinschaft rekonstruiert. Ihr Fachbuch trägt insgesamt nicht nur zur Aufarbeitung der Raumthematik und darin kultivierter Praktiken bei, sondern schürft vor allem das inhärente Bildungspotenzial von (nicht institutionell autorisierten) Ausdrucksgestalten der Akteure als Perspektive für die Erziehungswissenschaft, da diese Sprachformen in den Alltagstheorien viel zu oft noch als „Schandtaten“ etikettiert werden.
[1] vgl. dazu u. a. Böhme, J. / Herrmann, I.: Schule als pädagogischer Machtraum. Typologie schulischer Raumentwürfe. Wiesbaden: Springer VS Verlag, 2011.
EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)
Vandalismus an Schulen
Bedeutungsstrukturen maskierender Raumpraktiken
Wiesbaden: Springer VS 2014
(266 S.; ISBN 978-3-531-19487-5; 39,99 EUR)
Dominique Matthes (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dominique Matthes: Rezension von: Herrmann, Ina: Vandalismus an Schulen, Bedeutungsstrukturen maskierender Raumpraktiken. Wiesbaden: Springer VS 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119487.html
Dominique Matthes: Rezension von: Herrmann, Ina: Vandalismus an Schulen, Bedeutungsstrukturen maskierender Raumpraktiken. Wiesbaden: Springer VS 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119487.html