
Die Studie umfasst neben Einleitung, Schlusskapitel und dem üblichen wissenschaftlichen Apparat vier Hauptkapitel. Im 2. Kapitel schildert Richter das Leben und die Sozialisationsbedingungen der Hamburger Unterschichtfamilien, im 3. Kapitel die Entwicklungen der privaten und öffentlichen Jugendfürsorge. Beides dient als allgemeiner Rahmen oder Hintergrund für die folgenden Teile. Spezifischer fällt das 4. Kapitel aus, in dem die fürsorge- und rechtspolitischen Fachdiskurse und Kontroversen zum Sorgerechtsentzug aufgearbeitet werden. Hier stützt sich der Verfasser auf zeitgenössische Fachpublikationen wie auch Verhandlungsprotokolle von Tagungen und Fachvereinigungen sowie gesetzgebenden Körperschaften. Das Schwergewicht der Studie bildet das stark ausdifferenzierte 5. Kapitel – zu dem Richter aber erst nach mehr als vierhundert Seiten Hinführung gelangt – und hier insbesondere das umfangreiche Unterkapitel 5.5, in dem die praktische Ausgestaltung und in diesem Kontext auch das Verhalten der Erziehungsberechtigten in Sorgerechtsangelegenheiten rekonstruiert wird. Hier werden die Ergebnisse der Aufarbeitung der Personalakten nach verschiedenen Kriterien in den unterschiedlichen Phasen des Verfahrens zum Sorgerechtsentzug – a) Ausgangskonflikt, b) Ermittlungs- und Beweisverfahren, c) Hauptverhandlung und Beschluss, d) Umsetzung vormundschaftlicher Beschlüsse und Rechtsmittelgebrauch – präsentiert.
Besonders anschaulich wird hier, wie sich im Untersuchungszeitraum das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und, konkreter, in der Fürsorge- und Rechtspraxis das Verhältnis zwischen Staat, Eltern und Kindern veränderte. Agierte der Staat vormals mit seinen Institutionen vornehmlich als Kooperationspartner der Eltern, um das gemeinsame Ziel, Sozialisation und Disziplinierung des Nachwuchses, sicherzustellen, so wurde die damit verbundene Hintergrundannahme einer Interessenidentität von Staat und Eltern zunehmend brüchig. Der Staat agierte zunehmend im – von seinen Organen definierten – Interesse der (guten) Kinder gegen die (schlechten) Eltern. Wie dies praktiziert und gelebt wurde, davon entwirft Richter ein lebendiges und facettenreiches Bild. Deutlich wird dabei nicht zuletzt, dass sich auch die sogenannten Unterschichteltern durchaus entschieden, selbstbewusst und zuweilen erfolgreich gegen staatliche Deutungen und Entscheidungen zur Wehr setzten. Sie verhielten sich nicht als passive Opfer, sondern als handlungsfähige Akteure. Insgesamt gelingt es Richter, seine Forschungsfrage nach vormundschaftlichen Interventionen und dem Umgang der Eltern zu beantworten und damit eine Forschungslücke zu schließen.
Dass der Verfasser die herangezogenen Personalakten unter analytischen Kriterien systematisiert darstellt und nur in kürzeren Passagen zitierend präsentiert, ist gewiss grundsätzlich sinnvoll und in der praktischen Handhabung auch gelungen. Dass dabei einzelne Fälle unter verschiedenen Aspekten immer wieder angeführt werden, ist sicher auch kein Grund zur Kritik. Aber es wäre für die interessierten LeserInnen orientierend und hilfreich, für einige wenige ausgewählte – die häufig angeführten – Sorgerechtsverfahren, gesonderte Fallportraits zu erstellen. Das würde den LeserInnen erlauben, gezielt auf die dann konzentrierten Gesamtinformationen zu den Einzelfällen zurückzugreifen, die jetzt im Text weit verstreut sind, sich aber kaum pragmatisch nachschlagen lassen. Und dem Anliegen des Autors, die Betroffenenperspektive herauszuarbeiten, hätte es zudem entsprochen. Mit jeweils mehr als 100 Seiten zu ausführlich dargestellt erscheinen dagegen das 4. Kapitel und viel mehr noch die Kapitel 2 und 3, die ja letztlich nur die Ergebnisse der schon vorliegenden Sekundärliteratur präsentieren und für das Kernanliegen der Studie nur hinführenden Charakter haben. (Deutlich) Weniger wäre hier mehr gewesen. Des ungeachtet: Wer sich für die Praxis von Sorgerechtsverfahren im Untersuchungszeitraum interessiert, kommt an der Dissertation von Johannes Richter nicht vorbei.