Der Band „Neue Lebenslaufregimes – neue Konzepte der Bildung Erwachsener?“ erscheint als Band 2 der von Axel Bolder, Rolf Dobischat und Günter Kutscha herausgegebenen Reihe „Bildung und Arbeit“. Insgesamt findet der Leser dieses Bandes eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungszugänge – vom Problemaufriss über Einzelfallstudien und Erfahrungsberichte bis zu quantitativen Studien – in Bezug auf die Entwicklung bzw. das Vorhandensein neuer Lebenslaufregimes sowie deren Konsequenzen für die Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung. Darüber hinaus werden unterschiedliche, noch näher zu ergründende Bewältigungsstrategien aufgezeigt.
Dabei fragt dieser Band erstens aus einer empirischen Perspektive, ob „die gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in den Arbeitsbeziehungen, wirklich zu neuen Lebenslaufregimes geführt“ haben (11). Ergänzend ist auch zu klären, ob diese veränderten Strukturen eine Zunahme diskontinuierlicher Erwerbs- und Lebensverläufe nach sich ziehen und dadurch neue bzw. veränderte Lebenslaufregimes tatsächlich als „gesellschaftliche Realität“ vorhanden sind (11). Im zweiten Schritt soll auf ideologiekritische Weise diskutiert werden, ob aktuelle Diskurse der Erwachsenenbildung auf unterstellte oder real vorhandene neue Lebenslaufregimes Bezug genommen haben und wie eventuelle Reaktionen darauf aussehen. Bei unterschiedlichen Annahmen über das dabei zugrunde gelegte Verständnis des „Selbst“ setzt die dritte Fragestellung des Bandes ein: Aktuelle Beispiele aus der erwachsenenbildnerischen Praxis sollen dahingehend untersucht werden, welcher Perspektiven des „Selbst“ sie sich bedienen, wie sie diese förderen und welche Konsequenzen in die Praxis rückwirken.
Die 23 Beiträge des Bandes sind in drei Bereiche untergliedert. Wie bereits im
Band 1 der Reihe „Bildung und Arbeit“ erscheint auch hier ergänzend ein „Klassiktext“: Es handelt sich um eine in den ersten Absätzen leicht gekürzte Fassung eines 1974 gehaltenen Vortrags von Hans Tietgens zum Themenbereich der „Verzahnung“ beruflicher und allgemeiner Bildung aus erwachsenenbildnerischer Perspektive (244). Begründet wird die Übernahme dieses Beitrags u. a. durch die Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Situationen, die damals und heute als „epochale Umbrüche“ verstanden werden können (19). Die gelungene Strategie des Aufzeigens von Begründungen aktueller Kontexte durch historische Eingebundenheit einerseits und historische Vergessenheit andererseits wird damit in Band 2 fortgeführt.
Für eine grundlegende Einführung in den Begriff der „Lebenslaufregimes“ sowie das Aufzeigen des Forschungsstandes zu einem möglichen Wandel der Lebenslaufregimes in Deutschland sorgt der Beitrag von Martin Diewald im ersten Teil des Bandes („Neue Lebenslaufregimes, Individualisierung und Subjektivierung von Arbeit und Bildung“). Hiernach sollen unter Lebenslaufregimes „ganzheitliche Muster als Ausprägungen übergreifender gesellschaftlicher Regime“ verstanden werden (29). Ob aufgrund aktuellster Veränderungen, wie Massenarbeitslosigkeit bei zeitgleichem Mangel an Fachkräften, unsicheren und befristeten Arbeitsverhältnissen oder unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Geschlechter, von neuen Lebenslaufregimes gesprochen werden kann, sei noch zu klären. Im Zentrum steht dabei nach Diewald die „individuelle Kontinuitätssicherung bei schwankender Erwartungssicherheit“ (38).
Widersprüchlich mutet an, dass der Begriff der Lebenslaufregimes einerseits bewusst auf die Bedeutung und Einflüsse von persönlichen Eigenschaften verzichten solle, andererseits – wie im Beitrag von Johannes Geffers und Ernst Hoff der Fall – bewusst mögliche Einflüsse subjektiver Merkmale wie „Strebungen und Ziele“ oder „Vorstellungen zu beruflichem Erfolg“ auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Lebensverläufen untersucht werden (25; 115). Gemeinsam ist den Beiträgen die Betonung der weitreichenden Prekarität, die – in Abhängigkeit von Milieu, Geschlecht und bereits benannten Bedingungen – unterschiedliche Auswirkungen, Konsequenzen und Bewältigungsstrategien fordern müsse.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Klaus Dörre in seinem Beitrag: Der Erfolg des Umgangs mit Unsicherheit als ein Merkmal der modernen Gesellschaft hängt seiner These nach bedeutend von dem direkten Zugang zu materiellen und kulturellen Ressourcen sowie dem Geschlecht, dem Alter, dem Bildungsniveau und dem Beruf ab. Der viel benannte und positiv konnotierte Zuwachs an individuellen Optionen zur Gestaltung des eigenen Lebens muss nach Dörre in Abhängigkeit der Ausprägungen der benannten Ressourcen und Gegebenheiten als prekär gedeutet werden. Als Bewältigungsstrategien schlägt Dörre wirksame Mechanismen zum Schutz „moderner Bastelbiographien“ vor, die zum Ziel haben müssen, einen Freiheitsgewinn im Sinne einer tatsächlich freien Lebensgestaltung jedweder gesellschaftlicher Klassen zu schaffen (148). Aufgrund einer anzunehmenden Zunahme dieser Prekarisierung sind an dieser Stelle konkretere Vorschläge für eine Gegensteuerung wünschenswert.
Weiterhin werden im ersten Teil des Bandes in einem sehr breiten Spektrum Phänomene, Einflussfaktoren sowie Konsequenzen der Individualisierung und Diskontinuität von Lebensverläufen diskutiert: So ergänzen Klaus Birkelbach und Axel Bolder die Bedeutsamkeit regional struktureller, sozialer und kultureller Einflüsse auf Lebensverläufe und Einstellungen zum Lebenslangen Lernen, wobei erneut deutlich wird, dass nicht von „dem“ neuen Lebenslaufregime zu sprechen sein kann. Für (zukünftige) Bildungskonzepte könne abgeleitet werden, dass diese regionalen Unterschiede zu unterschiedlichen, aber kalkulierbaren Einstellungen zum Lebenslangen Lernen führen. Als ein Aspekt für neue Bildungskonzepte wird auch hier der „Sicherheitsaspekt“ als ein zentrales und milieuübergreifendes Motiv gesehen (86).
Den zweiten Teil des Bandes, der sich mit „Erwachsenen- und Weiterbildung zwischen Selbststeuerung und Marktorientierung“ auseinandersetzt, wird von Jürgen Wittpoth eingeleitet: Er kritisiert zunächst aktuelle, in Diskursen der Erwachsenenbildung vorherrschende „neue“ Verständnisse der Selbstorganisation und Selbststeuerung, welche zu einem „schwerelosen“ und „entrückten“ Verständnis des „Selbst“ führten, da die Frage nach den Bedingungen für Möglichkeiten des expansiven Lernens oder den Bedingungen für mögliche Lernprozesse aus konstruktivistischer Perspektive nicht gestellt werde (152). Die Erwachsenenbildung feiere daher ein Neuaufkommen der Bedeutung informellen Lernens, ohne in den Blick zu nehmen, dass dieses aus historischer Betrachtung heraus immer eine „normal“ existente Lernform gewesen sei. Wittpoth beklagt damit eine Geschichtsvergessenheit in der erwachsenenbildnerischen Diskussion. Seinem Verständnis beipflichtend sollte die Erwachsenenbildung ein Verständnis des „Selbst“ in einer komplexen, sozialwissenschaftlichen Theorietradition entwickeln und dieses auch selbstbewusst vertreten. Dafür müsse sie zunächst in Betracht ziehen, dass die Kompetenz zur Selbststeuerung und damit zur Partizipation „bei denen am wenigsten ausgeprägt [ist], die sie am dringendsten brauchten“ (158).
Als eine „Nicht-Reaktion“ auf die gesellschaftliche und politische Aufwertung des Lebenslangen Lernens kann nach Rolf Dobischat, Marcel Fischell und Anna Rosendahl die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse in der Weiterbildung gedeutet werden. Als abschließende These wird formuliert, dass zwischen den ökonomischen Marktbedingungen, denen die Weiterbildung unterliegt, und dem angenommenen geringen Grad der Professionalisierung ein fundamentaler Zusammenhang liege.
Dass entsprechende Veränderungen – wie der Rollenwechsel „von der Lehrtätigkeit zur Lernbegleitung“ – bei WeiterbildnerInnen auch zu einem Identitätsverlust und zu Veränderungen in Lebensverläufen führen können, zeigt Antje-Wibke Recksiek in ihrem Erfahrungsbericht (194). Für die Suche nach neuen Bewältigungsstrategien seien hier neben dem Bildungsmanagement der jeweiligen Einrichtungen auch Bildungsforschung und -politik gefragt.
Helmut Bremer spricht an, dass eine erwachsenenbildnerische Diskussion um Begriffe wie „Lernen“ oder „Mündigkeit“ ohne die Beachtung der jeweiligen Lebenswelten defizitär bleiben müsse. In Anlehnung an das Konzept des Habitus nach Bourdieu plädiert Bremer für eine „reflexive milieubezogene Pädagogik“: Hier wird der bislang vernachlässigte Aspekt hervorgehoben, dass das Selbst, welches sich „organisieren soll“, in jedem Milieu ein anderes Selbst ist (217). Eine Lösung könne hier ein Verständnis der Teilnehmerorientierung nach Tietgens sein, um so zu einer „milieubezogenen Ausbuchstabierung pädagogischen Handelns“ zu kommen, zu der auch eine bewusste Reflexivität der Pädagogik und der PädagogInnen in Bezug auf eigene (habituelle) Beiträge und Einflüsse gehöre.
Im dritten Teil des Buches („Praxen der Bildung Erwachsener: Lehren und Lernen für die Teilhabe in Arbeit und Gesellschaft“) werden unterschiedliche Praxisprojekte mit unterschiedlichen Zielgruppen vorgestellt: Als ein Ergebnis wird deutlich, dass sich viele Praxisangebote – wie z.B. Blended Learning im Beitrag von Martina
Wennemann – auf einen speziellen Kreis von LernerInnen beschränken (müssen), die bereits über spezielle Kompetenzen (wie mediale Kenntnisse, aber auch Selbstvertrauen und -kritikfähigkeit) verfügen (z.B. 303).
Der Band reflektiert insgesamt auf vielfältige, reiche und facettenreiche Art die Prozesse, Strukturen und Auswirkungen der (zunehmenden) Diskontinuierung von Lebens- und Erwerbsverläufen. Die eingangs angesprochenen Ziele des Bandes sind auf unterschiedliche Weise als erfüllt anzusehen: Ob tatsächlich von einem neuen Lebenslaufregime zu sprechen sein kann, wird noch weiter zu erforschen sein, wobei der (Un-)Sicherheitsaspekt nach dem Grundtenor dieses Bandes tendenziell im Zentrum stehen muss.
Unabhängig von real vorhandenen neuen Lebenslaufregimes scheint die „Antwort“ der Erwachsenenbildung in Konzepten des selbstorganisierten Lernens zu liegen,
was auch Auswirkungen hat auf die – bewusst oder unbewusst – in Theorie und Praxis vorherrschenden „Selbst-Verständnisse“. Im Band werden mehrere alternative Konzepte hierzu vorgestellt. Ungeklärt bleibt, ob die Frage, auf die die Erwachsenenbildung „geantwortet“ habe, tatsächlich die Frage nach (real vorhandenen?) neuen Lebenslaufregimes ist.
Besonders deutlich macht der Band, dass die Erwachsenenbildung auch selbst zum
direkten Akteur in Exklusionsprozessen werden kann, wie die Beiträge von Rudolf
Epping (Teil 2) sowie Rosemarie Klein und Gerhard Reutter (Teil 3) zeigen. Epping empfiehlt daher unter anderem die bewusste Reflexion über die eigene Beteiligung der Weiterbildung an Exklusionsprozessen, wofür jedoch wiederum zusätzliche zeitliche und finanzielle Ressourcen nötig sind.
Die auf alle Beiträge eingehende Einleitung gibt dem Band einen inhaltlichen
Rahmen mit deutlicher Kritik an bestehenden Strukturen. Insgesamt sorgt der Facettenreichtum der Beiträge für eine Struktur, die sich der Leser teilweise erst erschließen muss. Dazu trägt auch bei, dass die Dreiteilung der Ziele sich nicht immer konsequent auf die Dreiteilung des Bandes konzentriert. Ein abschließender Ausblick im ähnlichen Stil der Einleitung, in dem beispielsweise (weitere) Forschungsfragen und Bewältigungsstrategien zusammenfassend aufgegriffen werden, hätte den Band inhaltlich abrunden können.
Insgesamt ist dieser Band einer breiten Leserschaft aus den Bereichen einer an Reflexion interessierten Politik, Forschung und Weiterbildungspraxis sehr zu empfehlen.
EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)
Neue Lebenslaufregimes – neue Konzepte der Bildung Erwachsener?
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010
(389 S.; ISBN 978-3-5311-7340-5; 59,95 EUR)
Kim Christin Hiller (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kim Christin Hiller: Rezension von: Bolder, Axel / Epping, Rudolf / Klein, Rosemarie / Reutter, Gerhard / Seiverth, Andreas (Hg.): Neue Lebenslaufregimes – neue Konzepte der Bildung Erwachsener?. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117340.html
Kim Christin Hiller: Rezension von: Bolder, Axel / Epping, Rudolf / Klein, Rosemarie / Reutter, Gerhard / Seiverth, Andreas (Hg.): Neue Lebenslaufregimes – neue Konzepte der Bildung Erwachsener?. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117340.html