In der erziehungswissenschaftlichen Forschung kommt Interviews als Erhebungsmethode ein zentraler Stellenwert zu: Ob es um Fragen der Bedarfsermittlung oder Akzeptanz von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe geht, um Einstellungen zu und Bewertungen von pĂ€dagogischen Interventionen oder um beruflich-habituelle Orientierungen â Interviews sind bei ganz unterschiedlichen Fragestellungen das Mittel der Wahl. Sie werden in Studien mit verschiedenen Gruppen eingesetzt: Interviews mit FachkrĂ€ften in Hilfe- oder Bildungseinrichtungen, mit Adressat/inn/en wie Jugendlichen, Eltern oder mit auĂerinstitutionellen Partnern wie medizinischem Personal oder (fach-)politischen Akteuren.
Eine (Adressat/inn/en-)Gruppe hingegen bleibt dabei meist unbeachtet: die Kinder. Kinderinterviews sind daher eine nach wie vor nur mĂ€Ăig verbreitete Erhebungsmethode â zugleich liefern die gĂ€ngigen LehrbĂŒcher und Standardwerke der empirischen Sozialforschung oder der erziehungswissenschaftlichen Forschungsmethoden recht wenig methodische und/oder methodologische Anhaltspunkte wie Interviews mit Kindern konzeptualisiert und diskutiert, aber auch vorbereitet, durchgefĂŒhrt und ausgewertet werden können. Von dieser Diagnose der Nicht-Existenz von Grundlagen ĂŒber Interviews mit Kindern nimmt das Buch einen seiner Ausgangspunkte. FĂŒr den Autor sind Kinder (und Jugendliche) die âprimĂ€re Zielgruppeâ der Erziehungswissenschaft (13); er betrachtet sie als Gruppe mit âeigene(n) Denk-, Verhaltens- und Kommunikationsmusternâ und âspezifischen [âŠ] Verarbeitungsmechanismenâ (13ff). Dies erklĂ€rt, warum der Autor die allgemeine Methode âInterviewsâ auf die eigenstĂ€ndige Gruppe der Kinder bezieht und ein einfĂŒhrendes Lehrbuch in Grundlagenwissen und Fragetechniken bei Kinderinterviews vorlegt. Man darf daher ein Buch erwarten, das in gewisser Weise Neuland betritt und erstmals eine âkonzentrierte EinfĂŒhrungâ in die Methode Kinderinterviews liefert â wie dies auch der Klappentext verspricht.
Das Buch ist, abgesehen von der zweiseitigen Einleitung, in acht Abschnitte aufgeteilt. ZunĂ€chst werden die kommunikativen Grundlagen von Interviews anhand der Darstellung von zwei verschiedenen Kommunikationsmodellen dargelegt (Abschnitt 1). Es handelt sich um das âVier-Ohren-Modellâ von Schulz von Thun und das transaktionale Modell von Thomas Harris. Danach folgt in einem eigenen, zweiseitigen Abschnitt mit dem Titel âKinder als Experten?â ein Ăberblick ĂŒber die Phasen kindlicher Entwicklung (Abschnitt 2), gefolgt von Abschnitt 3, der aus psychologischer Perspektive Einblicke in das âkindliche GedĂ€chtnisâ (Arbeits- und LangzeitgedĂ€chtnis, deklaratives und episodisches GedĂ€chtnis, Prozesse des (falschen) Erinnerns, etc.) liefert und die Sprachkompetenz von Kindern je nach Entwicklungsstand thematisiert. Hierauf folgt eine Darstellung von âGrundbegriffen und -konzeptenâ von Interviews (Abschnitt 4). Dabei werden verschiedene Strukturelemente skizziert: Es geht u. a. um Interviewphasen und -formen (Telefoninterviews, vollstandardisierte Interviews, narrative Interviews ...), um Informationen zu Makro- und Mikroplanung von Interviews und um Rahmenbedingungen (Vorbereitung, Auswahl von Ort und Zeit ...). Eine spezifische Form wird besonders erlĂ€utert: die sogenannten âInterviewkatarakteâ (101), die man auch als âqualitative LĂ€ngsschnitteâ bezeichnen könnte. Diesem insgesamt gröĂten Abschnitt des Buches folgt eine Einheit mit der Ăberschrift âFragen â Fragestellung â Fragefehlerâ (Abschnitt 5). Hier unterscheidet der Autor 22 Frageformen (Trautmann bezeichnet diese als Floskelfragen, Nötigungsfragen, Rumpffragen, etc.) und identifiziert Fehlerquellen. Die letzten drei Abschnitte widmen sich zentralen Punkten bei der DurchfĂŒhrung von Interviews (âDreizehn ProfessionalisierungsansĂ€tze fĂŒr Interviewer/innenâ (Abschnitt 6)) und technisch-organisatorischen Grundlagen von Interviews (Abschnitt 7). Das Buch endet mit der Darstellung eines Hamburger Forschungsprojektes des Autors bei dem Interviews mit Kindern im Vordergrund standen (Abschnitt 8).
Wenn man eine EinschĂ€tzung dieses Lehrbuchs vornehmen will, kommt man nicht umhin zunĂ€chst den Aufbau des Buches auf formaler Ebene zu betrachten. Das Buch ist gekennzeichnet durch eine gefĂ€llige, leicht verstĂ€ndliche und mit vielen plastischen Beispielen angereicherte Darstellung und Sprache, welche Studierenden, also der primĂ€ren Leserschaft, sicherlich auf den ersten Blick sehr sympathisch sein wird und einen schnellen Lesefluss ermöglicht. Dennoch erweist sich das Buch im Hinblick auf die Frage, welchen Ertrag man von der LektĂŒre fĂŒr die eigene Aus- und Weiterbildung ziehen kann, als schwer zugĂ€nglich. Dies liegt u. a. daran, dass der Aufbau des Buches und die formale Darstellung der Inhalte irritieren.
Wie aus der Ăbersicht ĂŒber die âAbschnitteâ des Buches ersichtlich wird, vermisst man einen roten Faden, der den Aufbau des Buches begrĂŒnden wĂŒrde. Bereits eine Durchnummerierung der âKapitelâ und insbesondere ihre sinnvolle (Unter-)Gliederung wĂ€ren hilfreich; sie wĂŒrden es gerade fĂŒr Studierende erleichtern, sich im Buch besser zurechtzufinden. Schwer nachvollziehbar ist auch, warum z. B. der Frage des Einsatzes von AufnahmegerĂ€ten im Interview ein eigenes âKapitelâ am Ende des Buches zugestanden wird und sie damit genauso bedeutsam erscheint, wie die kommunikationstheoretischen Grundlagen von Interviews â auch angesichts der Tatsache, dass einige Abschnitte zuvor bereits zahlreiche Interviewformen und Rahmenbedingungen von Interviews bis hin zur Transkription und den Auswertungsmethoden beschrieben wurden und sich die Verwendung von AufnahmegerĂ€ten oder weitere technische Grundlagen hier gut einfĂŒgen lieĂen.
Ebenso wenig erschlieĂt sich der Rezensentin, warum die Frage âKinder als Experten?â als eigenes Kapitel deklariert wird, wobei dieses Kapitel â das insgesamt nur zwei volle Seiten umfasst â lediglich Grundlagen der Entwicklungspsychologie (Phasen der kindlichen Entwicklung) benennt, die eigentlich im darauffolgenden Kapitel âPsychologische Grundlagenâ behandelt werden könnten. Wie sollen Studierende eine Ordnung unterschiedlicher Perspektiven vornehmen lernen und sich die Gewichtung von Fragen und Herausforderungen beim Einsatz von Interviews mit Kindern vergegenwĂ€rtigen, wenn es das Lehrbuch selbst nicht leistet?
Die formalen Irritationen haben eine Entsprechung auf inhaltlicher Ebene. Das Buch tritt an um allgemeine âGrundlagen und Technikenâ von Kinderinterviews darzustellen und spezifische Probleme zu diskutieren. Diese breite Grundlegung wird auf mehrfache Weise recht einseitig bearbeitet. Beispielsweise werden die zentralen Grundlagen von Kinderinterviews insbesondere in kommunikationstheoretischen sowie entwicklungs- und wahrnehmungspsychologischen AnsĂ€tzen und Modellen gesehen. Daraus erklĂ€rt sich zwar Trautmanns Vorstellung, dass âgehaltvolle Interviewsâ eher mit Kindern im Schulalter durchgefĂŒhrt werden könnten (60) und jĂŒngere Kinder hierfĂŒr noch nicht geeignet seien, allerdings blendet er hier weitere theoretische Perspektiven aus wie zum Beispiel kindheitstheoretische oder sozialwissenschaftliche Herangehensweisen an Interviews mit Kindern, die seit vielen Jahren BeitrĂ€ge zur Diskussion um die âPerspektive der Kinderâ beisteuern [vgl.1]. Auch hĂ€tte dann die spannende Frage aufgeworfen werden können, warum Kinder bislang in der empirischen Sozialforschung oder Kinderinterviews, gerade mit jĂŒngeren Altersgruppen, in der erziehungswissenschaftlichen Forschung eine so marginale Rolle spielen.
Die Begrenzung des theoretischen Blickwinkels korrespondiert zudem mit den empirischen Darstellungen, die nahezu ausschlieĂlich auf den eigenen Erfahrungen des Autors beruhen. Spannend fĂŒr ein Lehrbuch wĂ€re es gewesen, auch Techniken, Befunde und Problemstellungen aus weiteren Forschungsprojekten einflieĂen zu lassen. Hier hĂ€tte sich gezeigt, dass z. B. auch problemlos Kinder im Vorschulalter in Forschungsvorhaben integriert werden können wie dies nicht nur in einem Mannheimer Forschungsprojekt realisiert wurde [2]. Die Leser/innen hĂ€tten so zugleich einen Ăberblick ĂŒber die Verbreitung von Kinderinterviews und die jeweiligen Fragestellungen erhalten können, die mittels Interviewverfahren mit Kindern bearbeitet werden.
Der Autor indessen nimmt in seinem Lehrbuch auf nahezu keine der neueren Studien Bezug oder diskutiert seine Ăberlegungen vor dem Hintergrund des deutschen und auch internationalen Forschungsstandes â den es auch auf dem Gebiet der Kinderinterviews gerade im Kreis der Kindheitsforschung gibt. Daher fĂ€llt es auch schwer, pauschale Urteile ĂŒber Sinn und Unsinn von spezifischen Formen von Kinderinterviews einfach so hinzunehmen. Trautmann schreibt, das vollstandardisierte Kinderinterview sei âbei Kindern von vorn herein problematischâ (72), hingegen lieĂen sich Leitfadeninterviews oder auch episodische Interviews âhervorragendâ, zumindest aber âohne gravierende Problemeâ fĂŒhren (74ff). Auf welchen Grundlagen basieren solche Einordnungen? Wie sollen Studierende, die sich zum ersten Mal mit dem Gegenstand Kinder und Interviews beschĂ€ftigen, damit umgehen?
Aus didaktischer Perspektive ist es zudem schwer nachzuvollziehen warum der Autor fast durchweg mit Negativbeispielen arbeitet und diese mitunter recht artifiziell wirken wie die folgenden Beispiele deutlich machen: âInterviewer/in zu einer ErstklĂ€sslerin âWie hast Du deine Einschulung reflektiert ⊠Àh konntet ihr da metakognitiv in der Familie mal drĂŒber diskutieren?â (141); âIch helfe Dir gleich mal auf die SprĂŒnge, willst Du diesen kompletten LĂŒgentext hier weiterverfolgen?â (121) oder auch âManuel, Deine Antworten sind mir immer noch zu knappâ (28). Was und wie sollen die Studierenden aus diesen Beispielen lernen? Zudem stellt sich die Frage, ob diese Beispiele tatsĂ€chlich auf typische Problemstellungen von Kinderinterviews in der Forschung aufmerksam machen oder nicht vielmehr den Umgang von Laien mit einer fĂŒr sie unbekannten Methode illustrieren.
Zweifelsohne hat Thomas Trautmann einen reichen Erfahrungsschatz in Bezug auf Fragestellungen zur zwischenmenschlichen Kommunikation und bei Kinderinterviews im Grundschulbereich. Allerdings ist sein Buch weniger als ein allgemeines, einfĂŒhrendes Lehrbuch fĂŒr Studierende zu lesen, das einen Einblick in die Grundlagen, Techniken und Besonderheiten der Kinderinterviews als eine Methode der empirischen Sozialforschung gibt. Vielmehr lassen sich die Beispiele und Ăberlegungen am besten einordnen, wenn man das Buch als eine Art Werkstattbericht liest, bei dem der Autor aus den Erfahrungen mit seinen Studierenden bei der DurchfĂŒhrung von Kinderinterviews in der Grundschule berichtet, diese einordnet und reflektiert.
Studierende finden im Buch zwar nicht âalles, was man zur richtigen InterviewfĂŒhrung mit Kindern brauchtâ, wie es die Werbung fĂŒr das Buch suggeriert; gleichwohl bietet das Buch dennoch hilfreiche Anregungen fĂŒr eine intensivere BeschĂ€ftigung mit Kinderinterviews: Es weist auf zentrale Stolpersteine hin, unterscheidet wichtige formale Elemente der InterviewfĂŒhrung und liefert ĂŒber âProfessionalisierungsansĂ€tze fĂŒr Interviewer/innenâ (144ff), die âKriterien guter Interviewsâ (95ff) oder auch durch die Darstellung des Hamburger Forschungsprojekts (168ff) praxisnahe Tipps.
[1] Honig, Michael-Sebastian / Lange, Andreas / Leu, Hans. R. (1999): Zur Methodologie der Kindheitsforschung. MĂŒnchen / Weinheim: Juventa.
[2] Van Deth, Jan W. / Abendschön, Simone / Rathke, Simone / Vollmar, Meike (2007): Kinder und Politik. Politische Einstellungen von jungen Kindern im ersten Grundschuljahr. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften.
EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)
Interviews mit Kindern
Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010
(190 S.; ISBN 978-3-531-17127-2; 16,90 EUR)
Tanja Betz (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tanja Betz: Rezension von: Trautmann, Thomas: Interviews mit Kindern, Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117127.html
Tanja Betz: Rezension von: Trautmann, Thomas: Interviews mit Kindern, Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117127.html