Irritierend erscheint zunächst der Titel bzw. der verwendete Terminus der „integrativen Beschulung“, handelt es sich doch bei dieser Form des Berufsvorbereitungsjahres für benachteiligte Jugendliche um eine separate Klasse im Lehrbetrieb der allgemeinen Berufsschule. Im integrationspädagogischen Diskurs wird in diesem Kontext eher der Begriff der „Kooperation“ oder sogar der „Separation“, jedoch nicht der der „Integration“ verwendet. So fehlt hier die kritische Auseinandersetzung der eigenen Begriffswahl durch die Autorin.
Esther Wolf rekurriert in ihrer Arbeit auf vier Beobachterperspektiven:
- Theoretisch konzeptionell, indem sie die heutigen Lebensbedingungen Jugendlicher detailliert auf einer Grundlage der wissenschaftlichen Literatur zur Jugendphase und ihrer historischen Veränderung hinsichtlich den Anforderungen auf notwendige kognitive und soziale Organisationskompetenzen erfasst und Bedingungen von Benachteiligungen analysiert. Themen wie Chancengleichheit, (Bildungs-) Benachteiligung, Entgrenzung von Bildung und Bildungsexpansion werden in diese Analyse einbezogen.
- Schul- und sozialpädagogisch, da in diesem Kontext Unterstützungsnotwendigkeiten der Jugendlichen schwerpunktbezogen auf Berufliche Schulen/Ausbildung hervorgehoben werden.
- Bildungspolitisch, indem die allgemeine und individuelle Lebenssituation benachteiligter SchülerInnen im Berufsvorbereitungsjahr unter Einbeziehung der Aspekte schulbezogener Erfahrungen, Schulalltagsbewältigung, erlebter Stigmatisierungen und Problemverarbeitung erfasst und miteinander in Beziehung gesetzt werden,
- Reformtheoretisch, da am Ende schulkulturelle Reformen – auch im Hinblick auf das Konzept der „Selbständigeren Schule“ - auf dem berufsbildenden Sektor angedacht werden.
- die Erfassung beeinflussender Bedingungsmomente der Persönlichkeitsentwicklung benachteiligter Jugendlicher und damit die Extrahierung individueller, sozialer und schulischer Einflussfaktoren,
- die Erfassung damit einhergehender Belastungsmomente, aber auch mögliche Problemlösungsstrategien der Jugendlichen.
Forschungsmethodisch bedient sich die Studie primär der quantitativen Sozialforschung (Fragebogenerhebung von zwei repräsentativen Untersuchungspopulationen):
a) Jugendliche der Beruflichen Schule mit sonderpädagogischer Aufgabenstellung basierend auf sonderpädagogischen Unterrichts- und Ausbildungsmodalitäten,
b) Jugendliche der Beruflichen Schule mit „integriertem“ Berufsvorbereitungsjahr, wobei dieses isoliert und lediglich parallel zum Lehrbetrieb der Berufsschulen angeboten wird.
Ein Vorteil dieses Forschungsdesigns besteht darin, dass Korrelationsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Befragungsthematiken erhoben werden können. Kritisch hinterfragt werden muss jedoch, ob diese Korrelationen auch zu eindeutigen Interpretationen führen können.
Anzumerken ist ferner, dass zwar durch die Rekurrierung auf ein quantitatives Forschungsdesign Aussagen zur Häufigkeit der untersuchten Items gemacht werden können, das persönliche Erleben der Jugendlichen jedoch aufgrund der Antwortvorgaben hinsichtlich erlebter Problemlagen und subjektiver Erschwernisse nicht hinreichend erfasst werden kann. Hier wäre zu überlegen gewesen, ob nicht einige exemplarische Einzelinterviews hätten geführt werden sollen, um so die Außenperspektive durch die Innenperspektive der befragten Jugendlichen zu ergänzen [2].
Weiterhin bedient sich Esther Wolf forschungsmethodisch der qualitativen Sozialforschung, indem sie ExpertInneninterviews mit den SchulleiterInnen der erhobenen Berufsschulen führt, um so zu einer umfassenderen Analyse von institutionellen und personellen Rahmenbedingungen zu kommen. In dieser Hinsicht ist zu fragen, ob die von Esther Wolf geführten ExpertInneninterviews in Einzelsettings nicht besser hätten als Gruppensettings erfolgen sollen, um, den „Publikumseffekt“ zu vermeiden. Erstaunlich scheint auch, dass die Autorin die Wahl ihrer qualitativen Forschungsmethode selbst in Frage stellt. So hebt Esther Wolf hervor, dass die ExpertInnenbefragung lediglich als Beweisinstrument eingesetzt wurde und eine ergänzende Funktion innerhalb der komparativen Analyse einnimmt. Hier scheint die Autorin nicht berücksichtigt zu haben, dass es auch für die qualitative Forschungsmethode durchaus Gütekriterien gibt [3].
Auf der Grundlage ihrer komparativen Analyse will die Autorin Perspektiven für die Verbesserung bzw. Weiterentwicklung sozialpädagogischer Unterstützungsangebote in Beruflichen Schulen speziell für benachteiligte Jugendliche eröffnen. Damit leistet diese Arbeit ohne Zweifel, trotz den genannten Schwächen, einen wichtigen Beitrag im integrationspädagogischen Diskurs, bleibt dieser doch – auch nach all den Jahren – eher auf den vorschulischen und schulischen Bildungsprozess bezogen, weniger jedoch auf den über die Schulzeit hinausgehenden Übergang in Ausbildung / Beruf. In ihrer Ergebnissichtung bestätigt die Autorin dabei Ergebnisse aus früheren schulbezogenen Forschungen hinsichtlich der Fragestellung, welche Form der Beschulung am ehesten zu einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung benachteiligter Jugendlicher beizutragen vermag [4].
Weiterhin liefert die Arbeit einen wichtigen Beitrag zu bildungspolitischen Fragen. Angeregt wird eine zukünftige Implementierung der Schulsozialarbeit, da sich hierdurch die Chance eröffnet über den rein schulischen Bezugsrahmen hinaus den Blick auf die gesamte Lebenswelt der Jugendlichen zu richten und passgenaue Unterstützungsmöglichkeiten vorzuhalten.
[1] Vgl. Niehaus, Monika (2000): Forschungsdefizite in der pädagogischen Integrationsforschung und Vorschläge zur Entwicklung ökosystemischer Analyseansätze. In: H. Hovorka / M. Sigot (Hrsg.): Integration(spädagogik) am Prüfstand: Menschen mit Behinderungen außerhalb der Schule. Innsbruck, Wien, München: Studien Verlag, 312-334.
[2] Vgl. Wüllenweber, Ernst / Theunissen, Georg / Mühl, Heinz (Hrsg.) (2006): Pädagogik bei geistigen Behinderungen: Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 569.
[3] Vgl. Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung: Lehrbuch. Weinheim, Basel: Beltz.
[4] Vgl. Bless, Gérard (1995): Zur Wirksamkeit der Integration: Forschungsüberblick, praktische Umsetzung einer integrativen Schulform, Untersuchungen zum Lernfortschritt. Bern: Haupt.