Die umfangreichen Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen erhalten in Deutschland zunehmend nicht nur in wirtschaftlichen Bereichen, sondern auch im Bildungssektor Beachtung. Im Zuge dessen wird der gezielten Förderung bereits im frühen Kindesalter größere Bedeutung zugesprochen, um die Potenziale der Bevölkerung besser auszuschöpfen. Das Schlagwort „Humankapital“ verweist dabei einerseits auf Debatten um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und andererseits auf die notwendige Chancengleichheit hinsichtlich der Bildung aller Kinder. Letzteres bedeutet auch, die gesellschaftliche Heterogenität bei der Einräumung von Chancengleichheit anzuerkennen und die Fähigkeiten und Potenziale eines jeden Menschen individuell zu fördern.
Mit diesem Problemaufriss führt die Autorin Anne Rosken in ihre Dissertation zu Diversity und Profession ein, in welcher sie sich mit der Debatte um Diversity und insbesondere dem Aspekt des gesellschaftlichen Umgangs mit dieser befasst. Sie setzt den Fokus auf den frühkindlichen Bildungssektor und konstatiert gleichermaßen, dass Diversity in diesem Bereich bisher gar nicht oder nur hinsichtlich der Entstehung sozialer Probleme fokussiert wurde und die Beachtung und der Schutz gesellschaftlicher Heterogenität sowie die darin liegenden Potenziale bislang nur in wirtschaftlichen Unternehmen erfolgte. Als zentrales Defizit stellt Rosken weiterhin die mangelnden Erkenntnisse über den Umgang mit Diversity von Professionellen im Elementarbereich heraus. Insbesondere dieses Manko bildet die Hauptmotivation für ihre eigene Untersuchung, in welcher sie die Arten des professionellen Umgangs von Erzieherinnen [1] mit Diversity erhellen möchte. Der Autorin geht es dabei primär um die Rekonstruktion der in der Biographie von Erzieherinnen verankerten Erfahrungen mit Heterogenität und die daraus entstandenen subjektiv pädagogischen Konzepte, Haltungen sowie Kompetenzen im pädagogischen Handeln bezogen auf Diversity (28).
Der Studie liegt die zentrale Annahme zugrunde, dass sich der Erwerb von Diversity-Kompetenzen abhängig von eigenen Erfahrungen, der eigenen Herkunft und der Biographie des Einzelnen gestaltet. Demzufolge wendet Rosken für ihre Untersuchung ein qualitatives Forschungsdesign an, welches biographisch-narrative Interviews als Erhebungsverfahren nutzt.
Im zweiten Kapitel setzt sich Rosken mit den häufig uneinheitlichen, begrifflich unscharfen Definitionen von Diversity auseinander und betont, dass Diversity nicht nur Teilsysteme des Gesellschaftssystems wie das der frühkindlichen Bildung betrifft, sondern darüber hinausgehend alle Handlungsfelder und Lebensbereiche umfasst. Ihrer Ausarbeitung legt sie daher eine sehr umfangreiche Begriffsdefinition der US-Amerikaner Gardenswartz & Rowe mit den „4 Layers of Diversity“ zugrunde (24).
Der Multidimensionalität des Phänomens Diversity Folge leistend, betrachtet Rosken dieses auf verschiedenen Ebenen. Hierbei betont sie die zunehmende gesellschaftliche Relevanz des Umgangs mit Diversity aufgrund von Faktoren wie Migration, Globalisierung oder gesellschaftlichen Risiken. Das Leben in heterogenen Gruppen sei eine bedeutende Aufgabe der Zukunft (33). Die Autorin fokussiert insbesondere auf den Einfluss dieser Entwicklungen für die Bildungs- und Betreuungssysteme und die Generierung neuer Anforderungen für eben diese. Gleichermaßen stellt sie die hohe Bedeutung des Elementarbereichs für den Umgang mit Diversity heraus, da es bereits im frühen Kindesalter zu entscheidenden Erfahrungen komme aus denen bestimmte Handlungsmuster entstehen würden (34). Im Zuge dieser Argumentation verweist Rosken auf die Rolle der Erzieherinnen für das Erlernen des Umgangs mit Diversity und pointiert die zentrale Frage der Studie, wie Erzieherinnen mit diesem Phänomen umgehen (39) und wie sich dies weiterführend auf die Vermittlung von Diversity-Kompetenzen auswirkt. Darunter versteht sie z. B. den Respekt und die Wertschätzung von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit oder die Fähigkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen (29).
Im dritten Kapitel betrachtet die Autorin zudem die organisatorische Ebene von Diversity und nimmt auf das „Diversity Management“, dessen Bedeutung und Umsetzung sowie auf dessen zentrale Prinzipien Bezug. Sie konstatiert, dass Diversity in Deutschland bislang weniger auf organisatorischer Ebene als auf politischer Ebene Beachtung findet.
Den „wissenschaftlichen Rahmen“ (93) dieser Arbeit bilden einerseits die neueren Entwicklungen in der Elementarpädagogik, vor allem im Anschluss an die PISA-Debatte sowie andererseits der verbreitete pädagogische Ansatz im Elementarbereich, der Anti-Bias Ansatz und dessen Weiterentwicklung in Deutschland durch den Situationsansatz (100). Mit den daran anknüpfenden Darlegungen des aktuellen Forschungsstandes kann die Autorin deutliche Forschungslücken im Bereich der Diversity-Forschung in Deutschland sowie einen Mangel an Studien aufzeigen, welche die Ursachen des Umgangs von Erzieherinnen mit Diversity und ihre Einstellungen zu Kindern in den Blick nehmen.
Ausgehend von der Annahme, dass die Biografie und eigene Erlebnisse den Umgang mit Diversity und den Lernprozess strukturieren, strebt Rosken zur Beantwortung ihrer Forschungsfrage die Rekonstruktion der Biografie von Erzieherinnen an. Darüber hinaus postuliert Rosken, dass Bildung als theoretisches Konstrukt als solches nicht beobachtbar sei und nur über die interpretative Deutung empirischer Methoden erschlossen werden kann (117). So begründet sich die von der Autorin gewählte Erhebungsmethode der biografisch-narrativen Interviews (Kapitel fünf). Für die Auswertung der Interviews wendet Rosken eine Kombination der Narrationsanalyse von Schütze und der Methode der Gegenüberstellung von erzählten und erlebten Lebensgeschichten von Fischer-Rosenthal an (132). Ihr Fallsample besteht aus zehn biografischen Interviews mit Erzieherinnen aus den alten und neuen Bundesländern, wovon vier Fälle hinsichtlich ihrer Biografie, ihren Diversity-Erfahrungen und hinsichtlich des Umgangs mit diesen ausführlicher in Form von Einzelportraits dargestellt werden (Kapitel sechs). Auf der Basis der Rekonstruktion dieser Einzelfälle geht es der Autorin darum, die Strukturlogik und die Prozesse des Umgangs mit Diversity abzubilden und Handlungstypen herauszuarbeiten (253).
Abschließend stellt die Autorin acht unterschiedliche Fallcharakteristiken bzw. Typen im Umgang mit Diversity heraus und bindet dazu neben den vier ausführlicher dargestellten Einzelfällen noch vier weitere Fälle ein (254).
Aus dem Fallvergleich wird deutlich, dass die Biografie aller Befragten wesentlich für die Herausbildung bestimmter Einstellungen und Wissenselemente hinsichtlich Diversity ist (253). Dabei sind insbesondere die Kindheitserfahrungen der Erzieherinnen wesentlich. Weiterhin wird herausgearbeitet, dass sich die Verarbeitungsformen und die daraus folgenden Handlungsmuster in allen Fällen unterscheiden (255). Ferner konstatiert Rosken für alle befragten Erzieherinnen ein Mangel an Fähigkeiten und eine geringe Bereitschaft zu professioneller Reflexion (253).
Mit dem aufgezeigten bedeutenden Einfluss der Biografie auf den Umgang mit Diversity bei Erzieherinnen, zeigt sich auch im Hinblick auf eine Professionalisierung des Erzieherinnenberufs die Notwendigkeit, nicht nur nach biografischen Erlebnissen mit Diversity, sondern vielmehr nach der Art und Weise des Umgangs mit diesen zu fragen (276). Auch die weiteren Ergebnisse der Studie machen eine notwendige professionelle Begleitung dieser Berufsgruppe zum Erlernen von Diversity-Kompetenzen sowie eine stärkere Berücksichtigung von Diversity-Kompetenzen in der Aus- und Weiterbildung deutlich.
Die vorliegende Dissertation stellt mit der Untersuchung eines in der Bildungsforschung bislang unbeachteten Phänomens eine Pilotstudie auf diesem Gebiet dar und zeigt einen wichtigen, zukünftig zu vertiefenden Forschungsbereich auf. Ein Manko bildet allerdings die Aufbereitung der empirischen Vorgehensweise, welche an einigen Stellen die angestrebte Nachvollziehbarkeit (135) dadurch missen lässt, dass fallimmanente Thesen zum Teil nicht ausreichend am Erzähltext bewiesen werden. Auch im abschließenden Vergleich und der Fallcharakterisierung hätte eine Einführung und kurze Vorstellung der dafür verwendeten weiteren vier Fälle die Nachvollziehbarkeit der Typenbildung erleichtern können. Zudem ermöglichte das gewählte Methodensetting nur eine eingeschränkte Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Forschungsfragen. Die Frage nach der Vermittlung von Diversity-Kompetenzen an Kinder durch die Erzieherinnen (39) musste beispielsweise offen bleiben.
[1] Rosken verwendet bei dieser Berufsbezeichnung in ihren gesamten AusfĂĽhrungen kontinuierlich das Femininum wodurch der Eindruck entsteht, dass die Autorin die Thematik ihrer Forschung ausschlieĂźlich aus der Perspektive weiblicher Professioneller bearbeitet.
EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)
Diversity und Profession
Eine biographisch-narrative Untersuchung im Kontext der Bildungssoziologie
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(292 S.; ISBN 978-3-531-16653-7; 34,90 EUR)
Aline Deinert (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Aline Deinert: Rezension von: Rosken, Anne: Diversity und Profession, Eine biographisch-narrative Untersuchung im Kontext der Bildungssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116653.html
Aline Deinert: Rezension von: Rosken, Anne: Diversity und Profession, Eine biographisch-narrative Untersuchung im Kontext der Bildungssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116653.html