EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

Ralf Biermann
Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden
Eine quantitative Studie zum Medienhandeln angehender Lehrpersonen
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(279 S.; ISBN 978-3-531-16520-2; 34,90 EUR)
Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden Das Buch „Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden“ widmet sich einem Thema, das bei der Beschäftigung mit digitalen Medien in der Schule bisher zu kurz gekommen ist; den Einstellungen und Erfahrungen von Lehramtsstudierenden zu Medien. Dieses Gebiet hat sich in der aktuellen Diskussion zur Integration von digitalen Medien in der Schule als bedeutsam herausgestellt, da der bisherige Medieneinsatz trotz intensiver Fördermaßnahmen in Ausstattung und Geräte weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Ralf Biermann untersuchte in seiner Dissertation die Einstellungen von Lehramtsstudierenden aus vier pädagogischen Hochschulen in Deutschland.

Das Buch beginnt mit einer Übersicht zur Entwicklung der Medien, in dem der Autor die Entwicklung von Fernsehen und Neue Medien ab 1980 darstellt. Er bezieht in die Analyse des Habitus-Konzepts nicht nur digitale Medien, sondern z.B. auch Fernsehen und Hörbücher mit ein. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema Lehrer und Medien. Hier geht der Autor auf Motive der Wahl des Lehrerberufs sowie die Bedeutung Neuer Medien während des Lehramtsstudiums. Er skizziert den Computerbestand in Schulen und beleuchtet den Einsatz von Medien im Unterricht und privaten Alltag der Lehramtsstudierenden. Hier referiert er mehrere Studien aus dem deutschen Raum zur Beschäftigung und Nutzung von (angehenden) Lehrenden mit Neuen Medien. Nachdem der Leser mit der aktuellen Situation der Medien und deren Nutzung durch die Lehrenden so vertraut gemacht wurde, führt Biermann das Habitus-Konzept von Bourdieu in die Diskussion ein. Von der Entstehung des Habitus-Konzepts über die zwei Seiten des Habitus bis hin zu Dispositionen und ihre Veränderlichkeiten sowie der unterschiedlichen Kapitalsorten spannt er das Thema auf, um daraus dann das Konzept des medialen Habitus abzuleiten.

Dieser theoretischen EinfĂĽhrung folgt die Darstellung seiner empirischen Ergebnisse; zuerst die Ergebnisse einer qualitativen Vorstudie, sowie in einem zweiten Schritt ausfĂĽhrliche Darstellung der Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung. In einem letzten Schritt verbindet er beide Studien und berechnet Indexwerte zur Ermittlung des medialen Habitus.

FĂĽr mich sind aus der Arbeit von Ralf Biermann vor allem folgende Ergebnisse fĂĽr die Diskussionen um den Themenbereich Medien in der Lehrerbildung von Bedeutung:

  • Lehramtsstudierende sind sehr gut mit Medien ausgestattet, haben im Laufe ihrer Biographie vielfältige Erfahrungen mit Medien machen dĂĽrfen, nutzen diese aber durchaus sehr unterschiedlich, in Abhängigkeit ihrer eigenen Sozialisation mit Medien;
  • Die Reproduktion eines sozialen Habitus und damit die Zuschreibung einer „Bildungswertigkeit“ gewisser Medien geschieht vor allem in der Familie. Dabei haben die meisten Studierenden in der Stichprobe „eine Medienerziehung erfahren, die als reglementierend und kontrollierend bezeichnet werden kann“ (258). Diese Sozialisation fĂĽhrt zu einer nicht reflektierten Ablehnung und pseudokritische Haltung von Medien. Vor allem mit zunehmendem Alter bzw. Semester nehmen bewahrpädagogische Tendenzen im Bereich der Medien zu. Hier sind Tendenzen der Konstanzer Wanne auch im Medienbereich feststellbar;
  • Im Medienensemble spielen fĂĽr Lehramtsstudierende BĂĽcher in Bezug auf Wissensaneignung die wichtigste Rolle, digitale Medien werden als nachrangig betrachtet. Somit gibt es fĂĽr Studierende wenig Anreize, diese Medien in den eigenen Unterricht zu integrieren. Weiterhin kommt hinzu, dass ihnen geeignete eigene Erfahrungen durch Lehrpersonen, die mit Computer unterrichten, um dies als Option fĂĽr das eigene spätere Lehrerhandeln zu sehen. Sie haben kaum Vorbilder, wie Medien gewinnbringend in den Unterricht integriert werden können;
  • Medienpädagogische Kompetenz erlernen die Studierenden nicht in der Hochschule, sondern meistens durch Familienmitglieder oder Peers.


Zunächst sei darauf hingewiesen, dass der Autor mit der Betrachtung des medialen Habitus einen Zugang zum Bereich Lehrerbildung und digitale Medien einschlägt, der bisher kaum gegangen ist, aber in Zukunft wohl zentral sein wird. Denn man stellt immer wieder fest, dass trotz erheblichen Anstrengungen in den Ausbau der Ausstattungen und die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen digitale Medien immer noch selten in der Schule eingesetzt werden, wenn, dann meist nur zur Unterrichtsvorbereitung zu Hause. Nun liegt es nahe, sich nicht mehr auf die Untersuchung der Ausstattung zu konzentrieren, sondern die Lehrperson mit ihren Erfahrungen und Einstellungen in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses näher zu rücken.

Positiv hervorzuheben ist, dass der Autor aus seiner Untersuchung zahlreiche quantitative Ergebnisse zur Medienbiographie, zur Mediennutzung und zum Themenblock Medien in Studium und Beruf auf unterschiedlichen Ebenen vorstellt. So ergibt sich ein umfangreiches und detailliertes Bild der Medienwelt von angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Viele der einzelnen Fragebögen sind auch für andere Fragestellungen im Bereich Medien und Medienkompetenz von Interesse. Sehr gelungen ist überdies die Diskussion und Ausblick, die eine gute Rahmung der Studie darstellt, in deren Vielfalt man sich allerdings manchmal fast verlieren kann. Dennoch sind einige Kritikpunkte zu nennen, die die Qualität des Buches insgesamt beeinträchtigen.

Grundlegend stellt sich im Rahmen des methodischen Vorgehens die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, das Konzept des Habitus mittels quantitativen Methoden zu untersuchen, oder ob mit dieser Vorgehensweise das Konzept des Habitus nicht zu stark vereinfacht und trivialisiert wird. Zumindest fehlt die genaue methodologische Begründung, warum nicht ein qualitatives Einzelvorgehen am konkreten Subjekt und dessen Konstruktion gewählt wurde, welches angesichts der Fragestellung geeigneter erscheint.

Weiterhin sind in der Darstellung des Forschungsdesigns – sowohl der qualitativen als auch der quantitativen Studie – Fragen offen geblieben, zum Beispiel welche Form von Triangulation gewählt wurde oder wie die Fallauswahl in der quantitativen Studie begründet werden kann.

Oft setzt der Autor Fragebögen zur Selbsteinschätzung durch die Studierenden ein. Das methodische Problem der sozialen Erwünschtheit, das gerade bei der Debatte um Medien in der Schule und Medienkompetenz schnell auftauchen kann, wird erst sehr spät in der Arbeit diskutiert (194). Ebenso ist aus methodischer Sicht ein Vergleich zwischen quantitativer und qualitativer Studie (z.B. 248) fragwürdig, da es sich um unterschiedliche Stichproben(größen) und Untersuchungsparadigmen (Analyse des Einzelfalls bzw. Phänomens vs. Repräsentativität) handelt.

Die Verwendung des Terminus „Neue Medien“ entspricht nicht dem aktuellen Stand der Diskussion und ist gerade im Rahmen biographischer Betrachtungen ungeeignet. Zum einen spricht man mittlerweile statt von „Neuen Medien“ von „digitalen Medien“, zum anderen ist bei einer biographischen Betrachtung das Medium CD zu einem bestimmten Zeitpunkt auch ein neues Medium für die Probanden gewesen. Dies ist aber wohl nicht gemeint.

Ein weiterer Kritikpunkt umfasst die Argumentation des Autors. Zum einen argumentiert der Autor an einigen Stellen fast trivial, zum anderen stellt er Zusammenhänge auf, die nicht immer nachvollziehbar sind. Wenn der Autor konstatiert, dass Medien bei der Berufswahl des Lehrerberufes keine Rolle spielen, stellt sich die Fragen, vor welchem Hintergrund dieser Zusammenhang hergestellt und begründet wird. Und weiterhin: warum sollte das Fernsehen als Bildungsmedium angesehen werden, wenn der Autor feststellt: „Andererseits glauben nur 8,7 Prozent, dass das Fernsehen nur einen Sinn ergibt, wenn es der Bildung dient und deutliche 58,7 Prozent geben eine andersteilige Meinung ab“ (180). Innerhalb der einzelnen Kapitel ist es oft schwer gefallen, dem Autor zu folgen, da er häufig zwischen der Betrachtung unterschiedlicher Medien springt (zum Beispiel 42-44).

Beim Umgang mit Medien im Lehramtsstudium (34ff.) argumentiert der Autor mit Studien aus dem Jahre 1998 bis 2003. Aber gerade bei dem Thema digitale Medien und deren Verankerung ist es problematisch auf Studien zurückzugreifen, die nahezu 10 Jahre sind. In den letzten Jahren hat sich die Mediennutzung stark verändert und auch die Integration von Medien in Schule und Ausbildung kann nicht mehr mit der von 2003 verglichen werden. Gerade in den letzten Jahren sind einige Studien dazu erschienen. Dass aktuelle Studien aus dem Jahr 2008 nicht erwähnt werden, kann einem langwierigen Publikationsverlauf geschuldet sein. Dennoch fällt generell auf, dass der Autor wenig Bezug zu ähnlichen Studien herstellt, um seine Ergebnisse einzuordnen. Diese Studien hätte man für viele Fragestellungen integrieren können (z.B. zur Berufswahl der Lehrenden, Mediennutzung und Einstellung sowie Zweck des Computers im Unterricht).

Einige Formalia stechen ebenfalls ins Auge, wie zum Beispiel die unzureichenden Zitationen bei den Onlinequellen. Zwar herrscht generell eine gute Mischung von Text und Grafiken, dennoch wären an manchen Stellen, z.B. bei den Darstellungen der Einstellungen der Studierenden zu Medien, mehrere Grafiken für das Verständnis sehr sinnvoll gewesen. Bei den Grafiken 19-24 fehlt bei den einzelnen Motiven die genaue Prozentangabe, um die Ergebnisse nachzuvollziehen. Dass die Tabellen und Fragebögen online sind, ist eine gute Idee, da diese nicht unmittelbar für das Verständnis des Textes relevant sind. Bei den Grafiken ist der Verweis auf die Verfügbarkeit im Internet jedoch problematisch, da die Lesenden nicht einschätzen können, wie wichtig diese zum Verständnis der Argumentation sind (75).

„Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden“ von Ralf Biermann ist ein Buch, das seinen Gehalt vor allem daraus zieht, dass es sich einem bisher wenig betrachtetem Gebiet im Bereich der Medienforschung im erziehungswissenschaftlichen Bereich widmet. Dieses Potenzial wird aber durch eine Reihe von Unzulänglichkeiten verschenkt, so dass die Erwartungen an eine Dissertation, die bei einem angesehen Verlag erschienen ist, wenig erfüllt werden.
Mandy Schiefner (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mandy Schiefner: Rezension von: Biermann, Ralf: Der mediale Habitus von Lehramtsstudierenden, Eine quantitative Studie zum Medienhandeln angehender Lehrpersonen. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116520.html