EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Cornelia Hoffmann
Disziplinschwierigkeiten in der Schule
Eine qualitative Einzelfallstudie mit einem gruppen- und bindungstheoretischen Schwerpunkt
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2009
(332 S.; ISBN 978-3-531-16420-5; 39,90 EUR)
Disziplinschwierigkeiten in der Schule In dem von Cornelia Hoffmann vorgelegten Band werden Disziplinschwierigkeiten mit einem Rekurs auf Mollenhauer auf die „Lebensformen im Ganzen“ und auf eine immer grĂ¶ĂŸer werdende Differenz zwischen der Schule und der Lebenswelt der SchĂŒler zurĂŒckgefĂŒhrt. Mit einem Verweis auf sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen wird in der Einleitung als Problemaufriss formuliert, dass sich (mit „Blick auf die Strukturen des Systems Schule, die AbhĂ€ngigkeiten, die geringe FlexibilitĂ€t“ etc.) die Frage stelle, ob Schule „soziale Erziehungsaufgaben“ ĂŒbernehmen könne und „wo ihre strukturellen, institutionellen und damit auch pĂ€dagogischen Grenzen liegen“ (13).

Diese Frage erscheint als sehr weit und entsprechend weit gefasst ist auch die Suche nach theoretischen Verankerungen in dieser Arbeit. Der erste von drei Abschnitten des Buches, die „Darstellung der Theorie“, nimmt immerhin die HĂ€lfte des Textes ein. Und auch in den beiden anderen Buchabschnitten „Falldarstellung und Analyse“ und „Theorie und PraxisverknĂŒpfungen“ werden immer neue theoretische Referenzrahmen aufgespannt, so dass die Darstellung des empirischen Materials entsprechend knapp ausfĂ€llt. Die eigentliche Analyse wird auf nur wenigen Seiten ausgefĂŒhrt. Das ist insofern verwunderlich, als diese Studie sich zum Ziel setzt, das „subjektive Empfinden von SchĂŒlern zu erfassen, welches Aufschluss ĂŒber ihre Motive und von ihnen selbst erlebte Bedingungsfaktoren fĂŒr ‚Disziplinschwierigkeiten in der Schule‘ geben könnte“ (14).

Nach der sehr kursorisch gehaltenen Einleitung werden im ersten Kapitel die grundlegenden theoretischen BezĂŒge an vier Perspektiven bzw. Positionen entlang entfaltet: Die erziehungswissenschaftlich-schulpĂ€dagogische Position verdeutliche „die SubjektivitĂ€t des BegriffsverstĂ€ndnisses“ (22) und ermögliche es, die vielfĂ€ltigen Erscheinungsformen des PhĂ€nomens der Disziplinschwierigkeiten in der Schule aufzuzeigen. Der Begriff der „SubjektivitĂ€t“ ist hier insofern irritierend, als ein kurzer diskursanalytischer Blick auf die erziehungswissenschaftlichen Begrifflichkeiten (Disziplin, Gehorsam, Unterrichtsstörung, VerhaltensauffĂ€lligkeit) eher auf die gesellschaftliche Eingebettetheit und bestimmte, sich im Laufe der Zeit verĂ€ndernde Deutungsmuster des erziehungswissenschaftlichen Diskurses verweist als auf eine „individuelle Wahrnehmung“ (22) des PhĂ€nomens.

Mit den unterschiedlichen Begrifflichkeiten gingen zugleich bestimmte UrsachenerklĂ€rungen einher, die hier in lehrerbezogene, schĂŒlerbezogene und multidimensionale ErklĂ€rungen kategorisiert werden. Die Erscheinung selbst wird als „unterrichtsstörendes Verhalten“, als „aggressives und delinquentes Verhalten“, als „gestörtes sozial-emotionales Verhalten“ und als „schulverweigerndes Verhalten“ klassifiziert und diskutiert.

Die kommunikationstheoretische Position erlaube es, Disziplinschwierigkeiten als „Kommunikationsstörung“ zu verstehen. WĂ€hrend mit Watzlawick gezeigt wird, dass die am Unterricht Beteiligten nicht nicht kommunizieren können, also auch jede Form von Verweigerung als ein sinnhafter und bedeutungsvoller Akt verstanden werden muss, wird mit Luhmann auf die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation hingewiesen, was in diesem Kapitel auf die Lehrer-SchĂŒler-Interaktion bezogen wird.

Die medizinisch-psychiatrische Position stelle einen weiteren Baustein zu einem „interdisziplinĂ€ren VerstĂ€ndnis“ von Disziplinschwierigkeiten in der Schule dar und mache „deutlich, dass auch HirnschĂ€digungen, Störungen im Wahrnehmungs- und Leistungsbereich in die Betrachtung von ‚Disziplinschwierigkeiten in der Schule‘ gehören“ (22). Das Hauptaugenmerk wird hier auf die Aufmerksamkeitsstörungen ADS und ADHS gelegt, fĂŒr die zwar bisher noch keine eindeutige UrsachenerklĂ€rung gefunden sei, fĂŒr die es aber naheliege davon auszugehen, „dass sich neurobiologische und psychosoziale Aspekte wechselseitig bedingen“ (75).

Die moraltheoretische Position wird entlang der Durkheimschen AusfĂŒhrungen insbesondere zur Schuldisziplin dargestellt und mit den Positionen von Piaget und Kohlberg verknĂŒpft. Am Ende des ersten Buchabschnittes werden die vier Positionen in einer Tabelle zusammengetragen, um zu zeigen, dass es von der wissenschaftlichen Position abhĂ€nge, „welches Verhalten als ‚auffĂ€llig‘ bzw. ‚disziplinlos‘ definiert wird, welche Erscheinungsformen als auffĂ€llig empfunden und bewertet werden und welche ErklĂ€rungsansĂ€tze propagiert werden“ (95). Erst diese „interdisziplinĂ€re Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes ‚Disziplinschwierigkeiten in der Schule‘ ermögliche es, ein vorherrschendes wissenschaftliches VerstĂ€ndnis herauszuarbeiten, welches als normabweichendes und multikausal bedingtes Verhalten zu definieren ist“ (97).

Im zweiten Kapitel „Kindheit im Wandel“ werden verĂ€nderte familiale Lebensformen, VerĂ€nderungen im Bildungswesen und der starke Einfluss der Freizeit diskutiert, ehe im dritten Kapitel („Rahmenbedingungen und Forschungsleistung der qualitativen Einzelfallstudie“) das methodische Vorgehen der Untersuchung dargestellt wird. Im Rahmen einer qualitativen Einzelfallanalyse werden als „Techniken“ der Datenerhebung das Forschungstagebuch, die teilnehmende Beobachtung und das narrative Interview eingesetzt (129ff.). Mit Hilfe dieser Verfahren „sollen ,Disziplinschwierigkeiten‘ psychodynamisch rekonstruiert und die Subjektbildungsprozesse differenziert analysiert werden“ (156).

„Die Einzelfallanalyse hat als Untersuchungssubjekt dreizehn SchĂŒlerinnen“ (127) einer Klasse des Bielefelder Vereins BAJ (Berufliche Ausbildung und Qualifizierung Jugendlicher und Erwachsener). Dass die Autorin fĂŒr eine Studie mit dem Titel „Disziplinschwierigkeiten in der Schule“ „eine Institution [wĂ€hlt], die dem System der Schule nicht unterstellt ist“ (127), ist irritierend. Die Tatsache, dass dieser Verein „Möglichkeiten bietet, die erforderlichen Qualifikationen zum Schulabschluss zu erreichen“ (ebd.), kann nicht plausibilisieren, dass durch eine empirische Untersuchung in einer sozialpĂ€dagogischen Einrichtung Aussagen ĂŒber schulisch-pĂ€dagogisches Handeln gewonnen werden können. Und auch die mit der Wahl des Untersuchungsgegenstandes zusammenhĂ€ngende Frage, was in dieser Untersuchung „der Fall“ ist, bleibt ungeklĂ€rt: „Die Gruppe wird als ,Fall‘ verstanden, im Zentrum stehen am Ende der Analyse jedoch die dreizehn einzelnen Personen mit Ausschnitten aus ihren Schul- und Lebensgeschichten“ (ebd.).

Im zweiten Abschnitt des Buches „Falldarstellung und Analyse“ werden die „Unterrichtsbeobachtungen des ,affektiven Lebens in der Auffangklasse‘ deskriptiv dargestellt und mittels der Interaktionsanalyse von Bales (1972) ausgewertet“ (161). Obwohl also mit der qualitativen Einzelfallanalyse ein rekonstruktives Verfahren gewĂ€hlt ist, werden die Unterrichtsbeobachtungen rein subsumtionslogisch in ein zwölfstufiges Kategoriensystem eingeordnet. Die Datenauswertung erfolgt in Tabellenform oder vorkategorisiert in „negative Störungen und positive, d.h. neutrale, z.B. nicht beabsichtigte Störungen“ (193). Als ein entscheidender Befund wird dabei festgehalten: „Die Reaktionen der SchĂŒler/innen manifestieren sich auf einer Sozial- und Emotionsebene, nicht auf einer an sich unterrichtstypischen Sach- und Arbeitsebene“ (194). Zur Auswertung der Unterrichtsbeobachtung hinzugezogen werden das Gruppenentwicklungsmodell von Bion und die Gruppenanalyse von Foulkes unter BerĂŒcksichtigung des bindungtheoretischen ErklĂ€rungsansatzes Bowlbys.

Im dritten Abschnitt „Theorie- und PraxisverknĂŒpfungen“ gehe es darum, „die bisherige Falldarstellung und Analyse durch die Darstellung der SchĂŒler/innen unter BerĂŒcksichtigung ihres jeweiligen persönlichen Werdegangs zu ergĂ€nzen“ (235). Dabei visualisiert eine Zeitleiste die ZusammenhĂ€nge von Familiensituation und Schulgeschichte. ErgĂ€nzt wird diese Darstellung jeweils durch eine Anamnese, die zeigt, „dass die Familiendynamik, insbesondere die Krisen in der Ehe der Eltern der SchĂŒler/innen, einen wesentlichen Einfluss auf die Schuldynamik, d.h. die Krisen der SchĂŒler/innen in der Schule, hat“ (236). Bezogen auf die einzelnen SchĂŒlerinnen und SchĂŒler werden die narrativen Interviews und die Unterrichtsbeobachtungen schĂŒlerbezogen bindungstheoretisch analysiert.

Als ein Hauptbefund wird festgehalten, dass als eine Ursache fĂŒr die „massiven Schulkonflikte“ (294) die unsicheren Bindungserfahrungen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler angesehen werden mĂŒssen. Alle dreizehn SchĂŒlerinnen können einem unsicheren Bindungsmuster zugeordnet werden (vgl. 295). Die Autorin folgert aus diesem Befund fĂŒr das pĂ€dagogische Handeln in der Institution Schule: „Die Herstellung einer sicheren Bindungsbeziehung zum SchĂŒler kann als ein SchlĂŒssel zur Behebung von ,Disziplinproblemen‘ in der Schule gesehen werden und stellt eine wesentliche Aufgabe der Lehrer/innen dar. Diese sichere Beziehungsebene ist eine Grundvoraussetzung dafĂŒr, dass es den SchĂŒler/innen in der Übertragung möglich wird, ihre pathologischen Selbst- und ObjektreprĂ€sentanzen aus der Kindheit zu verĂ€ndern“ (302).

Fazit: Die gesamte theoretische Verankerung der Studie unter dem Fokus „Disziplinschwierigkeiten in der Schule“ ist bezĂŒglich der in diesem Band vorgelegten empirischen Untersuchung nicht unmittelbar ĂŒberzeugend. Angeboten hĂ€tte sich angesichts der Fragestellung und der gewonnenen Befunde eher eine biografie- oder eine professionalisierungstheoretische Verortung.

Wenn in „der vorliegenden Arbeit [...] davon ausgegangen [wird], dass es eine ProfessionalisierungslĂŒcke im Feld der sozialen Beziehungen innerhalb der Institution Schule gibt“ (127) und am Ende der Untersuchung geschlussfolgert wird, dass die Herstellung einer sicheren Beziehungsebene eine wesentliche Aufgabe des Lehrerhandelns sei, um den SchĂŒlern die Möglichkeit der Übertragung zu geben, dann ist damit ein Modell vorgeschlagen, das pĂ€dagogisches Handeln in die NĂ€he eines psychoanalytisch-therapeutischen Handelns rĂŒckt. Ein solches Modell wird professionalisierungstheoretisch insbesondere mit Bezug auf die Oevermannsche Professionalisierungstheorie, die pĂ€dagogisches Handeln als ein implizit therapeutisches fasst, kontrovers diskutiert. In diesen professionalisierungstheoretischen Problemkomplex gehört auch die in dieser Studie unhinterfragt behauptete Orientierung der Lehrer-SchĂŒler-Beziehung an der Mutter-Kind-Beziehung.

Dass die schulischen Beziehungen anders strukturiert sind als die familialen und dass sich Schule und Familie als Sozialisationsinstanzen konstitutiv unterscheiden, wird in dieser Studie nicht berĂŒcksichtigt. Deshalb und weil die empirische Untersuchung gar nicht in der Institution Schule vorgenommen wird, kann die hier vorgelegte Studie die Notwendigkeit eines quasi therapeutischen schulisch-pĂ€dagogischen Handelns nicht plausibel begrĂŒnden. Wenn hier von vornherein eine Gruppe von SchĂŒlerInnen gewĂ€hlt wird, die wegen familialer Probleme – und dieser Zusammenhang zwischen „Familiendynamik und Schulgeschichte“ wird ĂŒberzeugend dargelegt – aus dem Schulsystem herausgefallen ist, dann bleiben die in dieser Studie vorgenommenen Generalisierungen fraglich.

Als einen Befund der Unterrichtsbeobachtungen hĂ€lt Hoffman fest: „Die Analyse der Unterrichtsinteraktion kommt zu dem Ergebnis, dass die SchĂŒler/innen [...] nicht in der Lage sind, die von den Lehrern orientierend strukturierten Lernprozesse auszuhalten“ (197). Dass also BindungsfĂ€higkeit eine „Voraussetzung fĂŒr eine gelingende Bildung“ (303) ist, zeigt diese Studie sehr anschaulich; dass aber im Umkehrschluss die Bindungsproblematik eine universale ErklĂ€rung fĂŒr Störungen des Unterrichtsgeschehens liefern soll, kann als eine Generalisierung der Befunde nicht ĂŒberzeugen.
Sandra Rademacher (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sandra Rademacher: Rezension von: Hoffmann, Cornelia: Disziplinschwierigkeiten in der Schule, Eine qualitative Einzelfallstudie mit einem gruppen- und bindungstheoretischen Schwerpunkt. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116420.html