Ăber Bildung ist wahrlich schon viel gesagt und viel geschrieben worden. Und auch die sinnliche Bildung ist im Rahmen von pĂ€dagogischen BĂŒchern und Texten ĂŒber Ăsthetik, Sinnlichkeit, Kultur, Kunst, MedialitĂ€t etc. in anthropologischer, sozialer, emotionaler, körperlicher, spielerischer, organisatorischer, institutioneller etc. Hinsicht in vielfacher und eingehender Weise rekonstruiert und diskutiert worden. Die Crux und die Chance des Bildungsbegriffs liegen bekanntlich darin, dass er ein komplexer âZwischenbegriffâ ist, der etwa zwischen geisteswissenschaftlich konnotierter NormativitĂ€t und sozialwissenschaftlicher DeskriptivitĂ€t, zwischen biographischer SubjektivitĂ€t und transkultureller HumanitĂ€t oder auch schlicht zwischen Ich und Welt angesiedelt ist.
Der Klappentext dieses Bandes macht nun deutlich, dass der vorliegende, aus einer Anfrage der beiden Herausgeber an einschlĂ€gig bekannte Kolleginnen und Kollegen erstandene Sammelband die Spannung dieses Begriffs in zweifacher Weise fokussieren möchte, nĂ€mlich mit Blick auf âWeltâ und mit Blick auf âEmpirieâ, ohne dabei allerdings die je anderen Pole, das Ich und die NormativitĂ€t, ganz auĂer Acht zu lassen. Es heiĂt dort: âDie Welt ist kein fĂŒgsames Material menschlicher AktivitĂ€ten. Der Einfluss der Welt auf den Menschen kann offen und transparent sein, ĂŒberwiegend jedoch werden normative AnsprĂŒche hintergrĂŒndig und indirekt realisiert. Dadurch wird der Blick auf Möglichkeiten verstellt und die Entfaltung von Selbstbestimmung beeinflusst. Aus bildungstheoretischer Sicht lautet daher die Frage: Unter welchen Bedingungen sind welche Aspekte und Dimensionen des sinnlich unmittelbaren Mensch-Welt-VerhĂ€ltnisses geeignet, emanzipatorische Ressourcen aufzuschlieĂen und tragfĂ€hige Bildungsprozesse zu provozieren?â Mit diesen Perspektiven deutet sich ein komplexes Forschungsfeld an, das den Bildungsbegriff stĂ€rker empirisch und gegenstandsbezogen in den Blick nimmt.
Der Band ist in vier groĂe Kapitel eingeteilt. Im ersten, ĂŒberschrieben mit âsinnliche Erfahrungâ, thematisiert Christian Rittelmeyer die ethischen und epistemischen Botschaften, die mit pĂ€dagogischen RĂ€umlichkeiten einhergehen. Ausgehend von eigenen psychologisch-pĂ€dagogischen Forschungen zur Erfahrung von Schulbauten durch Kinder und Jugendliche gelangt er ĂŒber Gedanken zur nonverbalen Kommunikation und ĂŒber methodische Ăberlegungen zu Forschungsperspektiven des nichtverbalen Bildungsmilieus, schlieĂlich zu dem Ziel, die ethischen und Ă€sthetischen RĂ€ume der griechischen Antike fĂŒr die Gegenwart fruchtbar zu machen. JĂŒrgen Hasses Text, der sich mit Ăsthetik, Sinnlichkeit und Geographiedidaktik auseinandersetzt, entwirft eine didaktische Struktur des Ă€sthetischen Lernens mit allen Sinnen, in dessen Mittelpunkt ein pathisches und gnostisches Wissen von Erfahrungen steht, die aufgrund sinnlicher Begegnungen gewonnen wurden. Anhand eines Exkurses ĂŒber eine geographische Exkursionsdidaktik arbeitet er ein umfassendes Konzept sinnlichen Lernens heraus, das traditionelle Konzepte Ă€sthetischer Bildung deutlich ĂŒberbietet.
Wiltrud Giesecke widmet sich mit dem Blick auf neuere phÀnomenologische Studien dem Feld der methodisch nicht leicht zu erforschenden AtmosphÀren und Stimmungen. Davon differenziert sie ein didaktisches Konzept der LernatmosphÀren in der Erwachsenenbildung aus, das auf Leiblichkeit und SozialitÀt, genauer auf EmotionalitÀt und Involviertheit sowie auf Bindung und Kommunikation abhebt.
Den ersten Teil beschlieĂt Joris Vlieghe mit der durchaus strittigen These, dass LeibesĂŒbungen eine âDemokratie des Fleischesâ hervorbringen können. Zu plausibilisieren versucht er diesen Gedanken damit, dass er der Instrumentalisierung des Körpers ein mit der Leiblichkeit radikal verbundenes Gleichheits- und Gemeinschaftskonzept gegenĂŒberstellt. Gerade die sog. âSchwedische Gymnastikâ, in der einfache und grundlegende Körperbewegungen im Mittelpunkt stehen, soll Potentiale von AnonymitĂ€t und Entpersönlichung durch die ânackte Erfahrung des Fleisch-Seinsâ in den gemeinsamen LeibesĂŒbungen implizieren, die Menschen hin zu einer zweckfreien Gemeinschaft öffnen und emanzipieren können.
Das zweite Kapitel der âschulischen Unterweisungenâ, in dem es zentral um die Grenzen sinnlicher Bildung geht, wird von Andreas Gruschka eröffnet, der Sinnkrisen des Unterrichts unter der Perspektive von Machtlosigkeit in Lehr-Lernprozessen thematisiert. In einer sehr genauen pĂ€dagogisch-ethnographischen Rekonstruktion von Unterrichtsszenen der Sekundarstufe (8. Klasse) macht er deutlich, dass es nicht zum Unterricht kommen kann, wenn Lehrer (und SchĂŒler) grundlegende Rahmenbedingungen der Kommunikation nicht einhalten. Ex negativo scheint damit auf, was guten Unterricht und die Vermittlung bzw. Aneignung von âSinnâ ausmacht, nĂ€mlich ein Unterrichtsgeschehen, in dem die Sache und ihre Erkenntnis und damit Reflexion, Phantasie, Selbstkritik und Neugier im Mittelpunkt stehen.
Thematisiert Gruschka eher die Lehrerseite, so kommen die SchĂŒler bei Marion Pollmanns in den Fokus und damit die Frage danach, wie Jugendliche ihre Rollen deuten, Unterricht interpretieren, und diese wiederum in Zusammenhang mit dem didaktischen Gegenstand bringen. In ihrer Fallstudie zur politischen Bildung wird deutlich, dass die Aneignung des Inhalts im Unterricht als eine zentrale Frage jeglicher Didaktik gelten muss.
Peter Buck und Markus Rehm thematisieren aus dem Blickwinkel der Physikdidaktik die Problematik, etwas zur Erscheinung zu bringen, was man sinnlich-phĂ€nomenal nicht zugĂ€ngig machen kann am Beispiel des Atoms. Die Autoren plĂ€dieren gleichwohl hier fĂŒr einen sinnlichen und gleichzeitig kognitiven mĂ€eutischen Unterricht von Relevanz- und Aporiestrukturen, der Relativismus und Dogmatismus vermeiden und den SchĂŒler den âSprungâ zur Erfassung des Atoms möglich machen soll.
Im dritten Kapitel des Bandes ĂŒber âProzessuale Formungâ geht es um Artefakte und Handlungen, die das Verhalten der Menschen nachhaltig prĂ€gen. Diese PrĂ€gung weist Sonja Hnilica zunĂ€chst in einer historischen Rekonstruktion die Schulbank als Zentrum einer disziplinierenden Schularchitektur nach. Zugleich arbeitet sie Konvergenzen zwischen der Architektur des Schulraums und der Organisation des Schullebens bezĂŒglich der Ăberwachung-, Hierarchisierungs- und Belohnungsmaschinerie heraus.
Die widersprĂŒchlichen Wirkungen der reformpĂ€dagogischen Aneignung tayloristischer LernrĂ€ume kann Bernd Hackl in seiner Studie belegen, die die RĂ€umlichkeiten einer Wiener Grundschule (Flur, Klassenzimmer) unter einer FĂŒlle von Perspektiven (formal, farblich, architektonisch, symbolisch, emotional etc.) in den Blick nimmt. Denn das mit der reformpĂ€dagogischen Aufarbeitung eines preuĂischen Klassenzimmers verbundene Versprechen einer Emanzipation scheitert an einer puren architektonischen Negation, die lediglich das Amorphe und Organische heiligt.
Jörg Dinkelaker und Matthias Herrle widmen sich in einem ethnographischen Zugang wiederum einem Thema der Erwachsenenbildung, dem kursförmigen Erlernen von BewegungsablĂ€ufen beim orientalischen Tanz. Sie arbeiten dabei ein komplexes Modell an Lernmustern und ihren Modulationsformen heraus, dass sich an den didaktischen Rahmungen von EinĂŒben als Kennenlernen von Neuem, Ăben als Könnenlernen von Bekanntem und AusĂŒben als Anwendung von Gekonntem mit ihren jeweiligen Lehr-Lern-Formen orientiert. In der sich eigenstĂ€ndig etablierenden Praxis dieses Beispiels wird die VerschrĂ€nkung der Rhythmen der zu erlernenden Praktiken und der Rhythmen der Praktiken des Erlernens zum didaktischen Prinzip.
Der Beitrag von Sieglinde Jornitz geht schlieĂlich mit Bezug auf eine Fotoserie ĂŒber die âKinder der Ruhrâ von Marie-Jo Lafontaine vor allem auf die Frage ein, wie die Inszenierung dieser Photographie einen spezifischen Blick auf Kindheit erzeugt. Wenn auch der pĂ€dagogische Gehalt dieser Betrachtung nicht ganz ĂŒberzeugend herausgearbeitet wird, so wird doch plausibel, inwiefern diese Ăsthetik ein HöchstmaĂ an ReflexivitĂ€t der ikonischen Interpretationen und Strukturierungen bedingt.
Im vierten Kapitel geht es um âbiographische Bewegungenâ in Geschichte und Gegenwart. Rudolf Egger geht anhand von drei italienischen Reisebeschreibungen der Familie Goethe der Bedeutung der Bildungsreise im 18. und 19.Jahrhundert nach. Diese Berichte, die zwischen unexpliziert gebliebenen Ă€sthetischen Erfahrungen, pragmatischen Alltagshandlungen und reflexiven BegrĂŒndungen changieren, sind in einem Wechselspiel der Blicke des Reisenden und des Lesenden situiert, aus denen sich der Sinn des Bildungsprozesses als Wahrnehmungsentwicklung, Aneignungsprozedere und Erfahrungsaufschichtung rekonstruieren lĂ€sst.
Monika Fischer, Jochen Kade und Sascha Benedetti verfolgen bildungsbiographische Bewegungen in Raum und Zeit vor dem Hintergrund fremd- und selbstgesteuerter Bildungsprozesse. Bildung erscheint vor dem Hintergrund der ethnographisch erschlossenen Beispiele als eine auf biographische Lebensthemen bezogene Bewegung und Prozessordnung, die schlieĂlich auf Bildung als ĂberbrĂŒckung von Dissonanzerfahrungen hinauslĂ€uft und damit doch wieder an Humboldt und seine Idee der Bildung als RĂŒckkehr aus der Entfremdung erinnert, von der sich die Autoren zu Beginn ihres Artikels zu distanzieren versuchten.
Den Band beschlieĂt der Beitrag von Heide von Felden, der die Lernerfahrungen in Status-ĂbergĂ€ngen anhand von einem Leitfadeninterview erschlieĂt. Deutlich wird, dass und wie Lernen, aber auch Lerngrenzen zum Teil der narrativen IdentitĂ€t werden, und wie diese Prozesse eingepasst sind in (pĂ€dagogisch) normierte und institutionalisierte Muster einerseits und individuelle Anpassungen und subjektive Konstruktionen andererseits.
Nimmt man Titel, Einleitung und Klappentext des Bandes ernst, bleibt zu kritisieren, was bei SammelbÀnden leider oft zu beobachten ist, nÀmlich ein in einzelnen Artikeln inkonsistenter Begriffsgebrauch, der kaum Differenzierungen zwischen Bildung, Lernen, Aneignung, Erfahrung oder Reflexion vornimmt. Bedingt durch die inhaltliche und methodische Fokussierung des Bandes kommt es zudem zu einer eher impliziten Behandlung des normativen Gehaltes des Bildungsbegriffs (Stichwort: Emanzipation), wobei es durchaus spannend gewesen wÀre, die gewonnenen erfahrungsbezogenen Erkenntnisse stÀrker auf das emanzipatorische Modell von Bildung zu beziehen.
EnttĂ€uschender ist allerdings, dass man in einigen BeitrĂ€gen explizit kaum etwas ĂŒber Sinnliches oder Leibliches erfĂ€hrt. Und doch bietet der Band eine Reihe von Artikeln, die man mit Interesse und Gewinn lesen kann und die dem Anspruch, emanzipatorische Bildungsprozesse vor dem Hintergrund einer intentional verfassten Welt zu benennen, durchaus gerecht werden. Der Band stöĂt damit eine lohnende Diskussion an.
EWR 10 (2011), Nr. 5 (September/Oktober)
Sinnliche Bildung?
PÀdagogische Prozesse zwischen vorprÀdikativer Situierung und reflexivem Anspruch
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010
(288 S.; ISBN 978-3-5311-6418-2; 34,95 EUR)
Jörg Zirfas (Erlangen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Zirfas: Rezension von: Egger, Rudolf / Hackl, Bernd (Hg.): Sinnliche Bildung?, PĂ€dagogische Prozesse zwischen vorprĂ€dikativer Situierung und reflexivem Anspruch. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116418.html
Jörg Zirfas: Rezension von: Egger, Rudolf / Hackl, Bernd (Hg.): Sinnliche Bildung?, PĂ€dagogische Prozesse zwischen vorprĂ€dikativer Situierung und reflexivem Anspruch. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116418.html