
Der Band, „der akteursgenerierte und lebensweltliche Aspekte lebensnaher Lernaktivitäten verhandelt“ (11), ist das Resultat der im Oktober 2007 in Graz stattgefundenen Biographieforschungstagung mit dem Titel „Orte des Lernens. Transformationsprozesse zwischen Subjektivität und Struktur“ (Veranstalter: Karl-Franzens-Universität Graz: Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft; Rudolf Egger, Angela Pilch Ortega).
Die Herausgeber formulieren als Anliegen des Bandes, „die institutionellen und die gesellschaftlichen Anforderungen innerhalb der von Alltagssubjekten geschaffenen Lernanlässe und -orte in ihren konkreten Sinngestalten verstehbar zu machen“ (ebd.) und entfalten diesen Anspruch ausgehend von einem zentralen Punkt: dem Konzept der Aneignung.
Dieses Konzept wird im einleitenden Beitrag des ersten Themenfeldes „Transformationsprozesse zwischen Subjektivität und Struktur“ von Rudolf Egger explizit aufgegriffen und „als Rahmen und Rahmung lebensnahen Lernens“ (21) spezifiziert. Egger stellt hierzu Bildungsinstitutionen und Alltagswelten als Lernorte der Bildung nebeneinander und attestiert beiden Potenziale, biographische Aneignungsprozesse im Sinne einer Identitätsentwicklung von Subjekten zu forcieren. Exemplarisch wird hier der Verschiedenartigkeit dieser Aneignungsprozesse Rechnung getragen: dem Puzzle als Einpassung von Wissenselementen in bestehende Strukturen werden die „grundsätzlich unbegrenzt[en]“ „Möglichkeiten des Zusammensteckens“ von Legosteinen gegenübergestellt (28). Das hier verankerte didaktische Prinzip ist laut Egger ein „erkundendes und forschendes Lernen, in seinen Grundbedingungen von Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Klären“ (31), wobei die Frage angeschlossen werden könnte, inwieweit eine solche Didaktik im Rahmen der Erwachsenenbildung überhaupt implementierbar ist. Abschließend postuliert Egger, dass „es gilt, die vielfältigen Stätten und Möglichkeiten des Lernens, die Orte der Bildung, nicht zu ‚Nicht-Orten‘ im Sinne Augés verkommen zu lassen“ (31), also zu Orten wie sie z.B. Bahnhöfe und Einkaufszentren darstellten, denen lediglich Funktionalität zugeschrieben werden könne und die durch ein hohes Maß an Entauratisierung und Identitätslosigkeit bzw. Identitätsarmut charakterisiert werden könnten.
Angela Pilch Ortega geht im anschließenden Beitrag, der zusammenfassenden Darstellung einer empirischen, ethnographischen Studie über „indigene“ Lebensentwürfe im mexikanischen Hochland, der Frage nach, inwiefern aus einer biographieanalytischen Perspektive heraus „widersprüchliche Relevanzstrukturen“, also „in der Alltagswelt angelegte Wissensstrukturen und -ordnungen“ (36), als Lernorte verstanden werden können. Biographisches Handeln und Gewordensein sowie die Selbstthematisierung dienen dieser Perspektive als Vergleichsdimensionen.
Im zweiten Themenfeld „Lernen als Aneignung von Welt“ zielen die Beiträge von Regina Mikula, Andrea Felbinger und Heide von Felden auf die differenzierte Darstellung eines Lernbegriffes ab und führen trotz unterschiedlicher Fokussierung ähnlich verortete Lernkonzepte bzw. Lerndefinitionen an. Dabei beziehen sich von Felden und Mikula u.a. auf Batesons Vier-Ebenen-Modell des Lernfortschritts, um Lernen und Lernerfahrungen in biographischen Lernprozessen erfassen zu können. Felbinger hingegen stellt Antonovskys Komponenten des Kohärenzgefühls (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit) in den Mittelpunkt ihres Beitrages und skizziert ein Modell kohärenzorientierter Lernkultur, in dem Bildungsinstitutionen zu Lernorten werden, „in denen Individuen Orientierungsmöglichkeiten geboten werden“ (81).
Die bereits eingangs erwähnte Assoziation des Buchtitels mit raumtheoretischen Fragestellungen in den Bildungswissenschaften wird in den vier Beiträgen zum dritten Themengebiet „Lernorte und Lernräume“ am ehesten aufgegriffen und weitergeführt. So verweist Sabrina Schrammel auf neue Raum- bzw. neue Raum-Zeit-Verhältnisse, die im Rahmen des pädagogischen Raumdiskurses zwar thematisiert, bisher jedoch kaum konsistent theoretisiert wurden. Räume als Lern- und Bildungsgegenstände und als Bedingung bzw. Einflussfaktor pädagogischer Praxis werden umrissen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Begriffsauffassungen diskutiert. Im Gegensatz zu diesem ersten Beitrag beziehen sich Astrid Seltrecht, Simone Hess und Michael Lönz wiederum auf verschiedene Lernorte (Forschung, innere Erfahrungsbilder und der Zweite Bildungsweg) und nehmen den skizzierten pädagogischen Raumdiskurs nicht weiter in den Blick.
Unter dem vierten Themengebiet „Digitale Medien und Lernen“ werden die Beiträge Sol Harings und Isabel Zorns subsumiert, wobei ersterer auf die Integration digitaler Medien in Lernwelten von ForscherInnen, letzterer auf Konstruktionen von Lernräumen durch den Umgang mit diesen abzielt. Die multimediale Verknüpfung zwischen der Grazer Biographieforschungstagung und vorliegendem Band nimmt Haring dabei dergestalt vor, indem sie Videos, in denen die TagungsteilnehmerInnen sich über ihre persönliche Lernwelt äußern, auf ihrer Homepage zugänglich macht (http://www.solways.mur.at/lernwelten.html).
Im fünften und damit letzten Themengebiet „Arbeit – Arbeitslosigkeit – Lernen“ werden in den drei Beiträgen von Ulrike Kurth, Maria Anastasiadis und Christina Lind Lern- und Emanzipationsprozesse von Frauen bei ihren Wiedereinstiegen in die Berufs- bzw. Arbeitswelt dargestellt. Dabei sind es vor allem die biographischen Lernprozesse und ihre Bedeutung für zukünftig angestrebte Bildungsprozesse, die anhand ausgewählter Projekte bzw. empirischer Studien (u.a. anhand des Projekts „U-Turn. Älterwerden in einer arbeitenden Gesellschaft“, Dissertationsvorhaben Lind) dargestellt werden.
Im Unterschied zu dem oben genannten Band von Kristin Westphal, in welchem das „Wo des Unterrichtens“ als Ort des Lernens zentral ist, behandeln die Beiträge des vorliegenden Bandes Fragen allgemeiner (biographischer) Lern-, Bildungs- und Aneignungsprozesse, wodurch eine Differenzierung zwischen schulischen und außerschulischen Lernorten bzw. -welten vorgenommen werden kann. Gerade vor diesem Hintergrund wäre eine stärkere Konkretion der komplexen Begriffe (Lernort, Lernwelt, Bildungsraum, Biographie, Lernen, Medien etc.) und ihrer Wechselbeziehungen im jeweils fokussierten Kontext wünschenswert gewesen. Dessen ungeachtet kann dem Band, der als klassischer post-Tagungsband bezeichnet werden kann, ein durchaus hohes Anregungs-Potenzial für weitere, systematische Forschungen über Orte des Lernens attestiert werden.
[1] Vgl. Konstantin Mitgutsch: Rezension von: Westphal, Kristin (Hg.): Orte des Lernens, Beiträge zu einer Pädagogik des Raumes (Koblenzer Schriften zur Pädagogik; hrsg. von Nicole Hoffmann, Norbert Neumann und Christian Schrapper). Weinheim: Juventa 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991618.html