EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Jutta Ecarius / Carola Groppe / Hans Malmede (Hrsg.)
Familie und öffentliche Erziehung
Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009
(315 S.; ISBN 978-3-5311-5564-7; 29,90 EUR)
Familie und öffentliche Erziehung Der Arbeitskreis Historische Familienforschung in der Sektion Historische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft legt mit diesem Band seine erste Publikation von Tagungsergebnissen vor, die thematisch angesichts der aktuellen Debatten über die Bedeutung der Familie, des Kindergartens als Bildungs- und/oder Erziehungseinrichtung und der Schule und ihrer Zusammenhänge hohe Aktualität beanspruchen können. In drei Teilen werden zunächst theoretische Konzeptionen und Diskussionen vorgestellt, dann das Verhältnis von Staat, Familie und Schule bearbeitet und schließlich Untersuchungen zu Familie, Politik und Beratung vorgelegt. Die drei Teile stehen nur wenig verbunden nebeneinander, aber das ist für Sammelbände dieser Art nicht ungewöhnlich.

Die AutorInnen der Theoriebeiträge der ersten Sektion wenden sich v.a. soziologischen Angeboten zu (Pierre Bourdieu, Milieuforschung, Norbert Elias, Organisationstheorie, (Familien-)Biografieforschung), die sie selbst zumeist in vorliegenden Studien genutzt haben, während die Folgebeiträge zum größten Teil als klassische historische Darstellungen zu kennzeichnen sind, die von diesen theoretischen Überlegungen recht weit entfernt bleiben oder selbst wieder theoretische Bezüge entwickeln und nutzen, die in den Anfangsbeiträgen nicht genannt wurden. Auch hier herrscht dann, wenn solche Bezüge hergestellt werden, eine soziologische Theorieorientierung vor. Manches ist sehr detailreich am Material entwickelt (z.B. an Selbstdarstellungen von AbiturientInnen oder an Elterntagebüchern), manches bleibt doch recht allgemein gefasst.

Hervorzuheben sind – aus unterschiedlichen Gründen – die drei Beiträge von Daniel Scholl („Ansprüche an öffentliche Erziehung: Sind die Zuständigkeiten und Leistungen der Institutionen Familie und Schule austauschbar?“), Sabine Reh („‚Der aufmerksame Beobachter des modernen großstädischen Lebens wird zugeben, dass die Familie heute leider nicht mehr den erziehlichen Wert früherer Tage besitzt.’ Defizitdiagnosen zur Familie als wiederkehrendes Motiv in deutschen reformpädagogischen Schulentwürfen und Schulreformdiskursen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“) sowie Bettina Fritzsche und Kerstin Rabenstein („‚Häusliches Elend’ und ‚Familienersatz’: Symbolische Konstruktionen in Legitimationsdiskursen von Ganztagsschulen in der Gegenwart“), in denen das Verhältnis von Familie und Schule in spezifischer Weise Thema ist.

Während Scholl mit Rückgriff auf die Unterscheidung von Institution (sowohl Familie als auch Schule) und Organisation (Schule, aber nicht Familie) die je verschiedenen Zuständigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen von Familie und Schule theoretisch darlegt, geben die beiden anderen Studien, die beide aus einem Projektzusammenhang stammen, Ergebnisse von Diskursanalysen zur Kenntnis, die das doppelte Verhältnis von Schule und Familie sichtbar machen: Familie wird von schulischer Seite als defizitär dargestellt, zugleich aber als Modell für das schulische Zusammenleben genutzt. Auch hier wird auf eine deutliche Unterscheidung von Familie und Schule verwiesen, die mit der Perspektive Scholls eine interessante Fernbeziehung eingeht.

Zu nennen sind auch die Beiträge von Miriam Gebhardt („‚Lehret sie, dass sie nicht um ihrer selbst willen sind.’ Frühkindliche Sozialisation im Nationalsozialismus“), die einmal mehr eine Relativierung der häufig anzutreffenden wenig differenzierten Herangehensweisen an und Interpretationen von frühkindlicher Erziehung in der Familie im Nationalsozialismus vorlegt, sowie von Gerhard Kluchert und Rüdiger Loeffelmeier („Der Erfolg des Scheiterns und das Scheitern des Erfolgs. Die Bedeutung der Familie für die politische Sozialisation: Potsdam 1957“), die in differenzierten Analysen die Bedeutung der Familie für die politische Sozialisation von Jugendlichen in der DDR herausarbeiten und dabei deren Scheitern und Erfolg zugleich betonen. Zu letzterem Text stellt sich aber die Frage, ob man, um die Fragen klären zu können, nicht mehr über die Familien wissen müsste, als nur das, was in den Abiturlebensbeschreibungen der Schülerinnen und Schüler sichtbar wird.

Dass die bildungshistorische Forschung zum Verhältnis von Familie und Schule mit diesem Band wichtige Anregungen bekommen hat, steht außer Frage. Aber es sind bisher eben auch nur Anregungen; eine Intensivierung der Forschung bleibt daher zu wünschen.
Klaus-Peter Horn (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Ecarius, Jutta / Groppe, Carola / Malmede, Hans (Hg.): Familie und öffentliche Erziehung, Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115564.html