Das Herausgeberteam erhebt den Anspruch, „Potentiale und Grenzen einer (…) Erinnerungsarbeit auszuleuchten, um auf diesem Weg neue Forschungsperspektiven zu entwickeln“, wobei der Untertitel zwei Theorieperspektiven vorab in den Vordergrund rückt: Psychoanalyse und Biographietheorie. Überblickt man von diesem Ausgangspunkt aus die von den Herausgebern versammelten Beiträge, so entsteht angesichts ihrer Heterogenität der Zwiespalt, ob man es als Zumutung begreifen soll, aus den unformulierten Zusammenhängen die „neuen Forschungsperspektiven“ selbst entwickeln zu müssen, oder als eine willkommene offene Anregung und Chance.
Drei Schwerpunkte setzt das Herausgeberteam durch die Überschriften zu drei Großkapiteln: das Verhältnis von Psychoanalyse und Biographieforschung, das Verhältnis von Erinnern und Vergessen sowie das Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerung, wobei – das zeigt sich bei der Lektüre – die Zuordnung der Beiträge nicht immer einsichtig ist.
Die im ersten Kapitel versammelten Aufsätze thematisieren im Wesentlichen verschiedene methodischen und theoretische Facetten der Psychoanalyse und loten ihre Relevanz im Hinblick auf die biographische Forschung aus, so zum Beispiel Freuds Übertragungskonzept oder Bions Vorstellung von Containing (Jörg Fommer: „Psychoanalyse und qualitative Sozialforschung“), die tiefenhermeneutische Qualität des Verstehens (Frommer sowie Volker Kraft: „Methodische Probleme der Psychoanalytischen Biographik“), Lorenzers interaktionstheoretisches Psychoanalysekonzept (Regina Klein: „Kultur erinnernd verstehen“), Freuds Konzept der Nachträglichkeit (Jürgen Körner: „Erinnern oder ‚Zurückphantasieren‘?“) oder auch aktuelle Schwerpunktsetzungen in der psychoanalytisch-therapeutischen Praxis (Margit und Wilfried Datler: Hat sich die Psychoanalyse von der ‚Erinnerungsarbeit‘ verabschiedet?“).
Alle Autoren/Autorinnen thematisieren zugleich Schwierigkeiten der Übertragung psychoanalytischer Annahmen auf die Biographieforschung, sind sich aber letztlich darin einig, dass die Psychoanalyse der Biographieforschung wichtige Impulse liefert, wie auch umgekehrt mögliche Horizonterweiterungen im interdisziplinären Dialog für die Psychoanalyse angedeutet werden. Es sind zwei psychoanalytische Anregungen, die für die Biographieforschung in den Vordergrund treten: Da ist zum einen die psychoanalytische Persönlichkeits- und Sozialisationstheorie, die – etwa mit der Symboltheorie Lorenzers verknüpft – eine fundierte Basis dafür bildet, Erinnerungsprozesse und ihre Objektivationen sinnvoll zu verstehen. Da ist zum anderen die hermeneutische Forschungsmethode, die zur tiefenhermeneutischen zu erweitern ist, um latente Bedeutungsschichten im Material wahrnehmen und über oberflächlich bewusste Wahrnehmungshorizonte hinaus Tiefendimensionen ausloten zu können. Selbstverständlich – auch das machen die Beiträge klar – ist eine einfache Übertragung therapeutisch orientierter Erkenntnisse und Methoden nicht möglich, sondern es muss eigens bestimmt werden, wie Theorie und Methode dem unterschiedlichen Forschungsinteresse und Forschungsarrangement anzupassen ist.
Eine Irritation angesichts der Beiträge dieses Kapitels soll nicht verschwiegen werden: Gerade weil verschiedene Beiträge (von Jörg Frommer und Regina Klein) auf die Psychoanalysekonzeption Alfred Lorenzers eingehen, ist es verwunderlich, dass dessen sozial- und kulturanalytischen Arbeiten völlig übergangen werden, wenn es darum geht, eine psychoanalytisch inspirierte Sicht im Zusammenhang mit Sozialforschung und Cultural Studies zu entwickeln. Und auch bei der Lektüre der aufs Methodische zielenden Beiträge fragt man sich, weshalb Lorenzers umfangreiche Reflexionen zur Tiefenhermeneutik nicht ausgiebiger in Betracht gezogen werden, gerade weil ihnen bereits ein interdisziplinärer Bezug eignet.
Das zweite Kapitel versammelt Beiträge, in denen die Psychoanalyse in den Hintergrund tritt und an verschiedenen Gegenständen sehr unterschiedlich gestaltete Forschungsprozesse und ihre Ergebnisse dokumentiert werden. So finden sich stark begrifflich-klassifikatorisch orientierte bzw. operierende Studien (Silke Bartmann/Sandra Tiefel: „‚Biographische Ressource‘ und ‚Biographische Reflexion‘: zwei sich ergänzende Heuristiken zur erziehungswissenschaftlich orientierten Analyse individueller Erinnerungs- bzw. Bildungsarbeit“; Nicole Welter: „Sozialisationserfahrung und innere Dialoge als Dimensionen der Selbstkonstituierung“). Sie erscheinen geradezu als Widerspruch zu den im ersten Kapitel mehrfach angeregten hermeneutisch-offenen Herangehensweisen ans Material, während andere Forschungsdokumentationen exakt diese eindrucksvoll illustrieren, wie z.B. der Beitrag von Birgit Schreiber („Verfehlte und mögliche Begegnungen mit Harry Young – zwei Interpretationen einer Lebensgeschichte“), die die Tatsache, dass ein Treffen zwischen Forscherin und Interviewpartner immer wieder verhindert wird, im Kontext von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen wahrnimmt und interpretiert. Und eine dritte Facette von biographischer Forschung kommt in diesem Kapitel ins Spiel: die Möglichkeiten von ästhetischem Ausdruck für biographisches Verstehen (Friederike Fetting: „Schöpferische Rekonstruktion in der Theaterarbeit“; Frith Seydel: „Biographische Verwirrungen. Ästhetische Verfahren in der Arbeit zum beruflichen Selbstbild von Lehrkräften“; Petra Grell: „Im Bild erinnert – aus der Sprache gefallen?“). Hier werden präsentativ-sinnliche Symbolisierungen als Bezugspunkte biographischen Verstehens genutzt, um über die bewusstseinsnahen sprachlichen Grenzen hinaus zu gelangen.
Im dritten Kapitel schließlich liefern Rolf Haubl („Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten im sozialkulturellen Erinnerungsprozess“) und Theodor Schulze („Kriegsende 1945 – Erinnerungsarbeit in einer Schreibwerkstatt“) erneut aufschlussreiche Ergänzungen zum Zusammenhang von Psychoanalyse und Biographieforschung. Haubl, der unter dem Begriff des „szenischen Erinnerns“ die Relevanz sensomotorisch-leiblicher Registratur bzw. Erinnerungsauslösung hervorhebt, führt die sozialisationstheoretischen Überlegungen von Regina Klein weiter, und Theodor Schulze liefert ein eindrucksvolles Beispiel, wie der eigene Unmut, die eigene Wut angesichts oberflächlich affirmativer Erinnerungsdokumentation als eine produktive Irritation Verstehensprozesse anregt, die latente Dimensionen von Erinnerungsdokumenten ans Licht bringen und so einen Beitrag liefern zu einer „kritische(n) kollektive(n) Erinnerungsarbeit in ihrem Verhältnis zur bewussten individuellen Erinnerungsarbeit“ (218).
Weitere Beiträge sind in Distanz zur Psychoanalyse angelegt und beleuchten sozialgeschichtliche Umbrüche und deren biographische Niederschläge (Kerstin Dietzel, Reinhold Stipsits) sowie die Relevanz von „Familienbiographien“ (Hildegard Macha/Monika Witzke).
Der Überblick über die drei Kapitel des Sammelbandes spiegelt die Heterogenität der Beiträge, die als faszinierende und anregende Vielfalt wirken mag. Ob es aber tolerabel ist, dass manche Aufsätze eher schon in einem Widerspruchsverhältnis zu den meisten anderen Argumentationen stehen, ohne dass dies reflektiert wird, ist fraglich, zumal es nicht nur darum geht, dass stark kognitiv-begriffliche Einstellungen jegliches Spiel von Übertragung und Gegenübertragung, von assoziativer Offenheit gegenüber dem Material verhindern, sondern auch darum, dass das Fehlen psychoanalytischer Sensibilität zu irritierenden Interpretationslücken führt. Ein frappierendes Beispiel hierfür liefert Kerstin Dietzel, wenn sie eine Befragte mit dem Satz zitiert: „Und als der Krieg zu Ende war, war ich knapp 17. Also habe ich mich weiß Gott nicht an der Judenbeteiligung – eh an der Judenermordung beteiligt“ (233) und dann kommentierend fortfährt, als sei da nichts gewesen: „Wie das Zitat ausweist, handelt es sich bei diesem politischen Bekenntnis um eine an sie von außen herangetragene Schuld oder Last aus der Vergangenheit…“ (233). Wohlwollend könnte man auch dies positiv wenden, indem man es als Indiz einer psychoanalytischen Sensibilisierung im biographischen Forschungsprozess auslegt, die vor allem im ersten Kapitel, aber auch durch die Beiträge von Schreiber, Haubl und Schulze erfolgt ist, dass man solche Details geradezu als skandalös wahrnimmt.
EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)
Erinnerung – Reflexion – Geschichte
Erinnerung aus psychoanalytischer und biographietheoretischer Perspektive
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008
(279 S.; ISBN 978-3-531-15345-2; 49,90 EUR)
Achim Würker (Reinheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Achim Würker: Rezension von: Dörr, Margret / Felden, Heide von / Klein, Regina / Macha, Hildegard / Marotzki, Winfried (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte, Erinnerung aus psychoanalytischer und biographietheoretischer Perspektive. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115345.html
Achim Würker: Rezension von: Dörr, Margret / Felden, Heide von / Klein, Regina / Macha, Hildegard / Marotzki, Winfried (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte, Erinnerung aus psychoanalytischer und biographietheoretischer Perspektive. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353115345.html